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Full text of "Biologisches Zentralblatt"

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Biologisches Centralblatt. 


1915. 











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jologisches Gentralblatt, 


Begründet von J. Rosenthal. 
In Vertretung geleitet durch 
Prof. Dr. Werner Rosenthal 
Priv.-Doz. für Bakteriologie und Immunitätslehre in Göttingen. 
Herausgegeben von 


Dr. K. Goebel und Dr. R. Hertwig 


Prof. der Botanik Prof. der Zoologie 
in München. 


EBünfunddreissigster Band. 


IgI5. 


Mit 38 Abbildungen, 3 Tafeln und 7 Tabellen. 





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Leipzig 1915. 
Verlag von Georg Thieme, 























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K. B. Hof- und Univ.-Bnehäruckerei von Junge & Sohn in Erlangen, 
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Inhaltsübersicht 


des 
fünfunddreissigsten Bandes. 


O0 = Original; R = Referat. 


Seite 
Abderhaldeu, Emil. Abwehrfermente R. \ od 131 
— Lehrbuch der Physiologischen Chemie in en R. 3 582 
Abgabe von Nährgelatine durch die Königliche Landesanstalt für Wasserhygiene 
in Berlin-Dahlem DER 64 
Bateson, W. Mendel’s Vererhangstheokien) Tema ; 583 
Baur, E. Einführung in die experimentelle Vererbungslehre. R EN DAR 
Bönner, W., 8. J. Die Überwinterung von Formica picea und andere bio- 
hoßische Beobachtungen. O. Ga 65 
Bokorny, Th. Bindung von Sana alicch da Zelleneiveiß, Ö. 25 
Brehm’s Tierleben. R 395 
— Tierbilder. RB. 397 
— Tierleben. R . NEE SB LE re RAR EN ra rar 
Brun, Rudolf. Das Orientierungsproblem im allgemeinen und auf Grund 
experimenteller Forschung bei den Ameisen. O0 . . .. ........190. 225 
Buddenbrock, W. v. Die Tropismentheorie von Jacques Loeb. O 481 
Buttel- Rechen! H. v. Leben und Wesen der Bieuen. R ausol 
Dahl, F. Kurze Anleitung zum wissenschaftlichen Sammeln und zum Kenk 
servieren von Tieren. R. . RE 5 IE N DAA 
Driesch, Hans. Gibt es harmonisch- äguipotetile Systemen Eine Er- 
widerung. O. . 545 
Duncker, Georg. Die alle ir Beh kombinalionen 
bei Mehrlinggeburten des Menschen und des Schweins. O. 06 
Emery, ©. Können weisellose Ameisenvölker die fehlende Mutter aus eigenen 
Mitteln ersetzen? O MR, Ra ER EN MT 252 
Fischer, E. Berichtigungen zu ©. Piiöchnews analytischer Methode bei 
den Temperaturexperimenten mit Schmetterlingen. O 145 
Fruwirth, ©. Die Pflanzen der Feldwirtschaft. R. DER ERTRRH ENG): 
Goebel, K. Induzierte oder autonome Dorsiventralität bei Orchideenluft- 
wurzeln? R 209 


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VI Inhaltsübersicht. 


Goldschmidt, Richard. Vorläufige Mitteilung über weitere Versuche zur 


Vererbung und Bestimmung des Geschlechts. O R 
Grandori, Remo. Risultati dei nuovi Studi Italiani sulla ilogera delle 
Vvite., Bi... 205, Vene ee SU Ne 0. 
Grunewald, Marta. Über Veränderung der Eibildung bei Moina reeti- 
rostris. OÖ. u SL IE Se en. 206 
Heikertinger, Franz. Die Frage von den natürlichen Pflanzenschutz- 
mitteln gegen Tierfraß und ihre Lösung . O 
Hinneberg, Paul. Die Kultur der Gegenwart, As ale) nl 1 
Ziele, III. 4. I. Allgemeine Biologie. R 
— Die Kultur der Gegenwart. Zellen- und Gewebelchr, Morphalasıs id 
Entwicklungsgeschichte R . ur: s TEE 
Jollos, V. Stanislaus v. Prowazek +. O. 8 
Kohlbrugge, J. H. F. War Darwin ein tnelles Genie? 0) 
Kranichfeld, Hermann. Zum Farbensinn der Bienen. O 
Lakon, Georg. Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Enhe 
bei den Ba Ö : 5 : 
Lehmann, Ernst. Art, Reine Linie, Tsogene Binheib, 0) 
Lindau, G. Kryptogamenflora für Anfänger. R. 
Löhner, Leopold. Über künstliche Fütterung und Verdunungszersuche 
mit Blutegeln. O a u 
Mayer, P. (Jena). Einführung in die Mikrosdhrel Rn 
Mertens, Robert. Zur Frage des Melanismus bei Eidechsen aus der Tactia 
a -Gruppe. O e BEN 
Müller-Pouillet’s Lehrbuch der Pre ai Meteorölsgiet R 
Nachtsheim, Hans. Entstehen auch aus befruchteten Bieneneiern Drohnen ? O 
Natzmer, @. v. Das biogenetische Grundgesetz im Leben der Insekten- 
BIABLEn- ER Fe Rn TE LE ee ee AR RC ET ge 
Nöller, Wilhelm. Die Übertragungsweise der ee R 
Palladin, W. J. Pflanzenanatomie. R Ser: 
Polimanti, Osv. Sul Reotropismo nelle Larve dei Ba (Bufo: © Baia 0 
—  Physiologische Untersuchungen über das pulsierende Gefäß von Bombyx 
mori L. © ; es : 
Prat, S. Einige neuere - > die Wirkans des on auf di 
lebenden Organismen. R Ara urn 
Pringsheim, Ernst G. Die Kultur von Panama, Burkdiın 10) 
Prochnow,Oskar. Das Springen der Schnellkäfer, physikalisch betrachtet. 0 
Reichard, Adolf ©. Die deutschen Versuche mit gezeichneten Schollen. R 
Reisinger, Ludwig. Die zentrale Lokalisation des Gleichgewichtssinnes der 
Fische O. ee ne et en.) nee REN FENgE: 
Röder, Ferdinand. Über den Zusammenhang der Energien in der be- 
lebten Natur. O 2 u Se rl A Ser ee: 
Roux, Wilhelm. Die Selbstregulation ein charakteristisches und nicht not- 
wendig vitalistisches Vermögen aller Lebewesen. R 
Schaxel, Julius. Die Leistungen der Zelle bei der Entwicklung der Meta- 


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ZOEN. ı le, ray. en ee RR I EN. . 
Scheuring, Ludwig. Beobachtungen über den En Pe 
Jungfische, OA Dee fe ARTE En = 
Schleiermacher, A. Über das Blitzen von Blüten. O 2. 3 20.“ 


Inhaltsübersicht. 


Schneider, K. ©. Die rechnenden Pferde. ©. 
Schroeder, H. Über die Einwirkung von Silbernitrat a: die Keimfshie- 
keit von Getreidekörnern. 0) 
Sedgwick, W.T. und Wilson, E. B. htalan: in its lien: 


Biologie R BR a tee niet roh Re a AR 
Seitz, Ad Die Großschmetterlinge der Erde. R 
Sms Ji Indisch Natuuronderzoek R. 


a een Erich. Über Vererbung und Variabilität B Bee 0 
Tschermak, A. v. Über Verfärbung von Hühnereiern durch Pre 
und über Keftidaner dieser Farbänderung. 0 ee 
Vries, Hugo de. Über künstliche ae der Wesnmalne in 
Samen durch Druck. ©. 
Warming’s Laune der ökblomschen FPflanzengeokraphiß‘ R Me: 
Wasmann,E., S.J. Über Ameisenkolonien mit Mendel’scher Mischung. ö 
— Das Geeischarklehen der Ameisen. Das Zusammenleben von Ameisen 
verschiedener Arten und von Ameisen und Termiten. Gesammelte Bei- 
träge zur sozialen Symbiose bei den Ameisen. R . 
— Nils Holmgren’s „Termitenstudien“. ER 
— Nachtrag zum Mendelismus bei Ameisen. ©. : 5 De 
Werner, F. Einige Bemerkungen zu den Salamandra- renen von 
Sederov und Kammerer. O . u 
Zehnder, Ludwig. Der ewige Kreislauf de Weltalls. R 





In schwerer Zeit. 


Die Unterbrechung des Verkehrs mit dem Ausland sowie 
der Umstand, dass viele unserer einheimischen Mitarbeiter 
im Felde stehen, hat auch unser Blatt schwer betroffen. Die 
wertvollen Beiträge, welche wir von Angehörigen anderer 
Staaten erhielten und vieler einheimischer Mitarbeiter fallen 
fort. Trotzdem halten wir es für unsere Pflicht, das Er- 
scheinen des Blattes fortdauern zu lassen, solange es möglich 
ist, als Zeugnis dafür, dass die schweren Lasten, welche der 
Krieg uns auferlegt, die Fortführung der Kulturarbei' nicht 
verhindern, da alle, denen dıe unmittelbare Teilnahme an den 
Kämpfen versagt ist, doch ın der Friedenstätigkeit nicht er- 
lahmen. Unsere geehrten Leser aber müssen wir bitten, 
etwaige Störungen zu verzeihen. Hoffen wir, dass es über 
kurz oder lang möglich sein wird, sich wieder mit voller Kraft 
der Friedenstätigkeit zu widmen. 


Die Herausgeber des Biologischen Centralblatts. 


Wir Unterzeichneten erfüllen die traurige Pflicht, der 
voranstehenden Mitteilung noch die weitere hinzuzufügen, 
dass zwei Tage nach ihrer Niederschrift der hochverdiente 
Begründer dieser Zeitschrift, Geheime Rat Prof. Dr. J. Rosen- 
thal, am 2. Januar in Erlangen, dem Ort seiner lang- 
jährigen akademischen Tätigkeit, sanft entschlafen ist. Eine 
eingehende Darstellung seines Lebens und Wirkens muss 
einer späteren Nummer des Biologischen Centralblattes 
vorbehalten bleiben. Wir möchten aber jetzt schon zum 
Ausdruck bringen, welche großen Verdienste sich der Ver- 
storbene durch sein unermüdliches Interesse um das Ge- 
deihen dieser Zeitschrift erworben hat und wie sehr wir 
den Verlust unseres langjährigen Mitarbeiters beklagen. 

Bis auf Weiteres hat der Sohn des Verstorbenen, Herr 
Prof. Dr. W. Rosenthal (z. Zt. in Nürnberg, Reserve-Lazarett|) 
die Vertretung seines Vaters übernommen. 


Prof. K. Goebel. Prof. R. Hertwig. 















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Biologisches Gentralblatt. 


Begründet von J. Rosenthal. 


In Vertretung geleitet durch 
Prof. Dr. Werner Rosenthal 
Priv.-Doz. für Bakteriologie und Immunitätslehre in Göttingen. 


Herausgegeben von 


Dr.'R..Gocbel und Dr. R. Hertwig 


Professor der Botanik Professor der Zoologie 
in München. 


Verlag von Georg Thieme in Leipzig. 








Der Abonnementspreis für 12 Hefte beträgt 20 Mark jährlich. 
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. 
Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik 
an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, 
vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig. München, 
alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Werner Rosenthal, z. Z. Nürnberg, Roonstr. 13, 
einsenden zu wolien. 


Bd. XXXY. 20. Januar 1915. 1. 

















Inhalt: Schleiermacher, Über das Blitzen von Blüten. — Schroeder, Über die Einwirkung von 
Silbernitrat auf die Keimfahigkeit von Getreidekörnern. — Bokorny, Bindung von Am- 
moniak durch das Zelleneiweiß. — v. Natzmer, Das biogenetische Grundgesetz im Leben 
der Insektenstaaten. — Polimanti, Sul Reotropismo nelle Larve dei Batraci (Bufo e Rana). 
— Kranichfeld, Zum Farbensinn der Bienen. — Tschermak, Über Verfärbung von 
Hühnereiern dureh Bastardierung und über Nachdauer dieser Faıb ınderung. — Fruliwirth, 
Die Pflanzen der Feldwirtschaft. — Grandori, Risultati dei nuovi Studi Italiani sulla 
Filossera della Vite. — Nährgelatine. 








Über das Blitzen von Blüten. 
Von A. Schleiermacher (Karlsruhe i./B.). 


Vor kurzem hat Herr Professor Dr. F. Thomas (Öhrdruf ı./Th.) 
eine Monographie über „Das Elisabeth Linne-Phänomen (sog. Blitzen 
der Blüten) und seine Deutungen“ veröffentlicht!), worin meine 
frühere Mitteilung über diese Erscheinung?) einer Kritik unterzogen 
wird, der ich unmöglich zustimmen kann. Da ıch vergebens versucht 
habe, Herrn Thomas über den Irrtum, ın dem er sich meiner 
Meinung nach befindet, brieflich aufzuklären, sehe ich mich veran- 
lasst, an dieser Stelle auf den Gegenstand, der ja in der botanischen 
Literatur seit langer Zeit behandelt wird, einzugehen. 

Linne’s Tochter Elisabeth beschrieb zuerst?) (1762) die Erschei- 
nung, die sie in der Dämmerung an Blüten der indianischen Kresse 
bemerkt hatte, aber so undeutlich, dass daraus nicht mit Sicherheit 
entnommen werden kann, was eigentlich beobachtet wurde. Sie 
sagt, dass die Blumen „blitzten“. Herr Thomas möchte das schwe- 





1) G. Fischer, Jena 1914. 

2) Bd. 20 d. Verh. d. Naturw. Vereins Karlsruhe 1908. 

3) Die Literatur findet sich am vollständigsten in der Schrift von F. Thomas. 
1* 


4 Schleiermacher, Über das Blitzen von Blüten. 


dische „blicka“ lieber mit „blicken“ übersetzen, führt aber selbst 
die triftigsten Zeugnisse an, wonach im 18. Jahrhundert die Be- 
deutung des Wortes blicka ne von „Blitzen, Wetterleuchten“ war, 
und so ist es auch von deutschen Übersetzern*) damals und später 
verstanden worden. Herr Thomas vertritt nämlich die Meinung, 
dass das El. Linne-Phänomen nichts anderes sei als das sogen. 
Purkinje-Phänomen, mit dem blitzartigen Auftreten und Ver- 
schwinden eines momentanen Nachbildes nichts zu tun habe und 
darum nicht dureh Blitzen oder Wetterleuchten bezeichnet werden 
könne. 

Das Purkinje- Phänomen’) besteht darin, dass in der Dämmerung 
(d. h. im gemischten Tages- und Dämmerungssehen) rote und orange- 
farbene Gegenstände verhältnismäßig (zum reinen Tagessehen) dunkler 
aussehen als blaue und grüne. Dazu kommt, dass das Phänomen 
in der Fovea centralis (wo sich nur Zapfen befinden) fehlt. Be- 
trachtet man also einige orangerote Papierstücke oder Blumen auf 
grünem oder blauem Hintergrund, so erscheint das gerade fixierte 
(dessen Bild also auf die Fovea fällt) heller und lebhafter rotgelb 
gefärbt gegenüber den seitwärts der Blickrichtung liegenden, die 
ım Vergleich zu dem relativ heller gesehenen Hintergrund dunkel- 
braunrot erscheinen. Beim Wandern des Blickes von einem zum 
andern roten Fleck erhellt sich der jetzt fixierte im Gegensatz zu 
dem dunkler werdenden, der vorher fixiert wurde. So lange die 
Blickrichtung unverändert bleibt, ändert sich auch nichts, der fixierte 
Fleck bleibt hell, dıe übrigen dunkel. Dieses Phänomen, zu dessen 
Beobachtung Herr Thomas seiner Abhandlung eine sehr geeignete 
Tafel beigegeben hat, wird in der Tat niemand als Blitzen oder 
Wetterleuchten bezeichnen wollen. 

Ganz anders verhält es sich mit dem, was ich beobachtet, be- 
schrieben und abgebildet habe®): ein weißliches, momentanes 
Aufhellen seitwärts an einzelnen der Mohnblüten, das sich jedes- 
mal zeigte, wenn man den Blick in 20—40 cm Höhe über den 
etwa 2m entfernten Blüten rasch horizontal wandern ließ. Beim 
dauernden Fixieren der einzelnen Blüte war durchaus nichts zu 
bemerken. Ich konnte die gleiche Erscheinung etwas später an 
einem orangeroten Papierfleck auf blauem Hintergrund in der 
Dämmerung beobachten und mich von der Richtigkeit meiner ersten 
Beobachtung überzeugen, freilich, da es unterdessen Winter ge- 
worden war, unter ungünstigeren Beleuchtungsverhältnissen. In 
den diesjährigen Sommermonaten habe ich die Versuche mit ge- 
färbten Papieren immer mit dem gleichen Erfolg wiederholt und 
ebenso viele andere Personen, junge und alte, geübte und ungeübte, 


4) Kästner, Fürnrohr. 
.) Vergl. v. Helmholtz, Handb. d. phys. Optik, 3. Aufl., Bd. 2, 8. 302. 
)alsae: 
1* 


Schleiermacher, Über das Blitzen von Blüten. 5 


Normal-, Weit- und Kurzsichtige wiederholen lassen. Jeder Zweifel 
an der Richtigkeit der Beobachtung muss danach als ausgeschlossen 
gelten. Einzelne Beobachter erklärten, dass sie die blitzartigen, 
weißlichen Nachbilder seitwärts der roten Farbflecke gerade an 
der Thomas’schen Farbtafel besonders lebhaft bemerkten. 

Die beschriebene Erscheinung wird, worauf Herr Augenarzt 
Dr. Spuler nach meinem Vortrag ım Naturwissenschaftlichen Verein 
in Karlsruhe zuerst aufmerksam machte, nach der neueren Duph- 
zıtätstheorie (v. Kries) als sekundäres Bild oder Ghost bezeichnet’) 
und als primäre Erregung der farbenblinden Stäbchen, die etwa 
!/, Sekunde später als die Erregung der Zapfen einsetzt, gedeutet. 
Weil die Stäbchen ın der Fovea fehlen, kann dieses farblose (weiß- 
liche) Nachbild nur peripherisch bemerkt werden, ganz in Überein- 
stimmung mit dem, was ich bei den Blüten beobachtet hatte. 

Es ıst hiermit wohl festgestellt, dass Herr Thomas und ich 
zwei ganz verschiedene Phänomene beobachtet und beschrieben 
haben. In der Tat sagt Herr Thomas „Der Kernpunkt meiner 
Kritik bleibt: dass Schl.’s Deutung als Bedingung ein ausschließ- 
lich peripheres Sehen im Momente des Aufleuchtens voraussetzt 
und dass unter strikter Erfüllung dieser Bedingung weder 
von mir noch von einem meiner Helfer die Erscheinung 
gesehen wurde®). Wie es aber zugeht, dass Herr Thomas, der 
doch die Vorschrift über meine Versuchsbedingungen in Händen 
hatte und sich jahrelang mit solchen Beobachtungen beschäftigte, 
selbst oder irgendeiner seiner Helfer („17 Personen, darunter zwei 
Physiker und ein Arzt, die alle drei in exakten, subtilen Beobach- 
tungen geübt und bewährt sind“)’) das sekundäre Bild niemals 
beobachten konnten, ist mir geradezu rätselhaft. Ich habe Per- 
sonen, die gar nicht wussten, welche Erscheinung zu erwarten war, 
und die nur hinsichtlich der Augenbewegung unterrichtet waren, 
beschreiben lassen, was sie bei dem Versuch sahen, und sie haben 
das sekundäre Bild genau so beschrieben, wie ich es selbst sehe. 
Ich könnte mir also nur denken, dass Herr Thomas das sekundäre 
Bild nicht bemerkt, weil er das Auge nicht rasch genug bewegt 
oder in schon zu weit fortgeschrittener Dämmerung beobachtet, wo 
zwar sein Phänomen noch vollkommen deutlich ıst, das sekundäre 
Bild aber schon zu schwach. Herr Dr. W. Trendelenburg, 
Prof. der Physiologie in Innsbruck, schreibt mir: „Es ist kein 
Zweifel, dass die Beobachtungen (über das sekundäre Bild) zutreffen. 
Wenn sie in der freien Natur oder passend nachgemachten Be- 
dingungen oft widerstritten werden, so dürfte das daran liegen, 
dass diese Bedingungen im Einzelfall doch zu verschieden sind, ge- 

7) Vergl. Helmholtz, Bd. 2, S. 369. 


8) Thomas, S. 38. 
9) Thomas, S. 33. 


6 Schleiermacher, Über das Blitzen von Blüten. 


wiss ist auch die Beobachtungsgabe, Übung und Sorgfalt sehr ver- 
schieden.* 

Bei dieser Sachlage möchte ich darauf verzichten, auf das ein- 
zelne in der Kritik meiner Mitteilung einzugehen. Weil Herr 
Thomas meint, ich hätte das gesehen oder sehen müssen, was er 
beschreibt, nämlich das Purkinje-Phänomen, so ist von vornherein 
klar, dass alles, was er heranzieht, um nachzuweisen, dass und wie 
ich mich getäuscht haben könnte, schief und unzutreffend sein 
muss. Ich bleibe auch der Meinung, dass die Übersetzer das schwe- 
dische Blieka richtig mit Blitzen wiedergegeben haben, weil dies 
das nur momentan erscheinende weißlich aufleuchtende sekundäre 
Bild ganz richtig bezeichnet. Unter günstigen Umständen ist das 
sekundäre Bild tatsächlich viel heller als der grüne oder blaue 
Untergrund, den Glanz eines wirklichen Blitzes oder einer Bogen- 
lampe darf man sich freilich nicht davon erwarten. 

Für Leser, die Interesse an diesen Erscheinungen haben, möchte 
ich noch einige Bemerkungen anschließen über die Bedingungen, 
unter denen das sekundäre Bild am deutlichsten erscheint. Man 
lege auf einen ultramarınblauen, nicht glänzenden Bogen Papier 
(je größer, je besser) ein quadratisch oder beliebig geformtes Papier- 
stück orangeroter Farbe von etwa 7 cm Seitenlänge (z. B. Filtrier- 
papier, das in einer wäßrigen Lösung von Flavein mit Zusatz von 
etwas Brillianterocein satt gefärbt ist) und beobachte in 1-2 m 
Abstand, indem man den Blick (Fixierungsrichtung) am oberen 
Rand des Bogens, d. h. etwa 20—40 cm oberhalb des roten Fleckes 
rasch entlang bewegt. Wesentlich ıst der Dämmerungsgrad und 
die Farbe der Dämmerung: klarer Himmel, etwa !/,—!/, Stunde 
nach Sonnenuntergang, häufig auch noch später, jedoch bei einer 
Helligkeit, bei der das Lesen noch ohne große Anstrengung mög- 
lich ıst. Das sekundäre Bild erscheint dann im Sinn der Augen- 
bewegung gegen den roten Fleck verschoben. Das weißliche Auf- 
blitzen ist häufig schon bei den unwillkürlichen Augerbewegungen 
in der Nachbarschaft des roten Fleckes oder auch am Rand des 
blauen Papierbogens und auch bei nicht ganz klarem oder sogar 
bedecktem Himmel zu bemerken. Rötliche Abenddämmerung ist 
im Gegensatz zu dem, was Herr Thomas für sein Purkinje-Phä- 
nomen bemerkt, ungünstig. Gerade eine „blaue“ Beleuchtung bei 
möglichst reinem Himmel scheint mir für den Glanz der Erschei- 
nung wesentlich zu sein. Dass diese günstigste Beleuchtung ın 
unserer Breite verhältnismäßig selten vorkommt, halte ich für die 
Ursache, weshalb das Blitzen von Blüten vor dem grünen Hinter- 
grund von Blättern bisher so selten beobachtet wurde. Denn es liegt 
sonst aus Deutschland nur eine Beobachtung aus dem Jahr 1799 
von Goethe vor, die ebenfalls an perennierendem Mohn gemacht 
wurde. Seine Beschreibung stimmt in allem wesentlichen mit der 


Schleiermacher, Über das Blitzen von Blüten. 7 


von mir gegebenen überein, ohne dass ich, wie Herr Thomas 
will, von Goethe beeinflusst gewesen wäre, denn ich hatte die 
Stelle der Farbenlehre erst nachträglich aufgefunden. Nur ist dort 
die Farbe des sekundären Bildes nicht als weißlich, sondern als 
die „geforderte“ (d. h. komplementär zu orange) oder in dem von 
Herrn Thomas abgedruckten Brief an Schiller als „sehr hell- 
grün“ bezeichnet. Dass das sekundäre Bild tatsächlich unter Um- 
ständen schwach gefärbt erscheint, habe ich selbst an der Farbtafel 
des Herrn Thomas bemerkt, indem es auf dem mehr graublauen 
Grund einen bläulichen Ton annimmt. Es tritt also zu der farb- 
losen Stäbchenerregung ein schwaches komplementär gefärbtes 
Nachbild der Zapfen. Man bemerkt das Blitzen ja auch am deut- 
lichsten auf einer Zone der Netzhaut, wo die Farben noch sehr 
deutlich unterscheidbar sind, wo sich also noch reichlich Zapfen 
vorfinden. Bei einer reinen Stäbchenempfindung sollten schwarze 
Papierflecke ebensogut blitzen wie die stäbchendunklen roten, falls 
sie nicht etwa mehr blaues Licht reflektieren als diese. Ich finde 
jedoch die Erscheinung für schwarze Flecke schwächer als für die 
mohnroten. Es ıst weiter auffallend, dass ein grüner Hintergrund 
die Erscheinung soviel schwächer hervortreten lässt als ein blauer, 
obwohl auch nach den neuesten Bestimmungen!) das Maximum 
der Empfindlichkeit für die Stäbchen im Grün bei 515 uu liegt. 
Seit der Beobachtung im Juni 1905 habe ich vor dem grünen 
Hintergrund von Blättern an Mohnblüten das Blitzen niemals 
wiedergesehen und an mohnfarbenen Papierstücken auch nur an- 
deutungsweise auffinden können und ich kann diesen Misserfolg 
nur dem Mangel einer günstigen Beleuchtung zuschreiben. In 
höheren Breiten mit ihren „weißen Nächten“ scheint eine gün- 
stige Beleuchtung und Adaption öfters einzutreten, z. B. konnte 
Fries!!) das Blitzen während 1!/, Wochen beobachten. Leider hat 
auch er nicht genau beschrieben, was beobachtet wurde, da er sich 
aber auf die Goethe’sche Beschreibung bezieht und ein mit ıhm 
Beobachtender voll Erstaunen ausrief: es blıtzt aus den Blumen, 
muss man annehmen, dass es ebenfalls das sekundäre Bild war. 

Sollte es einem der Leser, besonders solchen, die ın höheren 
Breiten wohnen, gelingen, die Erscheinung vor dem grünen Hinter- 
grund von Blättern wieder aufzufinden, so wäre es von Interesse, 
alles festzustellen, was über die Farbe des Dämmerungslichtes An- 
halt geben kann, also Grad der Abendröte, Reinheit des Himmels, 
Reflex von Wolken, Aussehen farbiger Papiere im Vergleich mit 
der Empfindung bei Tage. 

10) OÖ. Lummer, Physikal. Zeitschr. Bd. XIV, S. 97. — 1913. 

11) Flora, 1859, Nr. 11 und 12. 


8 Schroeder, Über die Einwirkung von Silbernitrat auf die Keimfähigkeit ete. 


Über die Einwirkung von Silbernitrat auf die 
Keimfähigkeit von Getreidekörnern. 
Von H. Schroeder. 


Vor etwas über Jahresfrist hat V. Birckner!) in dieser Zeit- 
schrift meine Angaben, dass Gerste nach 24stündiger Behandlung 
mit 5% iger Silbernitratlösung normal keimen könne, in Zweifel 
gezogen bezw. als unersichtlich bezeichnet. Ebenso hat derselbe 
— indem er meine Arbeitsweise oberflächlich nennt — die ent- 
sprechenden Ergebnisse meiner Versuche mit Weizen, wenn auch 
nicht gerade direkt bestritten, so doch durch Benutzung von Worten 
wie „angeblich“, „gibt an“ zum mindesten als fragwürdig hin- 
gestellt. 

Ich möchte dieser anmaßenden Kritik gegenüber mit neuen 
Tatsachen aufwarten. 


T. 


Zuvor sei des mir gemachten Vorwurfes gedacht, dass es un- 
zulässig sei, aus Versuchen mit 11 Individuen Keimungsprozente 
zu berechnen?). Dessen war ich mir natürlich jederzeit bewusst 
und habe eben darum bei allen Versuchen mit geringer 
Individuenzahl die absoluten Werte zugefügt. Die Prozent- 
zahlen sollten lediglich bequeme Vergleichsdaten liefern. Vielleicht 
wäre es, um dies schärfer hervorzuheben, zweckmäßiger gewesen, 
auf eine andere Zahl zu beziehen als gerade auf 100. Übrigens 
stützte ich mich, um die Widerstandsfähigkeit gegen die Silber- 
lösung zu erweisen, nicht nur auf diesen einen von Birckner be- 
mängelten Versuch, sondern es lag noch eine ganze Anzahl weiterer 
vor, die auch zum Teil in meiner Arbeit mitgeteilt sind?). 

Die Beschränkung in der Individuenzahl war für mich in 
manchen Fällen schlechtweg eine Notwendigkeit. Nämlich dann, 
wenn es darauf ankam, den Erfolg des Sterilisationsverfahrens für 
jedes einzelne Korn separatim zu prüfen. Das verlangte zur Ver- 
meidung einer nachträglichen Infektion beim Auswaschen, Nach- 
quellen und Versetzen in die Nährbouillon, zumal bei den für der- 
artige Arbeiten damals recht unzulänglichen Einrichtungen des 
Bonner botanischen Institutes, umständliche Manipulationen, die 
sich nur in kleinem Umfange durchführen ließen. Außerdem richten 
sich aber die Anforderungen an die Individuenzahl nach der Höhe 
der Ausschläge. Wenn z. B. von 24 Körnern nach 18 Stunden 
1) Band 33 (1913), S. 181, speziell S. 188, 189. Die angegriffene Arbeit: 
Centralblatt für Bakteriologie ete., II. Abteil., Bd. 28 (1910), S. 492, im folgenden 
einfach zitiert als: Schroeder. 

2) Der ganze Versuch umfasste übrigens immerhin 27 Individuen. Schroeder: 
S. 502. 

3) Schroeder: S. 494, 503. 


Schroeder, Über die Einwirkung von Silbernitrat auf die Keimfähigkeit etc. 9 


Behandlung mit 0,2 oder 0,7%, HgCl, nicht ein einziges keimt, nach 
24 Stunden 5%, AgNO, hingegen von der gleichen Anzahl volle 
20 Stück), so genügen diese Zahlen, um die Tatsache einer Ver- 
schiedenheit in der Wirkung beider Salze und die relative Harm- 
losigkeit des Silbernitrates zu erweisen. 


Il. 


Was zunächst die Frage nach der Möglichkeit einer nor- 
malen Entwickelung der Keimpflanzen nach 24stündiger 
Weiche in 5% Silbernitrat anbelangt, so habe ich im vorigen 
Sommer meine Versuche mit rotem Schlanstedter Sommer- 
weizen, mit Hannagerste und mit nackter oder Edelgerste°) 
wiederholt. Der Gang der Behandlung war folgender: 

18 oder 24 Std. 5%, AgNO, (eine Serie hell, eine dunkel). 

3t1/, Std. 5%, NaCl (einmal erneuert). 

4 Std. 0,5% NaCl. 

Wasser so lange, dass eine Gesamtweichdauer von 52 Stunden 
resultierte. 

Die Nachbehandlung wurde gleichfalls in verschiedenen Serien 
— hell neben dunkel — durchgeführt, derart, dass die am längsten 
dunkel gehaltenen selbst die ersten Keimungsstadien bei Licht- 
abschluss durchliefen, während andere nach beendigter Weiche, 
andere nach Abschluss der NaCl-Wirkung ins Helle verbracht 
wurden. Da diese ungleiche Behandlung Verschiedenheiten nicht 
bewirkte, gehe ich nicht weiter darauf ein. 

Es entwickelte sich danach von jeder Probe ein größerer oder 
geringerer Prozentsatz — davon gleich — völlig normal. Ganz be- 
sonders deutlich lässt sich dies beim Weizen erkennen, da bei 
diesem die drei ersten schon im Ruhezustand ziemlich weit ausge- 
bildeten Würzelchen namentlich bei Bauchlage des Kornes regel- 
mäßig übers Kreuz gestellt vorbrechen und ihnen danach seitlich 
zwei weitere folgen‘°),. Schädigungen, wie solche in später zu be- 
sprechenden Versuchen an Samen mit entblößtem Embryo regel- 
mäßig auftreten, dokumentieren sich sofort durch Verringerung der 
Wurzelzahl, die bis zum gänzlichen Fehlen sich steigern kann, 
Kurzbleiben von einem oder mehreren der Würzelchen oder ge- 
ringer Länge der Coleoptile. Die von mir als normal keimend be- 
zeichneten Körner zeigten von alledem nichts, auch brach in der 
Folge die Plumula in typischer Weise durch. War dies geschehen, 
so wurden, wie schon früher’), Stichproben von je 10 Keimlingen 


4) Schroeder: S. 494. 

5) Sämtlich von Haage u. Schmidt, Erfurt. 

6) Vergl. Körnicke in Körnicke-Werner: Handbuch des Getreidebaues, 
Bd. Inse2s: 

7) Schroeder: S. 504 (damals Sägemehl; diesmal Gartenerde + Sand). 


10 Schroeder, Über die Einwirkung von Silbernitrat auf die Keimfähigkeit ete. 


in Töpfe verpflanzt und diesmal sogar bis zur Blühreife beob- 
achtet. Alle 50 derart gezogene Pflanzen entwickelten sich gut 
weiter und kamen ohne jeden Ausfall zur Blüte. Beistehend Repro- 
duktionen einiger der Töpfe mit blühenden Versuchspflanzen nach 
Photographien, für deren Herstellung ich Herrn Dr. Harder ver- 
pflichtet bin. Das wird genügen, um die Möglichkeit einer normalen, 
d. h. ohne Regeneration verlorener Teile verlaufenden, Entwicke- 
lung nach 24stündiger Weiche in 5%, Silbernitrat zu erweisen. 


Ill. 


In den Keimprozenten hatte ich in diesen Versuchen zum 
Teil einen erheblichen Ausfall. Denn es keimten vom Sommer- 
weizen, und zwar in allen Serien etwa gleichmäßig®) nur 37—56 %,, 
von der Hannagerste 65— 82% und von der nackten Gerste etwa 
25—40%,. Da nun ohne Sılbernitrat caeteris parıbus die Keimfähig- 
keit für Weizen 99—100%, für Hannagerste nach 48 Std. Weiche 
38—50%, nach 72 Std. Weiche 84%, und für nackte Gerste 79—89, 
betrug, so war nur für dıe Hannagerste eine dem normalen Wert 
entsprechende Keimungszahl erreicht, während Weizen und nackte 
Gerste rund 50%, Ausfall ergaben. 

Um zuverlässig unversehrten und gut ausgereiften Weizen zu 
erhalten, setzte ich meine Versuche bis zur Ernte 1913 aus und 
besorgte mir dann im August Weizenähren direkt vom Felde°), die 
ich als solche aufbewahrte und aus denen ich mir die Einzelkörner 
zu den Versuchen jeweils herauslöste. Mit diesen musste ich 
bis Anfang Dezember warten, da vordem nur vereinzelte Körner 
keimten. Dann erst war die Nachreife beendet und es keimten 
von den Kontrollen durchgängig 99—100%. Genau der 
gleiche Prozentsatz entwickelte sich aber auch nach 
24stündiger Weiche in 5%, Silbernitrat und entsprechen- 
der Nachbehandlung, wie folgender Versuch lehrt: 

Serie A. 24 Std. 5%, AgNO, geheiztes Zimmer, 
B. 24 „ 5% AgNO, ungeheiztes Zimmer, 
GIER wie Al 
D.4187 Es liwie B; 

Mit der Nachbehandlung war ich ın diesen Versuchen über- 
trieben!®) vorsichtig und ließ 6 Std. in 2%, 18 Std. in 0,2%, 24 Std. 
in ganz verdünntem Na0l, und zwar all dies im kühlen Raum. 
Zum Schluss weichte ich noch 24 Std. in Wasser im warmen Zimmer 
nach. Es keimten: 


8) Siehe vorstehend: 8. 9. 

9) In Laubenheim bei Mainz. 

10) „Übertrieben“‘, weil das gleiche Resultat, 100% Keimlinge, auch bei ein- 
facherer Nachbehandlung erzielt werden konnte. Es genügte nach dem Silber zwei- 
maliges kurzes Abspülen mit Wasser, gefolgt von: 


Schroeder, Über die Einwirkung von Silbernitrat auf die Keimfähigkeit ete. 11 


Nach 2 Tagen Nach 3 Tagen Nach 7 Tagen 


Serie A. 92 98 100%, 
B. 97 98 100%, 
©. 93 97 99%, 
D. 56 98 Yan; 


oder da jeweils 100 Stück benutzt wurden, von 400 nicht weniger 
wie 398, d. h. 99,5%. Von den beiden nicht gekeimten war über- 
dies das eine am Embryo deutlich verletzt. 

Die Entwickelung wurde — wie immer — bis zum Durchbruch 
der Plumula verfolgt und ergab keinerlei Abweichung von den un- 
behandelten Körnern. 

Ich konnte aber die Einwirkungsdauer des Silbernitrates auf 
volle 72 Stunden ausdehnen, ohne die Keimfähigkeit zu vernichten. 

50 Körner, die im Warmen 72 Std. mit 5% Sılbernitrat be- 
handelt waren, keimten sämtlich, und von 50, dıe im Kühlen dem 
gleichen Verfahren unterworfen wurden, 48. Allerdings entwickelten 
sich in diesen Versuchen nicht mehr alle Keimlinge normal, denn 
bei 3—4 von jeder Serie verkrümmte die Coleoptile in eigentüm- 
licher Weise !!), bei den übrigen zeigte sich bis zum Durchbruch der 
Plumula keine Abweichung vom Typus. 

Nehme ich meine Versuche zusammen, so ergeben sie bei 685 
Weizenkörnern, die 24 Std. mit 5%, Silbernitrat behandelt wurden, 
681 oder 99,4%, normaler Keimpflanzen. 

In Übereinstimmung damit keimten je 100 Körner, nach 24 Std. 
Quellung in !/,, oder !/,.o Normalsilbernitrat, sämtlich ohne jede 
Spur einer Schädigung. 

Aber auch eine höhere Silbernitratkonzentration, nämlich 10°, 
wurde 17 Std. lang ohne Schädigung ertragen. Denn aus 100 derart 
behandelten Körnern erwachsen ebensoviele normale Keimpflanzen '?). 


IV. 


Dass es sich bei dieser Resistenz um eine Schutzwirkung, aus- 
geübt von einer selektiv-permeablen Hülle, handle, hatte ich seiner- 
zeit u. a. daraus erschlossen, dass Körner mit entblößtem Em- 
bryo schon bei einer kürzeren (14 Std.) Sılbernitratbehandlung 


3 Std. 2% NaCl, dann Wasserweiche oder 
24 Std. 0,2% NaCl, danach Wasserweiche oder 
48 Std. ca. 0,02% NaÜl, gefolgt von sofortigem Auslegen ins Keimbett. 
Jede dieser drei Serien umfasste 50 Körner, die sich ausnahmslos normal ent- 
wickelten und das bis zum Durchbruch der Plumula durch die in üblicher Länge 
ausgebildete Coleoptile. 
11) Siehe im folgenden: S. 12 und 20. 
12) Behandlung: 17 Std. 10% AgNO,; 6 Std. ca. 31),% NaCl; 
18 Std. 0,2% NaCl; 8 Std. Wasser. 
Von 100 Körnern nach 48 Std. Keimbett gekeimt 100. 


42 Schroeder, Über die Einwirkung von Silbernitrat auf die Keimfähigkeit etc. 


ausnahmslos zugrunde gingen‘). Hier das ausführlich mitgeteilte 
Resultat der Wiederholungsversuche, bei denen ich mir die Arbeit 
insofern erleichterte, als ich nicht mehr den Embryo in seiner 
ganzen Ausdehnung freilegte, sondern mich damit begnügte, durch 
vorsichtiges Anritzen mit einer Nadel die Kontinuität der Hüllen 
über demselben zu unterbrechen. Das Ergebnis war eine volle Be- 
stätigung meiner früheren Versuche. Denn von je 25 derart ver- 
letzter Samen keimte nach 24 Std. in 5%, AgNO, nicht einer. 
Ebensowenig trat bei den auf diese Weise angeritzten Körnern 
Keimung ein, wenn die Konzentration der Silberlösung auf !/,,, Nor- 
mal, also etwa !/,, des obigen Wertes herabgesetzt wurde. 

Die ın gleicher Weise wie oben (S. 10) durchgeführte Nach- 
behandlung war auch bei entblößtem Embryo ohne schädigende 
Wirkung. So entwickelten sich von 25 angeritzten Körnern nach 
6 Std. 2%, 18 Std. 0,2%, 24 Std. 0,02%, NaCl und 24 Std. Wasser 
24 normal und eines verkrüppelte. In einem entsprechenden Ver- 
such, in dem auch noch das 2%, NaCl wegblieb, sonst in gleicher 
Weise verfahren wurde, keimten alle normal. Oder mit anderen 
Worten, die Nachbehandlung ergab quantitativ und qualitativ das- 
selbe wie die Kontrollen, womit zugleich die Harmlosigkeit der 
Schalenverletzung an sich dargetan ıst, was außerdem noch in 
einem besonderen Versuche erwiesen wurde. 

Wurde bei den, wie angegeben, verwundeten Körnern die Dauer 
der Silberwirkung herabgesetzt, so ergab sich bei den wenigen von 
mir in dieser Richtung angestellten Versuchen das vorauszusehende 
Resultat, dass die Schädigung mit Abnahme der Wirkungszeit wie 
der Konzentration zurückging. 

Körner mit über dem Embryo verletzter Schale: 

5% AgNO,, 4 Std.: Von 20 Samen keimt nicht einer. 

!/\oo Normal-AgNO,, 4 Std.: Von 20 Samen keimen 9. 

Aber von diesen entwickeln 4 nur 2 Würzelchen, worunter eines 
außerdem ohne Blattkeim, und 3 nur je 1 Würzelchen, wobei aber- 
mals 1 ohne Blattkeim. Die beiden anderen bildeten zunächst 
überhaupt keine Wurzeln aus, sondern schoben nur den Blattkeim 
vor. Durchgängig war ferner die Coleoptile sitzen geblieben, so 
dass der Blattkeim meist nur aus der verkrümmten Plumula be- 
stand. Kurz von allen 9 oben als keimend bezeichneten Körnern 
war nicht eines normal. Von den übrigen spitzten, d. h. blieben 
auf den allerersten Stadien der Keimung stehen 3, während 5 über- 
haupt kein Anzeichen von Entwickelung verrieten. Selbst nach 
2stündiger Einwirkung von !/,.o Normalsilbernitrat, auf den unge- 
schützten Embryo war eine Schädigung durchweg erkennbar, wenn 


13) Schroeder: S. 494. Bezüglich der anderen Gründe siehe im folgenden: 
S. 23 und 24. 








{4 Schroeder, Über die Einwirkung von S$ilbernitrat auf die Keimfähigkeit etc. 


auch weniger ausgesprochen als ın den eben besprochenen Ver- 
suchen mit 4 Std. Behandlung. 

Aber nicht jede Schalenverletzung oder jede Verletzung über- 
haupt bewirkt bei ca. 24 Std. Berührung mit 5%, AgNO, Verlust 
der Keimfähigkeit. Diesen Effekt haben lediglich Wunden un- 
mittelbar am Embryo oder doch nur in solcher Entfernung von 
demselben, dass das durch Ausfällung und Adsorption wohl gegen 
das Wasser zurückbleibende Sıilbernitrat in der gewählten Einwir- 
kungszeit bis zu ıhm zu diffundieren vermag. Denn als ich bei je 
25 Körnern die äußerste Spitze bis zum makroskopisch erkennbaren 
Bloßlegen des Stärkeendosperms glatt abschnitt und sie dann für 
24 Std. ın 5%, oder in !/,., Normal-AgNO, einbrachte, danach wie oben 
mit NaCl und Wasser bearbeitete, keimten von der !/,., Normal- 
serie alle 25, von der 5%,-Serie 21, während 3 der letzteren auf- 
fallend ın der Entwickelung zurückblieben und eines überhaupt nicht 
keimte. Schnitte lehrten, dass die am Lichte sich schwärzende 
Chlorsilberzone, wenn typische Keimung eintrat, nicht bis zum Seu- 
tellum reichte, zuweilen allerdings erst unmittelbar davor endete. 
Bei den nur gespitzten oder nach eingetretener Keimung bald ab- 
sterbenden Körnern war die Silberlösung bis in die Spitze des 
Scutellums vorgedrungen!*). Prinzipiell ebenso verhielten sich 
Körner, die vor der Ag-Weiche durch einen Nadelstich am Rücken 
verletzt waren. In anderen Versuchen resultierte etwas mehr Aus- 
fall, das ıst verständlich und es ıst wertlos, hier nach bestimmten 
Keimungsprozenten zu streben. Die Größe der Wunde, der variable 
Abstand Embryo, Wunde, dıe Temperatur mit ıhrer Beeinflussung 
der Diffusionsgeschwindigkeit, geben genügende Gründe für schwan- 
kende Resultate. 


Als Fazit aus diesen Versuchen mit dem selbstgeernteten 
Weizen ergibt sich demnach, dass: Die Keimfähigkeit beim 
unversehrten Material — wie es ohne Auslese beim Isolieren 
von der Spindel vorlag — durch 24stündige Behandlung mit 
5% Sıilbernitratlösung in keiner Weise .alteriert wurde, 
sondern es resultierte danach der gleiche Prozentsatz 
normal entwickelter Keimpflanzen wie bei den Kon- 
trollen. Gegenversuche an Körnern mit entblößtem Embryo lehren, 
dass diese Widerstandsfähigkeit als Membranfunktion an- 
zusprechen sei. 


Oder mit anderen Worten genau das, was ich in der ange- 
griffenen Arbeit auf Grund meiner damaligen Befunde behauptet 
hatte. 


14) Als gespitzt bezeichne ich Körner, bei denen der Keimling eben die Schale 
durchbrochen hat. 


Schroeder, Über die Einwirkung von Silbernitrat auf die Keimfähigkeit ete. 15 


M. 

Ich habe mich bisher auf Weizen beschränkt, weıl mir dieser 
das Hauptobjekt meiner früheren Arbeiten!’) besonders nahe lag 
und weil gerade dieser, wie oben ausgeführt, jede Schädigung be- 
sonders deutlich erkennen ließ. 

Die gleichen Resultate erzielte ich mit Roggen (Ernte 1913 
aus hiesiger, Kieler Gegend). Auch dieser stand mir, dank der 
freundlichen Vermittlung von Herrn Dr. Blohm, ungedroschen zur 
Verfügung und wurde durch mich von der Spindel gelöst. 


Versuch 1. Je 50 Körner. (Vorversuch.) 
Behandlung: A. 22 Std. 5%, AgNO,; 7, Std. 2% NaCl; 16 Std. 
0,2%, NaCl. 
26 Std. Wasser. 
Gesamtweiche: 71!/, St. 


B. Kontrolle 50 Std. ın Wasser. 

















Gekeimt nach Tagen: 4 | Be | 12 | 20 | Ungekeimt 
a eo tn en Aal ae 1 
Bee“ Le 312 


Versuch 2. Je 100 Körner. 
Behandlung: r. 21Std. 5%, AgNO,; 5%, Std. 2%, NaCl; 17:), Std. 
0,2% NaCl. 
24 Std. Wasser. 
Gesamtweiche: 71 Std. 


B. Kontrolle 65 Std. ın Wasser. 








Gekeimt nach Tagen: 2 | el) Ungekeimt 
I 
Au mil 96 , 96 (ferner 1 nur gespitzt) | 3 
B.| 44 | 72 | 96 (ferner 2 gespitzt) 2 


Die Plumula hatte die Coleoptile durchbrochen: 














Nach Tagen: ZUR ROSE | ) 
Bei A in | 70 Da nen 
Bei B in | 57 I 77 ESG AB 


\ 


Diese 91 Keimpflanzen hatten sich trotz der Silberbehandlung 
in typischer Weise entwickelt!®). Zu ihnen kommen noch 5, denen 


15) Vergl. außer der mehrfach zitierten Arbeit auch: Flora 102 (1911), 8. 186. 

16) Vielleicht waren die, übrigens sonst gut ausgebildeten, Wurzelhaare bei 
den mit. Silber behandelten Pflanzen nicht ganz so zahlreich als bei den Kontrollen. 
Doch bin ich dem nicht weiter nachgegangen, so dass auch andere Ursachen als die 
Silberbehandlung wirksam gewesen sein können. 


16 Schroeder, Über die Einwirkung von Silbernitrat auf die Keimfähigkeit etc. 


der Durchbruch durch die Schale Schwierigkeiten bereitete. Von 
4 derselben wurden diese überwunden, während 1 mit seiner aus 
der Coleoptile hervorgestreckten Plumula innerhalb des breiigen 
Endosperms in mannigfacher Weise hin- und hergewachsen war. 
Bei den 4 schließlich — natürlich ohne mein Zutun — befreiten 
brach ebenso die Plumula aus der mehr oder weniger verkrümmten 
Coleoptile durch und 2 derselben waren in der Lage, zu typischen 
Keimlingen auszuwachsen. Die beiden anderen hingegen blieben 
verkrüppelt, besonders behielt die Spitze des ersten Laubblattes 
eine Einkrümmung neben einer anormalen Verdickung. Bezüglich 
der möglichen Gründe für diese bei den Kontrollen nicht oder sehr 
viel seltener beobachteten Anomalie verweise ich auf das Folgende !”). 
Zunächst dürfen wir sie außer acht lassen, denn selbst, wenn man 
die fraglichen 5 und ebenso die bloß gespitzten Körner weglässt, 
resultieren im Silbernitratversuch 91 normale Keimlinge gegen 96 
in der Kontrolle oder 95%, des normalen Wertes. Andernfalls er- 
hält man die Keimziffer der unbehandelten Proben. 

Die Resektionsversuche verliefen beim Roggen genau 
wie beim Weizen, wie folgende Zusammenstellung zeigt: 
Behandlung: Je 20 Körner. 

A. Schale über Embryo durchgerissen. 
B. Spitze des Kornes weggeschnitten. 
'. Im oberen Drittel durch einen Nadelstich in der 
Flanke verletzt. 

D. Unverletzte Kontrolle. 

AD: 18 Sid. 5%, AgNO,, 51], Std. 2% Na@C]; 172], Std. 

0,2% Na0l; 24 Std. Wasser, Gesamtweiche 65 Std. 

E. Schale über Embryo durchrissen; nicht mit AgNO, 

behandelt, sonst wie oben; also 5!/, Std. 2%, 
NaCl u. s. w.; Gesamtweiche 47 Std. 








Nach 8 Tagen: A. | B, | Sl | E. 











Gekeimt 0 1622) | 18 '5) 

Nicht gekeimt | 20 Lv 2,2 ne 
Also wie beim Weizen tötet die Silberbehandlung (5%; 18 Std.) 
die Körner mit entblößtem Embryo ausnahmslos, nicht aber die ın 
gewisser Entfernung vom Keimling verletzten. Ebensowenig alteriert 
die Nachbehandlung allein beim Fehlen des Sıilberbades die Keim- 
fähigkeit von Roggen mit unbedecktem Embryo. Doch zeigten von 





Ir 
| 








17), 8220: 

18) Bei ©. und D. die beiden fehlenden Körner nur gespitzt. In letzterer 
Serie entwickelte sich das eine davon in der Folge normal weiter, das andere blieb 
stehen. Bei Ö. zeigte das eine, der Untersuchung geopfert, die geschwärzte AgOl- 
Zone, bis in die Spitze des Scutellums reichend. 


Schroeder, Über die Einwirkung von Silbernitrat auf die Keimfähigkeit ete. 17 


den 20 ın letzterem Falle (E.) gekeimten nicht weniger als 6 Un- 
regelmäßigkeiten, wie Verkrümmung der Coleoptile, basal seitliches 
Herausschieben der Plumula aus dieser bezw. Einrollung und An- 
schwellung der Spitze des ersten Laubblattes; kurz Erscheinungen, 
die an die (S. 16) beschriebenen Anomalien erinnern. 

Im übrigen verweise ich auf das vorn S. 12 beim Weizen Aus- 
geführte und füge nur zu, dass nach 10 Tagen der Durchbruch der 
Plumula mit folgender Frequenz registriert wurde: A. 0; B. 18; 
05160. 1.022): BE. 2020)" Individuen. 


AL 

Der Besprechung des Verhaltens der Gerste sei eine kurze methodische 
Bemerkung vorangestellt. Die Keimung vollzog sich in den Versuchen mit Weizen 
und Roggen durchweg in geschlossenen sterilisierten Petrischalen auf 3—4 Lagen 
Filtrierpapier bei loser Bedeckung mit einer Einzellage. Weizen, Roggen und die 
infolge der Behandlung mit einer Ohlorsilbereinlagerung in Spelzen und Schale ver- 
sehenen Gerstenkörner keimten dabei normal, d. h. zu 90-100 % oder doch im 
gleichen Prozentsatz wie beiderseits umhüllt von 4 Lagen Filtrierpapier zwischen 
Glasplatten. Nicht versilberte Gerste zeigte jedoch bei letzterer Behandlung zumeist 
eine höhere Keimfähigkeit. Es dürfte dies wohl auf ein größeres Feuchtigkeits- 
bedürfnis der Gerste zurückzuführen sein, das aber bei Silbereinlagerung, vielleicht 
infolge erschwerter Durchlässigkeit für Wasser, nicht zutage tritt. Wenigstens scheint 
dies die einfachste Erklärung, weiter verfolgt habe ich die Frage nicht. 

Als Konsequenz aus dieser Erfahrung ergab sich, dass die Keimung der Gerste 
zwischen Glasplatten zu erfolgen hatte; natürlich dann für Kontrollen und mit 
Silbernitrat behandelte Körner in gleicher Weise. Doch habe ich im folgenden auch 
die älteren Versuche in Petrischalen mit aufgeführt, jedoch jedesmal unter ausdrück- 
lichem Hinweis auf die Methodik. 

Die Weiterentwickelung bis zum Durchbruch der Plumula wurde nach Schei- 
dung der gekeimten und der ungekeimten Körner einfach in der offenen Petrischale 
weiter verfolgt. Wurde der Boden recht feucht gehalten, es stand bei diesen vor- 
gerückten Stadien in der Regel Wasser darin, so erübrigte jeder Transpirationsschutz. 

Die Methoden sind primitiv, da sie aber zweifelsfreie Resultate ergaben, hatte 
ich keine Veranlassung, von denselben abzugehen. 


v1. 


Auch unter den Gersteproben fand ich unschwer solche, die 
nach der Silberbehandlung die gleichen Keimprozente ergaben wie 
die Kontrollen: Dies Verhalten zeigte z. B. die eingangs erwähnte 
Hannagerste?!) (Erntejahr unbekannt). Ebenso Handelsware (Ernte 
1912), wie folgende Tabelle zeigt (s. oben S. 17): 

Das gleiche Material ergab in Petrischalen für die AgNO,-Serie 
nach 12 Tagen 84 normale Keimlinge, 5 mit verkrümmter Coleop- 
tile und 11 ungekeimte Körner. Bei 75 der Keimlinge war zu 
diesem Termin die Plumula durchgebrochen. Von den Kontrollen 
(65 Std. Wasserweiche) keimten bei dieser Anordnung nur 55 von 100. 


19) Darunter 1 abnorm Verkrümmtes. 

20) Darunter die 6 vorstehend erwähnten verkrümmten Individuen. 
21) 8.9. 

XXXV. 2 


18 Schroeder, Über die Einwirkung von Silbernitrat auf die Keimfähigkeit ete 


Versuch A. 100 Körner, Keimung zwischen Glasplatten. 
Serie I: 24 Std.5%, AgNO,; 7 Std.2%, NaCl; 15 Std. 0,2%, NaCl, 
26 Std. Wasser. Gesamtweiche 72 Std. 
Serie Il: Wasser (mehrmals erneuert) 72 Std. 














Gekeimt nach Tagen: 4 | 5 | 6 | 2 
Serie IT| 84(13)*) | 86(11) 87 (10) 88 (9) 
Bere Il | - 79 (21), 1 Salelz). Wr Seren 8614) 


Die eingeklammerten Werte: Anzahl der ungekeimten Körner. 

*) Die 3 fehlenden waren gekeimt, hatten Schwierigkeiten beim Durchbrechen 
der Schale. 

Bei einer selbst von der Spindel befreiten Probe??) konnte ich 
nach Silbernitratbehandlung in Petrischalenkultur von 100 Körnern 
nach 4 Tagen 74 und nach 9 Tagen 83 durchaus normale Keim- 
linge erzielen. Nach 13 Tagen war bei diesen allen die Plumula 
durchgetreten. Verkrüppelte Individuen beobachtete ich hier über- 
haupt nicht. 

Wenn auch die Kontrolle in der Petrischale nur 25 Keimlinge 
bei 75 ungekeimten Körnern ergab, stelle ich den Versuch doch 
hierher, weil zwischen Glasplatten von unbehandelten Körnern 
88— 92%, keimten. 

Bei anderen Proben fand ıch aber tatsächlich eine Erhöhung 
der Keimprobe durch die Silberbehandlung??). So bei einer Hanna- 
gerste des Handels (Ernte 1913). 


Versuch B. 100 Körner. Keimung zwischen Glasplatten. 
Serien und deren Behandlung wie bei Versuch A. 

















Gekeimt nach Tagen: 4 | 5 | 6 | 2 
Serie 1 Er en) 
Serie II 46 | 46 | 48 | 48.(52) 


3ei Serie II (unbehandelte Kontrolle) vom 5. Tage ab starke Entwickelung 
von Schimmelpilzen, die mich am 7. Tage veranlasste, den Versuch abzubrechen. 


In der Petrischale war in diesem Falle die Keimung sehr 
schlecht, doch ergab sich auch so ein Plus für die Silberbehand- 
lung. Das eine Mal keimten 62 der Silberserie gegen 12 der Kon- 
trolle, das andere Mal 48 gegen 24; alles von je 100 Körnern. 

Ebenso verhielt sich eine andere Gerstenprobe, die ich wieder 
selbst entspindelte. 


22) Auch die Gerstenähren verdanke ich Herrn Dr. Blohm. 

23) Ebenso gibt Appel eine Erhöhung der Keimziffer nach Silberbehandlung 
an (Jahresber. der Vereinigung für angewandte Botanik. Jahrg. IX (1912), S. XIV). 

24) Die Klammerwerte Anzahl der ungekeimten Körner. 


Schroeder, Über die Einwirkung von Silbernitrat. auf die Keimfähigkeit ete. 19 


Versuch C. Frequenz, Behandlung, Serien wie bei Versuch A u. B. 











(Gekeimt nach Tagen: 4 5 | 6 S 








| — ———— 
Serie I 79 | s0 | 80@0) 80 (20)%) 
Serie II 27 a \ 30 (70) 


| ! 

Auch in der Petrischale keimten von der Kontrolle nur 30, von 
der Silberserie 80 von jeweils 100. Von diesen hatten 7 Schwierig- 
keiten beim Durchbruch der Coleoptile. Doch konnten sie sämt- 
lich in der Folge dies ausgleichen und zu gesunden Pflänzchen er- 
wachsen. 

Diese fördernde Wirkung kann natürlich nur bei relativ schlechtem 
Keimgut in Erscheinung treten. Die Gründe dafür werden sekundär 
sein. Vor allem ıst an die in obigen Versuchen deutlich erkenn- 
bare desinfizierende Wirkung des Silbernitrates zu denkep. Auch 
reagierte meine Lösung gegen Lackmus schwach sauer, was viel- 
leicht günstig bezw. als Reiz gewirkt haben mag°®). 

Resektionsversuche habe ich mit Gerste nicht vorgenommen. 


vn. 


Aus den vorstehend ausführlich beschriebenen Ver- 
suchen geht ın völlig einwandfreier Weise hervor, dass 
für Weizen, Gerste und Roggen nach 24stündiger Be- 
handlung mit 5% Silbernitrat qualitativ und quantitativ 
normale Keimung möglich ist. Doch zeigten nicht alle unter- 
suchten Proben dieses Verhalten. Wohl keimte stets ein gewisser 
Prozentsatz ın normaler Weise, aber der Ausfall war zuweilen recht 
erheblich. So betrug bei dem eingangs erwähnten Sommerweizen 
die Keimfähigkeit der silberbehandelten Körner nur 37—56%, des 
normalen Wertes und bei der nackten Gerste ca. 30—50% des- 
selben. Oder mit anderen Worten, die Hälfte bis zwei Drittel der 
keimfähigen Körner sind durch das Salz getötet worden, es muss 
dasselbe also bis zum Embryo vorgedrungen sein. Dies wird mög- 
lich sein bei einer durch Außenfaktoren bewirkten Verletzung der 
selektiv permeablen Hülle, welche nicht ın allzu großer Entfernung 
vom Embryo gelegen ist. 

Nun scheint aber aus leicht ersichtlichen Gründen gerade diese 
Region der Schale am meisten gefährdet und ein alter Versuch 
von Werner”) lehrt schon, dass bei Maschinendrusch — und bei 
den beiden bei mir in Frage kommenden Handelsproben dürfte 


25) Von diesen 20 waren 17 gespitzt, dann aber in der Entwickelung stehen 
geblieben. 

26) Vergl. Lehmann und Ottenwälder: Zeitschr. f. Botanik, Bd.5 (1913) 
und die dort zitierte Literatur. 

27) Angeführt nach Körnicke-Werner: Handb. d. Getreidebaues, Bd. II 
(1885), S. 48, 49. Der Versuch selbst wurde schon 1867 publiziert. 


230 Schroeder, Über die Einwirkuug von Silbernitrat auf die Keimfähigkeit etc. 


dieser wohl vorgelegen haben — Schalenbeschädigungen in obigem 
Umfange vorkommen kann. Werner fand für Weizen, dass die 
übliche Dreschmethoden die Keimkraft nicht beeinträchtigen, er er- 
zielte durchweg rund 97%. Wurde das Saatgut mit Kupfervitriol 
gebeizt, so fielen bei Handdrusch nur 2—4%,, bei Maschinendrusch 
hingegen je nach der Art der Behandlung 25-62% aus. D. h,, 
dieser Anteil hatte Schalenverletzungen, die einen Zutritt des Giftes 
zum Embryo gestatteten. Wenn also die heutigen Verfahren nicht 
schonender sind, was ich nicht weiß, so kann man allein damit 
Ausfälle von der oben angegebenen Größenordnung befriedigend 
erklären. Es werden aber noch andere Umstände einen Ausfall 
bei der Silberbehandlung bewirken können. So z. B. Auskeimen 
auf dem Felde, das nicht unbedingt bezw. sofort den Verlust des 
Keimvermögens zur Folge zu haben braucht ?®), wohl aber die Kon- 
tinuität. der Hüllen gerade über dem Embryo zerstören wird. Oder 
ungenügende Reife begleitet von unvollkommener Ausbildung der 
selektiv permeablen Schicht u. s. w.2?). 

Man wird daher diese — beı meinen Versuchen — Ausnahmen 
weder gegen dıe wohlbegründete Annahme®®) einer semipermeablen 
Hülle der oben genannten Getreidearten verwerten können noch 
auch gegen das Nicht- oder doch sehr langsame®!) Permeieren des 
Silbernitrates, das nach Versuchen von Shull??) die sonst mit ähn- 
lichen Qualitäten ausgerüstete Samenschale von Xanthium glabratum 
leicht durchwandert. 

Entsprechendes gilt für die mehrfach erwähnten Körner, bei 
welchen der Durchbruch der Coleoptile durch die Schale nur 
schwierig oder in sehr seltenen Fällen überhaupt nicht sich vollzog 
und eine mehr oder weniger verkrümmte Coleoptile resultierte; 
beim Roggen zum Teil auch die Spitze des ersten Laubblattes in 
Mitleidenschaft gezogen war®?). Denn es handelt sich auch hierbei 
um Ausnahmen, die zuweilen ganz fehlten und wo sie vorkamen, 
stets ın bescheidenen Grenzen blieben (3—7%,), so dass auch nach 
ihrem Abzug — und sie sind vorstehend den keimenden Körnern 
entweder nicht zugezählt oder der Zahl nach ausdrücklich aufge- 
führt — annähernd normale Keimprozente resultieren. Trotzdem 
liegt offensichtlich eine Folge der Behandlung vor, denn wenn auch 
unter den zahlreichen Kortrollen mir hin und wieder ein derartiger 


28) Vergl. Rabe: Flora, Bd. 95 (1905), S. 253 bezw. 255 und die dort ange- 
[o) ’ ’ 
ebene Literatur. 
5 
29) S. auch im folgenden (S. 21) die Erörterung der Möglichkeit eines lang- 
samen Permeierens des Silbernitrates. 
30) Vergl. auch die in meinen Arbeiten zitierten Abhandlungen von A. Brown. 
8 8 
31) S. folgende Seite. 
32) Bot. Gazette, Bd. 54 (1913), S. 169. 
33) Uber ähnliche Missbildungen berichtet auch Birkner, l.c., S. 188. 


Schroeder, Über die Einwirkung von Silbernitrat auf die Keimfähigkeit ete. 21 


Krüppel begegnete, so waren sie doch dort sehr viel seltener. Die 
Beobachtung, dass ähnliche Anomalien und in höherer Proportion 
bei meinen Resektionsversuchen vorkamen und zwar dann, wenn 
die Verletzung wohl vom Embryo entfernt lag, aber doch so, dass 
das Gift bis ins Scutellum vordrang, legte die Vermutung nahe, 
dass auch bei den abnormen Körnern derartige lokalısierte Wunden 
vorhanden gewesen seien. Da ich aber das dann im Endosperm 
zu erwartende Silber dort nicht finden konnte, halte ich diese Deu- 
tung für ausgeschlossen. Wahrscheinlicher scheinen mir die folgen- 
den Alternativen, zwischen denen ich eine Entscheidung nicht treffen 
kann. Entweder handelt es sich um eine durch die Behandlung 
verursachte Änderung der mechanischen Eigenschaften der Korn- 
hüllen, schon das eingelagerte Chlorsilber könnte vielleicht derart 
wirken, womit auch die Beeinflussung des ersten Laubblattes durch 
die nicht getötete Coleoptile hindurch befriedigend erklärt wäre. 
Oder aber das Gift kommt wirklich — aber dann nur für kurze 
Zeit und ın geringer Konzentration, sonst müsste der Effekt ein 
stärkerer sein — in Berührung mit der Coleoptile. Das wäre mög- 
lich, wenn der quellende Dil: sich streckende Keimling am Ende 
der Einwirkungszeit oder doch ehe das ausfällende Kochsalz weit 
genug vorgedrungen, die Hülle an einer Stelle sprengt. Aber dann 
dürfte doch wohl zuerst eine Schädigung der Wurzel zu erwarten 
sein). Daher halte ich es nicht für ausgeschlossen, dass eine 
Spur des Silbersalzes innerhalb der 24 Stunden bei einzelnen Körnern 
gewisser Proben eben die selektiv permeable Hülle passiert. Das wider- 
spricht der Annahme einer derartigen Hülle nicht, denn, wie ich früher 
wiederholt betonte®’) und wohl auch allgemein angenommen wird, 
dürfen wir in permeierenden und nichtpermeierenden Stoffen keine 
prinzipiell verschiedenen Körperklassen erblicken, sondern nur den 
Ausdruck einer durch Zwischenglieder verknüpften extremen gra- 
duellen Verschiedenheit. Und da es mir seinerzeit gelang, durch 
Änderung der Zusammensetzung des Außenmediums (Alkoholzusatz)°*) 
ein rasches Eindringen des Sılbernitrates zu bewirken, halte ich 
ein langsames aus rein wässeriger Lösung für sehr wohl möglich. 
Hier müssen weitere Versuche einsetzen. Doch sei auch darauf 


34) Eine solche beobachtete Nestler (Sitzungsber. d. Wien. Akademie Math.- 
Nat. Klasse: Bd. 113, Abteil. I (1904), S.542, Anm.) bei Zolium temulentum nach 
24stünd. Behandlung mit 10 % Kupfersulfat. 


35) Centralblatt für Bakteriologie ete., II. Abteil., Bd. 28 (1910), S. 494, Anm. 
Flora, Bd. 102 (1911), S. 186. 

36) Die Möglichkeit, dass durch den Alkohol eine Lösung gewisser Membran- 
stoffe bewirkt und damit die Änderung der Durchlässigkeit veranlasst werde, scheint 
mir ausgeschlossen ; wenigstens konnte ich in in Alkohol (50 %) vorbehandelten Körnern, 
nach Trocknen, bei darauffolpendem Einweichen in En AgNO, kein Silber im 
Korninneren auffinden. 


99 Schroeder, Über die Einwirkung von Silbernitrat auf die Keimfähigkeit etc. 


hingewiesen, dass beı verletzten Körnern NaCl-Behandlung allein 
einen starken Prozentsatz ähnlicher Krüppel ergab ’’”). 

Wenn also auch im einzelnen noch gewisse Fragen der Auf- 
klärung harren, so stört dies nicht die allgemeinen Resultate, weder 
in theoretischer noch in praktischer Hinsicht. In letzterer — metho- 
disches Hilfsmittel bei physiologischen Versuchen — und diese 
steht eigentlich hier allein in Frage, hatte ich schon früher Sorg- 
falt bei der Auswahl des Keimsaatgutes empfohlen ®®). Man wird also 
zunächst nach widerstandsfähigen Proben zu suchen haben. Doch 
dürfte deren Beschaffung keine unüberwindliche Schwierigkeiten 
bieten, denn meine diesmal benutzten Gersteproben zeigten mit 
alleiniger Ausnahme der nackten Gerste diese Resistenz, ebenso 
der einzige geprüfte (selbstentspindelte) Roggen und von zwei 
Weizenmustern das eine selbstgeerntete °°). 

Den Widerspruch zwischen meinen Befunden und denen Birk- 
ner’s mit von diesem persönlich entspindelter, also wohl unver- 
letzter Gerste, kann ich nicht aufklären. Denn er erhielt z. B. nach 
12 Stunden nur noch die folgenden Keimprozente: N/10AgNO, : 3%» 
N/50:25% und N/100: 159, Die Annahme, dass etwa wie in 
den Rechen Arcichovskijs*) mit Erbsen die schwächere 
(N/10—N/100) Giftkonzentrationen Birkner’s ın höherem Maße 
schädigend gewirkt haben könnten als meine stärkeren (5%), wird 
dadurch ausgeschlossen, dass ıch sowohl bei Weizen wie Mi Gerste 
gegen N/10 und N/100 AgNO, die gleiche Widerstandsfähigkeit 
fand wie gegen 5%, Lösung. Auch in Birkner’s Versuchen ergibt 
sich Zunahme der Intensität der Wirkung mit steigender Konzen- 
tration. Im übrigen scheint Birkner bei höheren Temperaturen 
gearbeitet zu haben wie ich, wenigstens glaube ich diese aus der 
Kürze seiner Weichdauer (36 Stunden) und aus der Tatsache er- 
schließen zu können, dass er die Keimfähigkeit bereits nach 36 Stunden 
registriert. Vielleicht verhält sich auch sein — amerikanisches — 
Material anders als das Meine. Aber abgesehen von den damit 
eröffneten Möglichkeiten kann ich mich des Verdachtes nicht ganz 
erwehren, dass Birkner bei der Entfernung bezw. dem Unschäd- 
lichmachen des ın der Fruchtschale vorhandenen Silbernitrates nicht 
sorgfältig genug vorgegangen sei. Denn er spült nach dem Silber- 


37) Die Missbildungen (Schleifen), die Nestler (l. c., S. 541) für Lolium 
temulentum nach HgÜl, beschreibt, dürfte anderer Natur sein. 

38) Schroeder: 8. ap: 

39) oz auch die S. 18 zitierte Angabe Appel’s. Ferner Jauerka (Diss, 
Halle 1912, S. 15). Letzterer fand für zwei Weizenproben nach Silberbehandlung 
(5 % Lösung), folgende Keimfähigkeit: Blaue Dame 87,5 und Strube’s Schlesischer 
72% des normalen Wertes. Der Rückgang wird von ihm auf den Einfluss ver- 
letzter Körner zurückgeführt. 

40) Biochem. Zeitschr., Bd. 50 (1913), S 


DD 
SS) 
wo 


Schroeder, Über die Einwirkung von Silbernitrat auf die Keimfähigkeit etc. 25 


bad lediglich ab, quillt dann in destilliertem Wasser — also bei 
völligem Ausschluss von Chlorid — und nun erst unmittelbar vor 
der Übertragung ins Keimbett folgt NaCl-Behandlung. Diese be- 
steht aber ebenfalls nur im Abspülen und ein gründliches Nach- 
waschen mit Wasser beseitigt auch rasch wieder das somit nur 
kurze Zeit, d. h. oberflächlich vorhandene Chlorid. 

Dass eine Störung der Bakterienentwickelung die Ursache des 
Rückganges der Keimprozente sei, glaube ich nicht. Denn in 
meinen früheren Versuchen keimten die Körner in klarer — also 
steriler — Bouillon*). Vielleicht ist diese immer wiederkehrende 
Behauptung der Notwendigkeit einer Bakterienmitwirkung bei der 
Gerstenkeimung darauf zurückzuführen, dass Säurebildung durch 
jene die fehlende Nachreife ersetzt. 

IX. 

Unlängst hat sich Th. Bokorny *) mit meiner Arbeit beschäftigt 
und will, wenn ich ıhn recht verstehe, den Unterschied in der Wir- 
kung des Sublimates und des Silbernitrates damit erklären, dass 
dieses in höherem Maße der Ausfällung unterliege als jenes. Dass 
Silbernitrat stark ausgefällt und adsorbiert wird, ıst sicher und bei 
den Versuchen mit an der Spitze angeschnittenen Körnern werden 
diese Faktoren die Ursache sein, warum es volle 24 Stunden und 
mehr dauert, bis das Gift zum Embryo gelangt, aber am unver- 
sehrten Korn halte ich doch die selektiv permeable Membran für 
ausschlaggebend, und zwar aus folgenden Gründen, die zum Teil 
meinen älteren Arbeiten entnommen sind *). 

1. Isotone Lösungen von Silbernitrat und Chlornatrium depri- 
mieren die Wasseraufnahme des unversehrten Weizenkornes an- 
nähernd um den gleichen Betrag*). Für NaCl wurde dabei eine 

41) Schroeder: S. 503. 

42) Biochem. Zeitschr., Bd. 62 (1914), S. 58 

43) Den beiden oben zitierten Abhandlungen. 

44) Dass die Depression der Wasseraufnahme durch Silbernitrat nicht durch 
veränderte Durchlässigkeit der mit Silbersalz imprägnierten Schale bedingt ist, in 
der Weise etwa, wie ich das früher für Osmiumsäure gefunden habe, beweist auch 
noch folgender Versuch: 

Vorbehandlung: Serie A. Weizen 24 Std.in5 % AgNO, geweicht, danach zuerst in 
Luft, dann im Trockenschrank bei ca. 50° C getrocknet. 
Serie B. Weizen 24 Std. in Wasser geweicht, darauf getrocknet 

wie A. 

Wasseraufnahme in % des Anfangsgewichtes beim Einweichen der so vorbe- 
handelten Körner in reinem Wasser. 








Nach Stunden: 7 22 











i 
Serie IR | 20 | 34,5 
Serie B. 23 | 35,5 


D.h., die Körner der Serie A, deren mit Silber durchsetzte Schale dunkelbraun 
gefällt war, nehmen das Wasser ebenso rasch auf als die nur mit Wasser vorbehandelten. 


94 Schroeder, Über die Einwirkung von Silbernitrat auf die Keimfähigkeit etc. 


Titerzunahme der Lösung festgestellt, die unter Berücksichtigung 
der durch die Tiefenlage der semipermeablen Membran bedingten 
Korrektur rund der durch direkte Wägung ermittelten Wasserauf- 
nahme entsprach. Bei angeschnittenen Körnern ist eine Hemmung 
der Wasseraufnahme nicht festzustellen *). 

2. Während sich im Inneren des verletzten Kornes das Sılber 
unschwer feststellen lässt, misslang sein Nachweis bei unversehrter 
Kornhülle. 

3. Die Resistenz ıst streng an die Kontinuität der Schale über 
dem Embryo geknüpft. 

Im Gegensatz dazu bewirkt Sublimat keine Depression der 
Wasseraufnahme, ist ım intakten wie im angeschnittenen Korn 
leicht aufzufinden und äußert seine Giftwirkung auch bei Abwesen- 
heit von Verletzungen. 

Von diesen Tatsachen spricht in erster Linie die Titerzunahme 
für die Bedeutung einer semipermeablen Membran. Ich habe darum 
neuerdings auch Silbernitrat ın dieser Beziehung untersucht und 
auch für dieses eine Titerzunahme gefunden, aber mit Sicherheit **) 
nur dann, wenn relativ viel Weizen (100 Körner) mit kleinen Mengen 
(10 ccm) halle (10%) Salzlösung behandelt wurde. So 
enthielt einmal die Lösung in 5 cem vor der Weiche 0,496 g AgNO, 
und nachher 0,522 g; an han Körner inssuer bewirkten 
eine Titerabnahme auf 0,468 g ın 5 cem. Ein anderer Versuch er- 
gab vorher 0,480 g in 5cem und nachher 0,521 g. Die aus letzteren 
Daten errechnete Wasseraufnahme beträgt 0,5 g gegen 1,35 des 
tatsächlichen Befundes. Diese Differenz ıst größer als die früher bei 
NaÜl-Versuchen gefundene, d.h. geht über den Betrag dessen, was 
an Salzlösung die Fruchtschale imbibiert, hinaus. Das dürfte auf 
Silberfällung bezw. Adsorption zurückzuführen sein, eine Annahme, 
mit der die oben erwähnte Titerabnahme bei Verwendung ange- 
schnittener Körner übereinstimmt. 

Durch die Titerzunahme der Silberlösung unter dem Einfluss 
quellender unbeschädigter Weizenkörner ıst aber einwandfrei be- 
wiesen, dass der Lösung Lösungsmittel in stärkerem Maße entzogen 
wurde als gelöste Substanz. Diese Tatsache dürfte in Verbindung 
mit den oben vorgebrachten Gründen ziemlich deutlich zugunsten 
der Annahme einer selektiv permeablen Hülle sprechen. 

Kiel, 1. August 1914. 


45) Vergl. für Silbernitrat speziell den auf Kurve I S. 189 (Flora, Bd. 102) 
wiedergegebenen Versuch. 

46) Sie war aber auch bei schwächeren Konzentrationen N/10 (10 ccm auf 
100 Körner) erkennbar. 


Bokorny, Bindung von Ammoniak durch das Zelleneiweiß. 35 
Bindung von Ammoniak durch das Zelleneiweils. 
Von Dr. Th. Bokorny. 

Verfasser hat schon vor einiger Zeit darauf hingewiesen (Chem. 
Ztg. 1912, p. 1050), dass die Schädlichkeit des Tabakrauches bei 
Pflanzen, die nach H. Moliseh (Bakt. Centralbl. Bd. 31, Nr. 11/15 
und Naturw. Umschau, 1912, S. 51) erstaunlich groß ist, wahr- 
schemlich durch den Ammoniakgehalt des Rauches hervorgerufen 
wird. 

Das Kohlenoxyd, welches von H. Molisch verantwortlich ge- 
macht wird, ist nicht schuld; denn dasselbe wirkt auf Pflanzen gar 
nicht giftig. 

Für höhere Tiere (Vögel, Säugetiere) ıst das Kohlenoxyd töd- 
lich durch Kohlenoxydhämoglobinbildung. 

Auch das Nikotin kann es nicht sein, was den Tabakrauch so 
schädlich für Pflanzen macht, denn es wirkt schon bei 0,1%, Ver- 
dünnung nicht mehr recht nachteilig. 

Ammoniak aber wirkt noch bei 0,1, sogar 0,05 und 0,025%, 
schädlich und wachstumshemmend auf Pflanzen, z. B. Keimlinge 
ein. Ja sogar 0,01%, hat noch eine Verzögerung des Wachstums 
zur Folge; es tritt zwar eine Keimung ein (an Kresse, Gerste, 
Wicke, Hanf, Erbse, Bohne), aber langsamer als beim Kontroll- 
versuch. 

Der Grund, warum das Ammoniak so schädlich wirkt, liegt ın 
der leichten Verbindungsfähigkeit des Ammoniaks mit 
dem Zelleneiweiß. 

In vielen Fällen lässt sich mikroskopisch eine Körnchenbildung 
innerhalb des Protoplasmas erkennen, wenn sehr verdünntes Am- 
moniak eingewirkt hat (Ammoniakgranulationen, die den mit Coffein 
und einigen anderen basischen Stoffen erhältlichen Granulationen 
zu vergleichen sind). 

Das Ammoniak hat sich dann mit dem Zelleneiweiß verbunden, 
was bald zum Tode der Zellen führt. 

Nur wenn man das Ammoniak sogleich wieder auswäscht, kann 
man eine Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes, d.h. ein 
Verschwinden der Körnchen erreichen und damit ein Weiterleben 
ermöglichen. 

Wie jede chemische Bindung findet auch diese ihr Ende bei 
einer gewissen höheren Verdünnung. 

Man muss aber beim Ammoniak sehr hoch gehen. 

Denn ich fand, dass man an Spirogyren mit Ammoniak sogar 
bei Verdünnung 1:20000 noch Körnchenausscheidung erhalten könne. 

Ohne jede Einwirkung dürften also nur noch höhere Verdün- 
nungen sein; das werden auch die Konzentrationen sein, bei welchen 
das Ammoniak ernährend auf die Pflanzen einwirkt. Die ernährende 
Wirkung des freien Ammoniaks muss dann naturgemäß schwach sein. 


6 Bokorny, Bindung von Ammoniak durch das Zelleneiweiß. 


Ammoniaksalze reagieren teilweise auch mit dem Zelleneiweiß, 
z. B. das kohlensaure Ammoniak, aber viel schwächer; ıhre Schäd- 
lichkeit wird also viel geringer sein. 

-Kohlensaures Ammoniak (und kohlensaures Natron) können 
„Aggregationserscheinungen“, das sind jene Granulationen, hervor- 
bringen. Die Verdünnungsgrenze, bei welcher die Wirkung hier 
eintritt, liegt aber wesentlich tiefer als beim freien Ammoniak. 

Das freie Ammoniak scheint eine besonders große Verbindungs- 
fähigkeit zu haben. Sogar die starken fixen Basen Kalı und Natron 
können sich damit nicht vergleichen. 

Wir müssen übrigens unterscheiden zwischen Bindung 
des sehr verdünnten Ammoniaks und Bindung des relativ 
wenig verdünnten Ammoniaks. 

Letztere tritt analog der gewöhnlichen Basenbindung durch das 
Zelleneiweiß ein, indem NH, mit Wasser zu NH,-OH wird und 
nun als Base sich mit den Säuregruppen des Eiweißes ver- 
bindet, gerade wie Kalı und Natron. 

Erstere ist eine Bindung als Aldehydammoniıak, indem die 
Aldehydgruppen des aktiven Albumins mit dem Ammoniak reagieren, 
was ım anderen Falle nicht möglich ıst, da sofort Umlagerung statt- 
findet (siehe-O. Loew, Uhem. Kraftqu., p. 23). 

Konzentrierte Ammoniaklösungen bewirken ebenso wie auch 
andere Schädlichkeiten sofort ein Absterben des Protoplasmas und 
damit eine Umlagerung des aktiven Albumins nach dem Schema: 


CH—NH, CH—NH 
| 
C—-6C=0O = >—C—OH 
I IHN 
Gruppe im aktiven Gruppe im passiven 
Eiweiß. Eiweiß. 


Darum können konzentriertere, z. B. 1%\,ıge Lösungen von Am- 
moniak nicht zu einem Versuch über den Unterschied zwischen 
lebendem und totem Protoplasma dienen. 

Dazu muss man hochverdünnte Lösungen anwenden. wie sie 
bei den oben erwähnten Versuchen zur Anwendung kamen; nur 
mit solchen erhält man die Granulationen und sonstigen Aggre- 
gationserscheinungen (siehe Verf. in Pringsh. Jahrb. 1878) an Spiro- 
gyren und anderen Objekten des Pflanzenreiches. Nur solche er- 
geben vermutlich Aldehydammoniakbildung mit den Aldehydgruppen 
des aktiven Eiweißes. 

Dieses Mal arbeitete ich mit Hefe und suchte durch quantı- 
tatıve Bestimmung der Ammoniakbindung einen chemischen Unter- 
schied zwischen lebendem und totem Protoplasmaprotein festzustellen. 


Bokorny, Bindung von Ammoniak durch das Zelleneiweiß. 27 


Ich ließ !/,oö n-Ammoniak (= 0,017%, NH,) auf lebende und 
tote Hefe einwirken. 

20 g Presshefe wurden in 1000 ce !/,.. n-Ammoniak lebendig 
gebracht und 24 Stunden lang darin unter öfterem Umrühren be- 
lassen (im bedeckten Glase). 

Ferner wurden 20 g Presshefe nach vorausgegangener Ab- 
tötung durch 3 Minuten langes Verweilen in 100 ce der kochend 
heißen !/;no M-Ammoniaklösung ebenfalls in 1000 ce kalter !/,oo 
n-Ammoniaklösung versetzt und 24 Stunden darin belassen (be- 
deckt). 

Die lebende Hefe nahm aus der Lösung (die bei der Titration 
insgesamt, nicht partiell, verwendet wurde) 0,075 g Ammoniak 
weg, die getötete (scheinbar) 0,0187 g, also ungefähr ein Viertel 
der ersteren Menge. 

Damit dem Einwand begegnet werde, dass hier vielleicht durch 
das kurze Erwärmen Substanz von ammoniakbindender Kraft aus- 
trete und weggegossen werde, oder dass Ammoniak während des 
Erwärmens gebunden und damit die ammoniakbindenden Atom- 
gruppen des Hefeplasmas abgesättigt werden, wurden die 100 ce 
t/ 00 a-Lösung, die zum Erhitzen und Abtöten der 20 g Presshefe 
Verwendung finden sollten, aus der 11 betragenden Gesamtmenge 
der ?/,.. n-Versuchslösung selbst genommen und dann die übrigen 
900 ce nach dem Erkalten hinzugefügt. 

Die Differenz von der soeben angegebenen Größe stellte sich 
trotzdem heraus. 

Ob die 0,018 Ammoniak wirklich durch die getötete Hefe ge- 
bunden wurden, ist übrigens doch sehr fraglich, da ja durch das 
Kochen ein Verlust von Ammoniak entsteht. 100 cc !/,,, n-Ammoniak 
enthalten 0,017 g NH,. Das entspricht nahezu der aus der Lösung 
nach Ausweis der Titration verschwundenen Ammoniakmenge. 

Somit nimmt die getötete Presshefe (20 g) soviel wie kein 
Ammoniak aus 11 '/,.o n-Ammoniaklösung binnen 24 Stunden 
weg, während lebende Presshefe (20g) 0,075 g Ammoniak 
aus 1 1 !/,,, n-Ammoniaklösung binnen 24 Stunden bindet. 

Man kann also auf diese Weise den Nachweis führen, dass 
lebendes Plasma auch chemisch verschieden ist von dem 
toten. 

Das aktive (lebende) Protein enthält nach ©. Loew Aldehyd- 
gruppen, welche beim Absterben durch chemische Umlagerung ver- 
schwinden. So ist das Resultat mit !/,,, n-Ammoniak verständlich. 

Ammoniak reagiert leicht mit Aldehydgruppen. Darum bindet 
das lebende Protoplasma Ammoniak. 

Das getötete Protoplasmaprotein enthält keine Aldehydgruppen 
mehr in seinen Proteinmolekülen, darum keine Ammoniakbindung. 


28 Bokorny, Bindung von Ammoniak durch das Zelleneiweiß. 


Dieser Beweis für den chemischen Unterschied zwischen leben- 
dem und totem Zelleneiweiß ist kaum umzustoßen. 

Denn durch Austritt von reaktionsfähiger Substanz beim Ab- 
töten der Zellen ist hier keine Täuschung möglich. Die Substanz 
ist (bei der zweiten oben angegebenen Versuchsanstellung) nach wie 
vor dem Abtöten da; es kann sich also nur um einen Verlust des 
Ammoniakbindungsvermögens durch Umlagerung handeln. 

Das auf Aldehydgruppen zurückführbare Ammoniakbindungs- 
vermögen durch Hefe ist nicht groß, es beträgt nur etwa !/,, des 
Ammoniakbindungsvermögens der Hefe aus konzentrierten, ca. 1 %,igen 
Lösungen; in letzterem Falle erfolgt sofort Umlagerung und reagieren 
somit nicht die Aldehydgruppen, sondern die auch im toten Plasma- 
protein noch vorhandenen Säuregruppen, welche bei !/,,, n-Am- 
moniaklösung gar nicht in Aktion treten (wegen der zu großen Ver- 
dünnung). 

Ein vergleichender Versuch mit n-Ammoniak (= 1,7%, NH,) 
ergab nämlich, dass 20 g Presshefe von 30%, Trockensubstanz, 
lebend ın 100 ce n-Ammoniaklösung verbracht, binnen 24 Stunden 
ca. 1 g Ammoniak aus der Lösung wegnehmen, d. h. chemisch 
binden. 

Das Ammoniakbindungsvermögen der Hefe ist somit erstaun- 
lich groß, entsprechend dem hohen Eiweißgehalt derselben. 

Das gebundene Ammoniak beträgt ca. 5%, des Lebendgewichtes 
der Hefe oder 15%, der Trockensubstanz. Der Eiweißgehalt der 
Hefe beträgt 50—60%, der Trockensubstanz. 

Weiterhin wurde noch eine !/,, n-Ammoniaklösung (0,17%, 1g) 
auf Hefe einwirken gelassen. 

20 g Presshefe wurden mit 100 ce einer !/,, n-Ammoniaklösung 
zerrieben bis zum Verschwinden der Brocken und Knöllchen. 

Dann wurde der Versuch 48 Stunden stehen gelassen. 

Es trat Fäulnisgeruch auf. 

Die Titration ergab, dass 0,13 g Ammoniak verschwunden waren. 

Nach dem Resultat des obigen Versuches (mit 1,7%,ıgem Am- 
moniak) hätte aber viel mehr verschwinden müssen, ja das ganze 
Ammoniak (0,17 g) hätte gebunden werden können, ohne die Binde- 
kraft der Hefe zu erschöpfen. 

Das Defizit wird begreiflich durch den Fäulnisgeruch; denn die 
Fäulnisbakterien hatten Ammoniak aus dem Hefeneiweiß entwickelt 
und damit eine Vermehrung des Ammoniakgehaltes in der Flüssig- 
keit bewirkt. 

Die „Ammoniakhefe“, wie sie durch Behandeln von Hefe mit 
ca. 1%,ıge Ammoniaklösungen erhalten wird, riecht nıcht nach Am- 
moniak (nach dem Auswaschen der anhängenden überschüssigen 
Lösung), reagiert nicht alkalisch, das Ammoniak ist gebunden. 


Bokorny, Bindung von Ammoniak durch das Zelleneiweiß. 29 


Durch Kochen mit fixen Alkalıen kann man das gebundene 
Ammoniak aus der Hefe frei machen. 

Die Bindung des Ammoniaks ım sehr verdünnten Zustande 
(0,017 %), sowie auch die aus konzentrierteren Lösungen (1,7%), 
wie sie hier an Hefe nachgewiesen wurde, entbehrt nıcht des che- 
mischen wie physiologischen Interesses. 

Sie ist meines Wissens noch von niemandem beobachtet worden. 

Zweifellos könnte dieselbe auch an anderen Organismen quan- 
tıtatıv erwiesen werden, z. B. an Bakterien, die ja auch ın an- 
nähernden Reinkulturen erhältlich sind, an tierischen und pflanz- 
lichen Mikroorganismen, wenn sie ın Kulturen vorliegen. In allen 
diesen Fällen könnte sowohl die erste als die zweite Art von Bin- 
dung erprobt werden. 

Beı höheren Pflanzen und Tieren müsste man wohl zu einer 
Zerteilung der Organismen schreiten. Dabei würden die Zellen ab- 
sterben und könnte die erste Art von Ammoniakbindung nicht mehr 
erwiesen werden. 

Hingegen müsste die zweite Art der Bindung überall nach 
Maßgabe des Eiweißgehaltes stattfinden. 

Die Hefezelle bindet übrigens eine Menge von anderen Stoffen 
auch noch, z. B. verschiedene Basen und Säuren, entsprechend dem 
mannigfaltigen chemischen Charakter des Eiweißmoleküles. 

Dasselbe enthält (lebend und tot) eine große Anzahl von Amido- 
gruppen und wirkt hierdurch als Base, bindet Säuren; durch den 
(Gehalt an Säuregruppen bindet es, wie schon erwähnt, Basen. 

Säuren werden demnach von der Hefe durch Salzbildung ge- 
bunden. 

Indem die (konzentriertere) Säure, sei es auch eine schwache, 
gebunden wird, stirbt das Protoplasma, wenn es lebend war, ab, 
sobald eine gewisse (letale) Quantität derselben gebunden ist; oder 
meist schon eher durch die lebensfeindlichen Atomstöße, die von 
derselben ausgehen. 

Ebenso ist es bei Einwirkung von Basen. 

Ferner bei den meisten anderen schädlich wirkenden Stoffen. 

Im allgemeinen kann man sagen, dass ein Stoff um so giftiger 
wirkt, je leichter er sich mit dem Protoplasmaeiweiß verbindet. 

Das Ammoniak gehört zu den Stoffen, die noch bei großer 
Verdünnung schädlich wirken. 

Es stimmt das überein mit der Beobachtung, dass dasselbe 
noch bei großer Verdünnung von den Hefezellen gebunden wird 
(als Aldehydammoniak). 

Durch meine fortgesetzten Beobachtungen über die Schädlich- 
keit des Ammoniaks für Mikroorganismen, speziell auch Hefe, bin 
ich nur bestärkt worden in der Ansicht, dass der den Pflanzen so 


30  v. Natzmer, Das biogenetische Grundgesetz im Leben der Insektenstaaten. 


schädliche Tabakrauch vorwiegend durch seinen Ammoniakgehalt 
schädlich wirkt. 

Übrigens wäre es nicht ohne Interesse, die Einwirkung des 
freien Ammoniaks noch bei recht vielen Pflanzen auszuprobieren. 

Da auch Ammoniaksalze bis zu einem gewissen Grade mit dem 
Protoplasma reagieren können, so vermute ich, dass die manchmal 
beobachtete weniger günstige Einwirkung von Ammoniaksalz (als 
Stickstoffdünger) auf Pflanzen hierauf zurückzuführen sei. 


Das biogenetische Grundgesetz im Leben 
der Insektenstaaten. 
Von G. v. Natzmer. 


Im folgenden will ich den Versuch machen, das biogenetische 
Grundgesetz ın übertragender Bedeutung auf die Insektenstaaten 
anzuwenden und so in der Entwickelung eines einzigen derartigen 
Staatengebildes die ganze Phylogenie wieder zu erkennen. Zwar 
sind schon einzelne Erscheinungen des sozialen Lebens, wie z. B. 
die Entwickelung der Termitennester (Holmgren), zum Gegen- 
stand ähnlicher Betrachtungen gemacht worden, doch fehlte es bis- 
her an einer zusammenfassenden, von der Basis des biogenetischen 
Grundgesetzes ausgehenden Phylogenie der Insektenstaaten. Die 
Phylogenien, welche einzig und allein an Hand der auf verschie- 
denen Entwickelungsstufen stehenden Staatengebilde aufgestellt 
worden sınd, bleiben ın ıhren Einzelheiten stets nur mehr oder 
minder Hypothese und können im besten Fall nur einen gewissen 
Wahrscheinlichkeitswert für sich in Anspruch nehmen. Ich habe 
es deshalb unternommen, für die Entwickelung der Insektenstaaten 


auch den wissenschaftlichen Beweis — soweit das innerhalb einer 
kurzen Abhandlung möglich ist — zu erbringen, indem ich, die 


induktive Methode anwendend, von der Ontogenie des einzelnen 
Staatengebildes auf die Phylogenie verallgemeinernd schloss. 

Wie eine vergleichende Betrachtung lehrt, muss sich das ge- 
sellschaftliche Leben bei den Insekten aus dem solitären, das sich 
bei den primitivsten Bienen und Wespen vorfindet, entwickelt haben. 
Die Weibchen dieser Arten legen, jedes für sich, einige meist roh 
gearbeitete Zellen an, die sie mit Nahrung versehen, bestiften und 
sodann verschließen, worauf sie bald zugrunde gehen. Diese Bienen 
(Prosopis, Andrena, Antophora, Xylocopa, Osmia, Colletes u. a.) und 
Wespen (Crabronidae, Eumenes u. a.) leben völlig einsam und unter- 
halten keinerlei Beziehungen zu ihren Artgenossen. Das Weibchen 
sorgt selbst für Nestbau, Brutpflege und Fortpflanzung, während all 
diese Funktionen bei den sozial lebenden Arten nur noch von ganz 
bestimmten Individuen ausgeübt werden, was in dem von E. Goeldi 


v. Natzmer, Das biogenetische Grundgesetz im. Leben der Insektenstaaten. 31 


aufgestellten Gesetz der Kompensation zwischen Gonepitropie (Über- 
tragung der Geschlechtsfunktionen) und Ergepitropie (Übertragung 
der Brutpflege und Nahrungsfürsorge) zum Ausdruck gelangt!). Von 
dieser Entwickelungsstufe hat, wie schon gesagt, nach 
Ansicht aller Forscher das soziale Leben bei den Insekten 
seinen Ausgangspunkt genommen. Deshalb ıst die Tat- 
sache bemerkenswert, dass die Lebensweise der Hummel- 
und der sozialen Wespenweibchen im Frühjahr bei der 
Gründung der Kolonie in allem völlig derjenigen der 
eben genannten solitären Arten gleicht. Erst wenn dann 
die Arbeiterinnen erscheinen, bildet sich allmählich jene Arbeits- 
teilung heraus, die wir in den höher entwickelten Staatengebilden 
beobachten können. Dieselbe ist aber anfänglich, so lange die Kolo- 
nien noch volksschwach sind, durchaus nicht streng durchgeführt, 
was für eine phylogenetische Betrachtung ebenfalls bemerkenswert 
ist. Dies gilt vor allem für die Hummeln, die ın den einfachsten 
und in jeder Hinsicht primitivsten Verbänden leben. Bei ihnen 
sind die Arbeiterinnen nur kleine Weibchen, die sich sonst, im 
Gegensatz zu den anderen staatenbildenden Insekten, ın nichts 
von den eigentlichen Weibchen unterscheiden. Sıe folgen nur, da 
sie selbst unbegattet geblieben sind, ıhren Brutpflegeinstinkten, wenn 
sie die Nachkommenschaft ihrer Stammutter mit Nahrung versorgen. 

Verwerten wir all diese Tatsachen im Sinne des bio- 
genetischen Grundgesetzes, so ergibtsich damit eine über- 
raschende Bestätigung derjenigen Theorie, welche das 
Entstehen des sozialen Lebens bei den Insekten daraus 
herleitet, dass ein ursprünglich solitäres Weibchen 
unter besonders günstigen Bedingungen das Erscheinen 
seiner Nachkommenschaft noch erlebte. Dieses Stadium ist 
nicht hypothetisch, sondern findet sich tatsächlich in der Natur bei 
manchen Halictus- Arten vor. 

Besonders interessant ıst die Tatsache, dass bei manchen Arten 
dieser Bienengattung die zweite Generation nur aus Weibchen he- 
steht, denn hiermit nehmen die Dinge eine den Hummelstaat im 
wesentlichen ganz ähnliche Gestaltung an. Es ist, um mit 
H.v. Buttel-Reepen zu sprechen, wohl möglich, „dass diese Weib- 
chen, die keiner Befruchtung bedurften, beim Anblick der noch 
offenen Zellen sofort ihren Fütterinstinkten gehorchten und Nahrung 
herbeitrugen und so der Mutter zur Hand gingen“ ?). 

Während bisher nur die Wahrscheinlichkeit für diese 
Annahme sprach, wird es durch die Betrachtung eines 


1) E. Goeldi. Der Ameisenstaat. Leipzig 1911. 
2) H. v. Buttel-Reepen. Die stammesgeschichtliche Entstehung des Bienen- 
staates. Leipzig 1903. 


39  v. Natzmer, Das biogenetische Grundgesetz im Leben der Insektenstaaten. 


der vorher erwähnten Staatengebilde vom Standpunkt 
des biogenetischen Grundgesetzes bestätigt, dass der 
Ursprung des sozialen Lebens bei den Insekten ein ganz 
ähnlicher gewesen sein muss! 

Auf ein phylogenetisch früheres Stadium scheint bei den Hummeln 
auch die erste Anlage des Nestes durch das Weibchen hinzuweisen. 
Dieses errichtet nämlich anfangs ein Häufchen aus Blütenpollen 
und Honig, in welches das erste Ei abgelegt wird. Dies ist der 
Entwickelungsgrad, den wir bei den primitivsten solitären Bienen 
antreffen, und der erst von dem Hummelweibchen noch einmal 
kurz durchmessen werden muss, ehe es mit dem Bau von Zellen 
beginnt. 

Auch die Weibchen der Ameisen, deren Staatenleben meist viel 
höher entwickelt ıst, leben anfangs als solitäre Insekten. Nachdem 
sie nach dem Hochzeitsflug zu Boden gesunken sind und ihre Flügel 
verloren haben, legen sie ın Erde oder Holz eine einfache, allseitig 
abgeschlossene Kammer an, die sicherlich insofern auf eine phylo- 
genetisch weit zurückliegende Zeit hindeutet, als das Urameisennest 
jedenfalls in einer ähnlichen, roh gearbeiteten Höhlung bestanden 
haben wird. Auch bei jungen Kolonien, die noch wenige Einwohner 
besitzen, ıst die Nestanlage die denkbar einfachste. Die Bauten 
weisen noch in allem den Typus derjenigen der primitivsten Arten auf 
und lassen noch nichts von jener kunstvollen Architektonik ahnen, 
welche sie später auszeichnet. Überhaupt kann man in der Ent- 
wickelung eines einzelnen Ameisen- sowie auch Termitenstaates ın 
dieser Hinsicht noch deutlich die verschiedensten Stufen der Phylo- 
genie erkennen. Doch ich kann auf dieses Thema hier nicht weiter 
eingehen, da es allein Stoff genug zu einer besonderen Abhandlung 
bietet. 

Es lässt sich indessen auch hinsichtlich der Insekten- 
staaten der Satz aufstellen, dass die Wiederholung ver- 
gangener Entwickelungsphasen einerseits desto genauer 
ist, je mehr sich dieselben dem gegenwärtigen Zustand 
nähern, während es andererseits desto abgekürzter ist, 
je weiter sie im phylogenetischen Stammbaum zurück- 
liegen. 

Dies findet sich durch alle biologischen Tatsachen bestätigt. 
So spiegelt die Ontogenie der hoch organisierten Staaten die Phylo- 
genie oft nur noch undeutlich und in mancher Beziehung modifiziert 
wieder. Dies zeigt sich auch darin, dass das Ameisenweibchen den 
einmal aufgesuchten Schlupfwinkel nie wieder verlässt, sondern von 
den in seinem Körper aufgespeicherten Fettmassen zehrt, sowie den 
größten Teil seiner eigenen Eier als Nahrung für sich selbst als 
auch für die Brut verwendet. Diese Lebensweise hat sich sicher- 
lich erst später herausgebildet und es dürfte früher jedenfalls üb- 


v. Natzmer, Das biogenetische Grundgesetz im: Leben der Insektenstaaten. 55 


lich gewesen sein, dass auch das Weibchen während seines solitären 
Daseins auf Nahrungssuche ausging. Hochinteressant würden Be- 
obachtungen sein, wie sich die primitivsten Ameisen, so z. B. die 
Ponerinen oder ZLeptothorax in dieser Hinsicht verhalten, worüber 
meines Wissens noch keine Berichte vorliegen. Ähnliche Instinkts- 
änderungen, die sich im Lauf der phylogenetischen Entwickelung 
vollzogen haben, habe ich bei Ameisenweibehen beobachtet. Die 
Weibchen vieler in höher entwickelten Staaten lebender Arten 
kümmern sich nämlieh nach meinen Wahrnehmungen schon nicht 
mehr ım geringsten um Wohl und Wehe der Brut, wenn erst 
ganz wenige Arbeiterinnen erschienen sind, während sich bei- 
spielsweise die Weibchen von Leptothorax auch dann, wenn Ihre 
Kolonien verhältnismäßig hoch entwickelt sind, wie gewöhn- 
liche Arbeiterinnen an allen Beschäftigungen beteiligen. Diese all- 
mähliche Differenzierung der Instinkte und die mit ihr parallel 
laufende Arbeitsteilung hängt aufs allerengste mit denjenigen Organı- 
sationsveränderungen der Einzelindividuen zusammen, die durch 
das staatliche Leben direkt bedingt worden sind und die demgemäß 
in den unentwickeltsten Staaten am wenigsten ausgebildet sind. 
Dies habe ich bereits an anderer Stelle zum Gegenstand einer be- 
sonderen Abhandlung gemacht, auf die ıch deshalb verweise). 
Ebenso ist selbstverständlich die Art der Koloniegründung bei 
den dulotischen und parasitischen Ameisen nicht die ursprüngliche, 
sondern sie ist erst später, verursacht durch besondere Umstände, ent- 
standen. Dies gilt vor allem auch für den Bienenstaat, der bekannt- 
lich nicht durch ein Weibchen allein gegründet wird, sondern der 
durch Spaltung eines Volkes in zwei Teile mit je einer Königin 
an der Spitze entsteht. Es bedarf kaum der Erwähnung, dass dieser 
Modus nicht den ersten Anfängen des Staatenlebens bei den Vor- 
fahren von Apis mellifica entsprechen kann. Fast scheint es also, 
als ob das biogenetische Grundgesetz hier in willkürlicher Weise 
in der Ontogenie des einzelnen Staates außer Kraft getreten wäre. 
Doch diese auffällige Abweichung liegt, wie ich gleich zeigen werde, 
in anderen Lebensgewohnheiten der Vorfahren von Apis mellifica, 
die mit der phylogenetischen Entwickelung an sich nicht ım ge- 
rıngsten Zusammenhang stehen, ursächlich begründet. Das Schwärmen 
dürfte sich nämlich, wie auch H. v. Buttel-Reepen annimmt, 
aus dem Wanderinstinkt entwickelt haben, der sich beı zahlreichen 
Bienen der wärmeren Erdteile vorfindet. Bei diesen Arten zieht, sobald 
der alte Wohnsitz den Bienen aus irgendeinem Grunde nicht mehr be- 
hagt, das ganze Volk ab, um sich wo anders anzusiedeln. In den 
Nestern dieser Bienen, die biologisch als die Vorläufer von Apis 


3) G. v. Natzmer. Die Entwickelung der sozialen Instinkte bei den staaten- 
bildenden Insekten. In: Die Naturwissenschaften. Jahrg. II, Nr. 53 (1914). 


XXXV. 3 


34  v. Natzmer, Das biogenetische Grundgesetz im Leben der Insektenstaaten. 


mellifica zu betrachten sınd, leben nun fast stets mehrere Weibchen 
friedlich nebeneinander. Aus dem Wanderinstinkt dürfte nun 
die Gewohnheit entstanden sein, dass bei zu großer Bevölkerungs- 
zahl, wenn Nahrung und Raum knapp wurden, nicht das ganze 
Volk, sondern nur ein Teil desselben mit einem der Weibchen ab- 
z0g. Dieser Koloniegründungsmodus war sicherlich im Kampf ums 
Dasein gegenüber der Gründung durch ein einzelnes Weibchen von 
ungeheurem Vorteil und wird deshalb, einmal entstanden, allmählich 
vorherrschend geworden sein. Da sich nun in der Natur nur das 
Nützliche erhält und totes Kapıtal zugunsten anderer Zwecke aufge- 
zehrt wird, so mussten die Weibchen im Lauf der Zeit all jene Fähig- 
keiten verlieren, die ihnen ehemals zur Gründung einer Kolonie 
nötig waren. Da sie hiermit aber auch unfähig wurden, sich selbst und 
ihre Brut am Leben zu erhalten, so musste die einstige bloße Gewohn- 
heit, die Gründung einer neuen Kolonie durch Spaltung vor sich 
gehen zu lassen, zur Notwendigkeit werden. Die Sachlage ıst also 
die, dass die Staaten von Apis mellifica heutigen Tages in 
Wahrheit überhaupt nicht mehr im eigentlichen Sinne des 
Wortes neu gegründet werden, sondern dass sie ıhr Da- 
sein bereits auf einer hohen Entwickelungsstufe begin- 
nen. Aus diesem Grunde ist es auch nıcht möglich, dass 
diese Staaten eine eigentliche ontogenetische Entwicke- 
lung durchmachen. Betrachten wir die Insektenstaaten als ein- 
heitliche Organısmen höherer Ordnung, so drängt sich bei der ver- 
schiedenen Art der Koloniegründung unwillkürlich der Vergleich mit 
der geschlechtlichen und der ungeschlechtlichen Vermehrung der 
Schwämme und der Korallpolypen auf. Während bei der ersteren 
die Flimmerlarven ein phylogenetisch vergangenes Stadium ver- 
körpern, befinden sich die Individuen bei der letzteren, die durch 
Knospung vor sich geht, bereits von Anfang an in einem relatıv 
fertigen Zustand. Die Verhältnisse liegen also ganz ähnlich wie 
bei der Gründung eines Insektenstaates durch ein einzelnes Weib- 
chen einerseits und bei der Spaltung einer Kolonie andererseits. 
Nicht unerwähnt will ıch lassen, dass das Schwärmen bei Apes 
mellifica durchaus nicht gänzlich vereinzelt dasteht und nicht völlig 
unvermittelt auftritt, sondern dass sich im Gegenteil eine allmäh- 
liche Entwickelung dieser Lebensgewohnheit erkennen lässt, die 
biologisch von den Meliponinen und Trigonen über manche indische 
Apis-Arten bis zu unserer Honigbiene fortschreitet‘). Bemerkens- 
wert ist die Tatsache, dass sich das Schwärmen völlig selbständig 
auch bei manchen brasilianischen Wespen und Hummeln entwickelt 


4) Interessant wären Untersuchungen darüber, inwieweit sich parallel mit der 
Entwickelung des Schwärmens jene Fähigkeiten zurückbilden, die es dem Weibchen 
ermöglichen, selbständig Kolonien zu gründen. 


y7 


v. Natzmer, Das biogenetische Grundgesetz im Leben der Insektenstaaten. 35 


hat. Die Teilung einer Kolonie in mehrere Zweignester, die bei 
manchen Ameisenarten, besonders bei Formica rufa, vorkommt, ist 
auch ein ganz ähnlicher Vorgang. Das Weibchen der eben ge- 
nannten Ameise scheint übrigens nach E. Wasmann auf dem besten 
Wege zu sein, die Fähigkeit, selbständig Kolonien zu gründen, 
ebenfalls einzubüßen. 

Ist innerhalb des Staates von Apis mellifica die phylogene- 
tische Entwickelung nicht mehr deutlich erkennbar, so bietet 
die ÖOntogenie des Termitenstaates für die Phylogenie desselben 
wertvolle Aufschlüsse. Nach übereinstimmenden Berichten ver- 
schiedener Forscher beginnt bei den Termiten nicht das Weibchen 
allein mit der Nestgründung, während das Männchen wie bei den 
anderen staatenbildenden Insekten nach der Begattung zugrunde 
geht, sondern beide Geschlechter gehen hierbei gemeinschaftlich 
ans Werk. So legen nach G. Jakobsen bei Hodotermes turkestanicus 
Männchen und Weibchen zusammen den ersten Schlupfwinkel an, 
während nach Beobachtungen von C. Tollin an anderen Arten das 
Männchen sogar allein mit dem Nestbau beginnt. Fest steht auch 
die Tatsache, dass dem Termitenmännchen anfangs ein Hauptanteil 
an der Brutpflege zufällt! Nun hat aber auch bei den Termiten 
die männlich Kaste einen weiteren Ausbau erfahren, der mit dem 
sozialen Leben im engsten Zusammenhange steht. So setzen sich 
die Arbeiter und Soldaten sowohl aus Angehörigen des männlichen 
als auch des weiblichen Formenkreises zusammen. In dieser Hin- 
sicht unterscheidet sich denn auch der Termitenstaat grundlegend 
von allen anderen Staatengebilden im Insektenreich, denen er sonst 
in seiner Organisation so überraschend ähnlich ist’). Dies veran- 
lasste mich bereits früher, in einer anderen Arbeit den Satz aufzu- 
stellen, dass schon in den ersten Urstadien des gesellschaftlichen 
Lebens bei den Termiten die Männchen im Gegensatz zu den anderen 
‚staatenbildenden Insekten an der Brutpflege u. s. w. Anteil ge- 
nommen haben müssen. Da nun die Entwickelung jedes 
Staates die ganze Phylogenie noch einmal kurz durch- 
läuft, so erfährt diese bisher allein durch theoretische 
Erwägungen gestützte Annahme durch die oben mitge- 
teilten Einzelheiten aus der Koloniegründung bei den 
Termiten eine schlagende Bestätigung. 

So trägt auch beim Studium der Lebenserscheinungen der In- 
sektenstaaten die Heranziehung des biogenetischen Grundgesetzes 
zur Lösung manches entwickelungsgeschichtlichen Problems bei oder 
bringt sie wenigstens derselben näher. 


5) In einer Arbeit, die demnächst in der „Zeitschrift für wissenschaftliche In- 
sektenbiologie“ erscheinen wird, habe ich es unternommen, Konvergenzen in der 
Lebensweise, die zwischen Termiten und Ameisen bestehen, auf natürliche Weise zu 
erklären. 


36 Polimanti, Sul Reotropismo nelle Larve dei Batraci (Bufo e Rana). 


Wenn auch mittels der hier angewandten Betrach- 
tungsweise nichts über die Ursachen der Entwickelung 
selbst ausgesagt werden kann, so ıst sie doch deshalb für 
die Forschung von bedeutendem Wert, weil sie gestattet, 
auch die kompliziertesten Erscheinungen des sozialen 
Lebens bei den Insekten auf eine phyletisch einfache 
Wurzel zurückzuführen‘). 


Sul Reotropismo nelle Larve dei Batraci (Bufo e Rana). 
Per Osv. Polimanti. 
(Dall’ Istituto di Fisiologia dell’ Universitä di Perugia.) 

Da molti annı, percorrendo nella primavera la campagna romana, 
osservando stagnı e canalı dı scolo, dı maggiore 0 minore portata 
dı acqua, la mıa attenzione fu richiamata da un fenomeno carat- 
teristico che presentavano larve dı Bufo e Rana. Neglı stagnı, 
ossıa ad acqua completamente ferma, queste larve erano situate 
nelle piü svariate direzioni e cambiavano dı posto con molta fre- 
quenza. Mentre invece nei canali, dove l’acqua scorre sempre in 
una determinata direzione, queste larve giacciono immobili, quası 
costantemente sul fondo del canale colla superficie ventrale, sempre 
tenendo l’estremo cefalico verso la direzione della corrente. Un 
fatto caratteristico, che ho notato anche, sı & che si ritrovano quası 
costantemente nel filo d’acqua, dove la corrente @ minore (ai latı 
del canale e non nel centro) e specialmente poı dove & minore la 
profonditä di questa. Osservate queste larve nelle diverse ore della 
giornata, sı riscontra che varı sono ı movimenti che compiono e 
sempre di breve durata e sempre vengono eseguiti contro corrente. 
Talvolta, quando questa & molto forte, vengono travolte le giovanı 
larve, perö vanno quası subito a posarsi in una zona morta della 
corrente acquea, dove sı mettono sempre in direzione cefalica contro 
la corrente. Nei canalı, dove la corrente € molto forte, e quindı 
le larve non possono adagiarsı sul fondo, non sı trovano mai 0 
almeno molto raramente. Forse quelle rare larve che vi sı ritro- 
vano risalgono qui dai canali, dove la corrente & molto minore. 
Un fatto costante da me osservato & difatti questo, che cıioe & 
maggiore il numero delle larve dı Bufo e Rana nei canalı, ove la 


6) Die eigentlichen Ursachen der Entwickelung der Insektenstaaten, die sich 
völlig unabhängig voneinander überall im Prinzip ganz gleicher Weise vollzogen 
hat, habe ich in einer ausführlichen Abhandlung zu erfassen versucht. Siehe: 
G. v. Natzmer, Die Insektenstaaten. Grundriss zu einer natürlichen Erklärung 
ihrer Entwickelung und ihres Wesens. In: Entomolog. Zeitschr. Frankfurt a. M., 
Jahrg. XXVII, Nr. 34 u. s. w. (1913). Diese Arbeit kann jedoch nur als ein aller- 
erster Grundriss gelten. Gegenwärtig bin ich mit einer umfassenden Zusammen- 
stellung und gründlichen Ausarbeitung meiner Anschauungen beschäftigt. 


J 


Polimanti, Sul Reotropismo nelle Larve dei Batraci (bufo e kana). 3 


corrente dell’ acqua & minore, rispetto a quelli, dove questa & molto 
piü forte. Volendo darsi una spiegazione di questo fenomeno, si 
pensa subito che & una manifestazione di „Reotropismo* 

Össervazioni analoghe ed una spiegazıone simile avevano avan- 
zato appunto per le larve dı Batracı, ın queste determinate con- 
dizion, Camerano!) e Dewitz?), perö sıa l!’ uno che l’altro autore 
non erano penetrati nell’intimo del fenomeno per poterne dare una 
spiegazione plausibille. Camerano aveva inoltre notato che larve 
dı Rana muta, nei corsı d’acqua delle Alpı ıtaliane, hanno un’ appen- 
dice caudale molto piü lunga dı quelle di pianura, appunto perche 
le prime debbono sopportare, per risalıre la corrente, una maggiore 
resistenza, data dalla maggiore velocitä dell’acqua e quindi deb- 
bono essere dotate dı un organo caudale locomotore molto piü 
valido. 

Come bene sappiamo, il fenomeno del reotropismo € molto 
comune in natura, sia nel regno vegetale che ın quello anımale?°). 
Perö, questa Sram dı reotropismo, che sı osserva in queste larve 
di Batraci, & tutta speciale ed ha le sue caratteristiche particoları. 
Abbıamo visto innanzı tutto, come queste larve dı Bufo e dı Rana 
rımangono coll’ estremo cefalico nella direzione opposta alla cor- 
rente, ma si ritrovano solamente nei corsi d’acqua non molto rapıdi 
e poi rimangono quasi costantemente poggiate sul fondo colla 
superficie ventrale, dove rımangono immobili quası tutta la giornata. 
Dunque & questa una forma di reotropismo, differente ad esempio 
da quella che sı osserva nei pescı*), che risalgono delle correnti 
anche molto forti, sempre stando in quası continuo movimento. 
Anche mettendo queste larve in un bicchiere pieno di acqua e 
poı agitando in un determinato senso, si dispongono con |’ estremo 
cefalico contro corrente, solo quando questa non & molto forte, 
altrimenti sı lasciano trasportare passivamente. Dunque, perch& sı 
abbıano fenomeni di reotropismo in larve dı Bufo e di Rana, 
occorre che la corrente acquea, dove queste sı trovano, sia di 
modica veloecitä. 

Il rimanere poı dı queste larve, quası costantemente adagıate 
sul fondo, cı porta a ritenere che, affinche questa forma di reotro- 
pismo abbia luogo, occorre ıl contatto con una superficie solida. 





1) L. Camerano. Bollettino del Museo di Zoologia e Anatomia Comparata 
Torino 1893, vol. VIII. Atti della R. Academia di Torino classe ricerche fisiche 
1890—91, vol. XXVI. 

2) J. Dewitz. Über den Rheotropismus bei Tieren. Arch. f. Anat. u. Physiol. 
(physiologische Abteilung). Suppl.-Band 1889, p. 231—244. 

3) J. Loeb. Die Tropismen in Handb. d. vergl. Physiologie von H. Winter- 
stein. Jena, Fischer, 1912. Bd. IV, p. 451-519. 

4) Lyon, E. P. On Rheotropism. I. Amer. Journ. Physiol., vol. 12, 1904, 
p- 149. — Ders. Rheotropism in fishes. Biol. Bull., vol. 8, 1905, p. 253. — 
Ders. On Rheotropism. II. Amer. Journ. Physiol., vol. 24, 1907, p. 244. 


38 Polimanti, Sul Reotropismo nelle Larve dei Batraci (bufo e Rana). 


Un riscontro dı questo reotropismo & stato visto da Parker?) ın 
Amphioxus, da Lyon in pesci accecatı e da Jennings‘) in Para- 
maecium. $ı tratta in fondo dı una forma dı „Reotropismo 
negativo.“ 

Rimane ora dı rendersi conto del „siguificato biologico dı tale 
forma di reotropismo“ ın queste larve dı batracı. Uno sguardo 
alle osservazioni di fisiologia comparata, compiute sopra questo 
argomento, cı convince subito che in questo modo !’ alımentazione 
delle larve viene ad essere dı molto facılıtata. I detriti vege- 
talı ed animalı, larve di insetti, ecc., trasportatı dalla corrente 
acquea, penetrano nell’ orificio boccale dı queste larve. Ognuno 
quindi vede in questa speciale posizione reotropica un fattore della 
pıü alta importanza, anzı ıl principale per la ricerca del nutrı- 
mento. Q@uesta mia idea trova una conferma in osservazioni com- 
piute ın altrı ordini dı anımalı, sıa viventi, come anche fossilı. 
Lo Bianco’) ha osservato, ed anch’ io ho potuto constatare, che 
moltissimi polipı idroidi del golfo dı Napoli, ad esempio Coryden- 
drium, Eudendrium, Gemmaria, Tubularia, ecce. stanno coı loro 
sıfonı rivolti sempre contro le onde marine, apportatricı appunto 
del nutrimento. Il caratteristico poi si & che perdono gli ıidranti e 
cadono ın stato dı vita latente nella stagione ınvernale, quando le 
onde marine sono molto violente e quindı non potrebbero ricavare 
anche nutrimento alcuno da queste, perche glı organısmi microscopici 
che a cıö dovrebbero servire, data la violenza della corrente marina, 
non potrebbero soffermarsi sulle bocche dı questi individui, le 
quali dı conseguenza debbono rimanere costantemente chiuse. 

Non meno interessantı sono le osservazionı che sono state fatte 
a questo proposito sopra glı anımalı fossilı. 

Weissermehl®°) ha vısto che ı corallı fossılı sono rivolti tuttı 
coı loro tentacoli verso quel punto, da dove viene ıl nutrimento; 
da qui anche lo speciale incurvamento che spesso presentano. Nel 
caso la corrente marina fosse venuta da piü partı, allora ıl tronco 
del corallo rimaneva piü 0 meno verticale. Questa ipotesi era stata 
gia avanzata da Jäkel”) per i crinoidi fossil, come anche, molto 
prima di questi autori, Semper!®) riteneva che lo sviluppo e 

5) Parker, G. H. The sensory reactions of Amphioxus. Proc. American 
Academy of arts and sciences, vol. 43, 1903, p. 415—455. 

6) Jennings, H. S. Contributions to the study of the behavior of lower 
organism. Carnegie Institution of Washington. Publ. Nr. 16, 1904, 256 pp., 
81 figs. — Ders. Behavior of the lower organisms. New York 1906. 

7) S. Lo Bianco. Notizie biologiche riguardanti specialmente il periodo di 
maturitä sessuale degli animali del golfo di Napoli Mitteilung a. d. Zoolog. Station 
zu Neapel, 19. Bd., 1909, p. 513—763. P 

8) W. Weissermehl. Zeitschr. d. deutsch. geolog. Gesellsch., 1897, Bd. 49, 
S. 865. 

9) Jäkel. Zeitschr. d. deutsch. geolog. Gesellsch., 1891, Bd. 43, S. 595. 

10) Semper. Die natürlichen Existenzbedingungen der Tiere. 1880, Bd. II, S. 65. 


Kranichfeld, Zum Farbensinn der Bienen. 3,5) 


l’aumento dei banchi di corallo fosse sotto la diretta influenza del- 
l’azione delle onde marine; da qui la formazione delle roccie e@ 
delle isole, una teoria questa, contraria a quella emessa da Darwin, 
Una tale ipotesi, eio6 che il reotropismo negativo di larve dı Rana 
e di Bufo sia in diretta dipendenza dell’ alimentazione di queste, 
trova anche una completa conforma nel suecessivo sviluppo di 
queste. Appena difatti cominciano a comparire gli arti posteriorı, 
ma specialmente poi, quando i quattro arti sono completamente 
sviluppati, ossia quando i movimenti di traslazione vengono ad 
essere molto piü facilitati, di quando esiste solamente una coda, ıl 
reotropismo va man mano scomparendo. Dunque, rendendosi 
sempre piü completi e perfetti i movimenti di locomozione, anche 
la ricerca del nutrimento risulta molto prü facilitata ed ıl fenomeno 
del Reotropismo diviene biologicamente inutile. 


Zum Farbensinn der Bienen. 
Beobachtungen in der freien Natur. 
Von Hermann Kranichfeld, Konsistorialpräsident a.D. 


Das Problem des Farbensinns der Bienen kann noch nicht als 
gelöst angesehen werden. Während die Versuche von Lubbock, 
Forel, H. Müller, von Buttel-Reepen, von Dobkiewiez, 
Frisch u. a. für die Farbentüchtigkeit der Bienen zu sprechen 
scheinen, haben Plateau, Bethe und Heß gleichfalls auf Grund 
von Experimenten das Gegenteil behauptet, und es ist noch nicht 
gelungen, die Widersprüche auszugleichen. In einem Punkte ist 
man sıch allerdings näher gekommen. Die neuesten Untersuchungen, 
welche von Heß und Frisch ausgeführt wurden, haben überein- 
stimmend festgestellt, dass die Bienen das Rot nicht sehen können 
und-infolgedessen Rot mit Schwarz, Purpurrot mit Blau und Vio- 
lett, Orange mit Gelb verwechseln. Während sich aber nach Heß 
die Bienen auch gegenüber den anderen Farben wie total farben- 
blinde Menschen verhalten und nur Helligkeits werte unterscheiden 
können, sollen sie nach Frisch noch Gelb und Blau wahrnehmen 
und Farbenwerte in dem gleichen Umfang wie Rotblinde er- 
kennen. 

Bei biologischen Experimenten lässt sich die betreffende Teil- 
erscheinung niemals vollständig isolieren und es bekommt daher 
der Forscher auch die einzelnen Faktoren nicht so sicher wie beim 
physikalischen und chemischen Experiment in die Hand. Daraus 
erklärt sich in unserem Falle zum Teil die Unsicherheit der Re- 
sultate. Da diese Unzulänglichkeit der experimentellen biologischen 
Untersuchung konstitutionell ist und sich nicht beseitigen lässt, 
empfiehlt es sich, letztere durch die Beobachtung im Freien zu er- 
gänzen. Bei ihr verzichtet man von vornherein auf Isolierung der Teil- 


40 Kranichfeld, Zum Farbensinn der Bienen. 


erscheinung. Indem man aber die Verhältnisse in der Komplikation, 
wie sie die Wirklichkeit bietet, beobachtet!), kann man die Bedeu- 
tung, welche das einzelne Isolationselement für das ganze zusammen- 
gesetzte Erscheinungsgebiet besitzt, erkennen und daraus hück- 
schlüsse auf die Beschaffenheit des Isolationselementes selbst ab- 
leiten. 

Die Beobachtung der Bienen im Freien ist allerdings mit ge- 
wissen Schwierigkeiten verbunden. Bei meinen Schweizerreisen 
hatte ich bemerkt, dass die Bienen mit besonderer Vorliebe die in 
den Voralpen häufige, hinsichtlich der Farbe unscheinbare Kohl- 
distel (Oirsöum oleraceum) aufsuchen. Ich hatte mir vorgenommen, 
diese auffallende Erscheinung zu verfolgen, fand aber in den nächsten 
Jahren keine Gelegenheit dazu, da an den Orten, welche ich be- 
suchte, entweder der Reichtum der Flora bezw. der Bienenstände 
zu gering oder die Beobachtung durch äußere Umstände zu sehr 
erschwert war. Außerordentlich günstig lagen dagegen die Ver- 
hältnisse im Kanton Appenzell, wo ich mich im Sommer 1912 auf- 
hielt. Auf den Wiesen und Almen zwischen Weißbad und Steinegg 
fand ich nicht nur eine große Mannigfaltigkeit blühender Pflanzen, 
die fast immer von Bienen besucht waren, man konnte hier auch, 
da alle Wiesen von Fußwegen gekreuzt werden, leicht Beobach- 
tungen anstellen. Besonders günstig war der Umstand, dass aul 
den 2-3 m breiten Rainen zwischen den Grundstücken und an 
den Wegen das Gras vielfach noch längere Zeit stehen blieb, nach- 
dem die Wiesen bereits gemäht waren. Die Bienen waren in diesem 
Falle mit ihrem Flug auf die Raine beschränkt und konnten oft 
während der ganzen Dauer desselben bequem verfolgt werden. 

Ich habe meine Beobachtungen in der Zeit zwischen dem 22. 
und 31. Juli während der Morgenstunden 10—12 Uhr gemacht und 
dabei mein Augenmerk vor allem auf zwei Punkte gerichtet: Ob 
1. bei der Wahl der zuerst beflogenen Blüten sich eine Vorliebe 
für eine bestimmte Farbe geltend macht und 2. ob bei der sogen. 
Konstanz, d.h. der während eines Ausfluges beobachteten Beständig- 
keit hinsichtlich der einmal gewählten Blüte die Farbe derselben 
als Erkennungszeichen dient. 

Das Resultat war in betreff des ersten Punktes eindeutig ein 
negatives. Wenn sich auch bei den Bienen bei der experimen- 
tellen Untersuchung eine Vorliebe für eine bestimmte Farbe oder 
für sanftere Farben (blau, violett) überhaupt herausstellen sollte 
(H. Müller), so trat sie doch jedenfalls bei der Wahl der Blüten 
nicht hervor. 


1) Die Beobachtung im botanischen Garten (Plateau) entspricht dem nicht, 
da hier nicht die bunte, wechselnde Mannigfaltigkeit wie im Freien herrscht. 


Kranichfeld, Zum Farbensinn. der Bienen. 


Hn 


Beobachtungen. 
Am 22. Juli 1912. Heller Sonnenschein. 


1. Rain mit Blüten von Cirsium oleraceum (gelblichweiß), La- 
thyrus pratensis (gelb), Trifokum pratense (rot), Trifohum repens 
(weiß), Crepis (gelb), Heracleum sphondylium (weiß), Campanula 
rotundifolia (blau), Tragopogon pratensis (gelb), Chrysanthemum Leu- 
canthemum (weiß), Vieia eracca (violett), Rhinanthus major (gelb). 

9 Bienen auf Cirsium oleraceum; auf einem Köpfchen gleich- 
zeitig 3. Die Bienen bleiben, soweit man das Feld übersehen kann, 
während der Beobachtungszeit dem Oöirsium oleraceum treu, doch 
lässt sich 1 Biene auf einen Moment auf Lathyrus pratensis nieder; 
1 Biene fliegt suchend von Blüte zu Blüte (Lathyrus pratensis, Tri- 
folium repens, Chrysanthemum Leucanthemum u. s.w.). Am Schlusse 
der Beobachtungszeit sind noch 8 Bienen auf dem Rain. 

2. Rain mit ähnlichem Blütenstand wie 1. 

3 Bienen auf Cörsium oleraceum, die während der Beobachtungs- 
zeit dem Cirs. olerae. treu bleiben; die anderen Blüten von Bienen 
nicht besetzt. 

Am 24. Juli 1912. Heller Sonnenschein. 

3. Rain mit Blütenstand ähnlich wie 1.; doch ohne (irsium 
oleraceum, dagegen mit Centaurea phrygea (rot). 

Von Bienen nicht besucht ?). 

4. Rain mit ähnlichem Blütenstand wie 1.; doch ohne Crrsium 
oleraceum. 

Von Bienen nicht besucht?). 

5. Rain mit ähnlichem Blütenstand wie 1.; mit einzelnen Stauden 
von Ülrsium oleraceum. 

Von Bienen nicht besucht?). 

6. Rain mit ähnlichem Blütenstand wie 1.; doch ohne Cirstum 
oleraceum, dagegen mit zahlreichen Exemplaren von (entaurea 
phrygia (vot). 

4 Bienen auf Centaurea phrygia, die anderen Blüten von Bienen 
nicht besetzt’). Eine Biene auf Cent. phrygia 17 Minuten lang ver- 
folgt. Sıe zeigte vollkommene Konstanz. Auch am Schlusse der 
Beobachtungszeit nur Cent. phrygia von Bienen besucht. 

7. Wiese mit ähnlichem Blütenstand wie 1., außerdem Cent. 
phrygia (rot) und Cirsium palustre (vot). 

2 Bienen auf Cirsium oleraceum; die anderen Blüten von Bienen 
nicht besetzt®). Die Bienen auf ( oleraceum konstant. 


2) 2 Hummeln auf Centaurea phrygia und Trifolium pratense. 


3) 1 Hummel auf Rhinanthus major. 
4) 1 Hummel auf Rhinanthus major, 1 Hummel auf Cirsium oleraceum. 
5) 1 Hummel auf Centaurea phrygia. 
6) 1 Hummel auf Cirsium oleraceum. 





49 Kranichfeld, Zum Farbensinn der Bienen. 


8. Rain mit ähnlichem Blütenstand wıe 1., doch ohne Cirsium 
oleraceum”). 

1 Biene auf Trifolium repens (weiß); nur kurze Zeit verfolgt; 
konstant. 

9, Rain mit ähnlichem Blütenstand wie 1.; außerdem (irsium 
palustre (rot) und Knautia (blau). 

1 Biene auf Cirsium oleraceum; die anderen Blüten von Bienen 
nicht besetzt. Vollkommene Konstanz. | 

10. Gemähte Wiese mit zahlreichen weißen Blütendolden und 
Trifolium repens (weiß). 

1 Biene auf Trifolium repens. Konnte nicht verfolgt werden. 

11. Rain mit Centaurea phrygia (rot), Chrysanthemum Leucan- 
themum (weiß), Ranunculus (gelb), Crepis (gelb), wenig Trifoliwm 
pratense (rot), Plantago media (weiß-rötlich). 

2 Bienen auf Centaurea phrygia; 1 Biene auf Plantago media. 
1 Biene fliegt bisweilen, scheinbar von der Farbe getäuscht, von 
Centaurea phrygia auf Trifolium pratense zu, ohne sich auf dasselbe 
niederzulassen. 

25. Juli 1912. Heller Sonnenschein. 

12. Rain mit Blüten von (irsium oleraceum (gelblichweiß), 
Campanula rotundifolia (blau), Rhinanthus major (gelb), Hypericum 
perforatum (gelb), Spiraea ulmaria (weiß), Lotus corniculatus (gelb), 
Lathyrus pratensis (gelb), Prunella major (blau), Cirsium palustre 
(rot), Vicia eracca (violett), Heracleum sphondylium (weiß). 

2 Bienen auf Cirsium oleraceum, die anderen Blüten von Bienen 
nicht besetzt. Vollkommene Konstanz. 

13. Wiese mit Cirsium oleraceum (gelblichweiß). Trefokum 
pratense (rot), Cirsium palustre (rot), Gymmadenia conopsea (purpur- 
rot), Dinanthus superbus (vosarot), Oentaurea phrygia (rot). 

4 Bienen auf Cörsium oleraceum; die anderen Blüten von Bienen 
nicht besetzt°®). Vollkommene Konstanz, soweit Beobachtung mög- 
lich war. Natürlich konnten bei der größeren Anzahl von Bienen 
nur einzelne verfolgt werden. 


14. Wiese mit ähnlichem Blütenstand wie 13. 

Zahlreiche Bienen auf Cirsium oleraceum; einige auf Centaurea 
phrygia. Soweit Beobachtung möglich war, konstant. 

15. Wiese am Appenzeller Wasserreservoir. Cirsium oleraceum 
(gelblichweiß), COentaurea phrygia (vot), Knautia (blau), Trifolium 
incarnalum (purpur), Lathyrus pratensis (gelb), Vicia eracca (violett), 
Gymnadenia conopsea (purpurrot), Orchis maeculata (violett-weiß). 
7) und ohne (entaurea phrygia. 

5) 2 Hummeln auf Cirsium oleraceum, 1 Hummel auf Centaurea phrygia. 
Letztere fliegt in !/, Stunde etwa 300 Blüten an, lässt sich dabei nur dreimal auf 
Oirsium palustre nieder. An Üirsium oleraceum fliegt sie stets vorbei. 


ww 


Kranichfeld, Zum Farbensinn der Bienen. 4 


Die Stauden von Cirsium oleraceum stehen in 3 etwa 5 m von- 
einander entfernten Gruppen. 

Die Köpfchen von (irsium oleraceum sind von zahlreichen 
Bienen besetzt. Auf Centaurea phrygia nur 1 Biene’). Soweit Be- 
obachtung möglıch war, konstant. 


Am 26. Juli 1912. Heller Sonnenschein. 


16. Rain an einer Fichtenhecke. Nach der Hecke zu stehen: 
Cirsium oleraceum (gelblichweiß), Heracleum sphondylium (weiß), 
Galium mollugo (weiß), Spiraea ulmaria (weiß) (alle Stauden unge- 
fähr gleichhoch); auf dem Rain selbst: Trrfohum pratense (rot), 
Trifolium repens (weiß), Prunella grandiflora (blau), Lotus corni- 
culatus (gelb), Vieia eracca (violett), Rhinanthus major (gelb), Orepis 
(gelb), Hypericum perforatum (gelb), Centaurea phrygia (rot). 

5 Bienen auf Cirsium oleraceum, 3—4 Bienen auf Heracleum 
sphondylium, 1 Biene auf Centaurea phrygia. Eine Biene auf Heracı. 
sph. '/, Stunde lang verfolgt. Sie wechselt den Blütenstand etwa 
30mal, fliegt stets an (irsium oleraceum, Centaurea phrygia Vor- 
bei und bleibt dem Heracl. sph. treu. 1 Biene fliegt von Centaurea 
zu Prunella, Trifohum pratense, Trifolium repens etc. 

Am 31. Juli 1912. Heller Sonnenschein. 

17. Wiese mit Centaurea phrygia (rot), Hypericum perforatum 
(gelb), Tragopogon pratensis (gelb), Rhinanthus major (gelb); Lathyrus 
pratensis (gelb), Lotus corniculatus (gelb), Kuphrasia officinalis 
(weiß), Scabiosa columbaria (blau). Kein Cirsium oleraceum. 

2 Bienen auf Centaurea phrygia, 1 Biene auf Hypericum per- 
foratum'®). Letztere besucht in 3 Minuten etwa 40 Blüten, fliegt 
dabei nur einmal Tragopogon pratensis an. 

18. Sumpfwiese mit (irscum oleraceum (weiß-gelblich), Cörscum 
palustre (vot), Centaurea phrygia (rot), Lotus corniculatus (gelb), 
Trifolium pratense (vot), Gymmadenia conopsea (purpur), Kuphrasia 
offieinalis (weiß), Lathyrus pratensis (gelb), Parnassia palustris (weiß). 

Zahlreiche Bienen auf (irsium oleraceum, 1 Biene auf Cirsium 
palustre bezw. Centaurea phrygra. 

Mit Anfang August setzte Regenwetter ein, das meinen Beob- 
achtungen ein Ende machte'!). 


Resultate. 


Von den 18 beobachteten Feldern wurden 15 von Bienen be- 
sucht. 10 von diesen 15 Feldern enthielten Stauden von (irstum 


9) 1 Hummel auf Trifolium incarnatum; 10 Minuten lang beobachtet. Sie 
wechselt in dieser Zeit 39mal den Blütenstand, fliegt dreimal G@ymnadenia conopsea 
an, ohne sich jedoch auf der Blüte niederzulassen, einmal Trifolium pratense. 

10) 1 Hummel auf Centaurea phrygia, 1 Hummel auf Scabiosa. 

11) Nach der Regenperiode wurde Cirsium oleraceum im allgemeinen nicht 
mehr von Bienen und Hummeln beflogen. 


44 Kranichfeld, Zum Farbensinn der Bienen. 


oleraceum. In diesen 10 Feldern saßen die Bienen entweder aus- 
schließlich (in 5 Fällen) oder doch in ihrer Mehrzahl auf den Köpfen 
von Cirsium oleraceum. In 1 Fall wurde außer Cirsium oleraceum 
noch Lathyrus pratensis, ın 2 Fällen Centaurea phrygia, ın 1 Fall 
Oentaurea phrygia und Heracleum sphondylium, ın 1 Fall Oirsium 
palustre beflogen. 

In den Feldern, auf welchen es keine Stauden von (irsium 
oleraceum gab, waren in 

1 Felde Blüten von Centaurea phrygia; 


LE & „ Oentaurea phrygia und Plantago media; 
1 ARE 5 „  Oentaurea phrygia und Hypericum perforatum; 
2 Feldern „ „ Trifolium repens besetzt. 


Alle anderen Blüten wurden von Bienen nicht besucht. 

Die besuchten Blüten waren zum bei weitem größten Teile 
von unscheinbarer Farbe: 

Cirsium oleraceum, Trifolium repens, Heracleum sphondylıum, 
Plantago media: 

weiß in verschiedenen Abstufungen, 
Ventaurea phrygia und Cirsium palustre: 
rot, 

Hypericum perforatum, Lathyrus pratensıs: 

gelb. 

Auch bei der relativ noch am meisten besuchten Oentaurea 
phrygia war es offenbar nicht die Farbe, was anlockte. Bei der 
Wahl der Blüten scheint daher die Farbe nicht bestimmend zu sein. 

Ein anderes Resultat ergibt sich hinsichtlich der Frage, ob den 
Bienen bei der Konstanz die Farbe als Erkennungszeichen dient. 

Was zunächst die Konstanz selbst betrifft, so haben meine Be- 
obachtungen nur bestätigt, dass sie bei den Bienen einen relativ 
hohen Grad erreicht und stärker als bei den Hummeln ausgebildet 
ist. Dass beide fast durchweg dem einmal beflogenen Cirsium 
oleraceum treu bleiben, kann man allerdings kaum als Beweis für 
dieselbe ansehen, da die Blütenköpfe dieser Pflanze ihnen eine be- 
sondere Lieblingskost zu bieten scheinen. Die Biene bleibt aber auch 
dann bei der einmal erwählten Blüte, wenn diese nicht zu den bevor- 
zugten gehört. So konnte ich auf dem Rain Nr. 16 eine Biene 
auf Heracleum sphondylium ‘|, Stunde lang verfolgen. Sie wechselte 
während dieser Zeit 30mal den Blütenstand und flog dabei oft dicht 
an den mit anderen Bienen besetzten Stauden von Cirsium olera- 
ceum, sowie an Centaurea phrygia u.s. w. vorbei, ohne sich ım ge- 
ringsten beirren zu lassen. Die Konstanz der Hummeln ist wohl 
schwächer als die der Bienen, aber doch immer noch recht groß 
(gegen Plateau). Während !/, Stunde sah ich ım Feld Nr. 13 
eine Hummel etwa 300mal die Centaurea phrygia befliegen. Sie 
setzte sich in dieser Zeit zweimal auf Cörsium palustre, aber nie- 


Kranichfeld, Zum Farbensinn der Bienen. 45 
mals auf das von Hummeln sonst ebenfalls bevorzugte (irstum 
oleraceum. 

Welche Erkennungszeichen die Bienen und Hummeln beim 
Aufsuchen der gleichen Blüten leiten, würde man schwer feststellen 
können, wenn die Konstanz eine absolute wäre. Das ıst sıe aber 
nicht; auch nicht bei den Bienen. Wir haben bei ihnen sogar zwei 
verschiedene Fälle der Inkonstanz zu unterscheiden. Im ersten 
seltenen Fall scheint die Konstanz überhaupt zu fehlen. So flog 
in Feld Nr. 1 eine Biene suchend von Blüte zu Blüte (Zathyrus 
pratensis, Trifolium repens, Urysanthemum Leucanthemum ete.); ın 
Feld Nr. 16 fiog eine Biene von Centaurea phrygia zu Prunella 
grandiflora, Trifolium pratensis, Trifolium repens etc. Da alle Blüten 
ın großer Anzahl vertreten waren und die anderen Bienen auf der 
Oentaurea phrygia sich konstant zeigten, ıst hier die Annahme Pla- 
teau’s, dass die Bienen ın solchem Falle die Tracht mit der gleichen 
Blüte nicht vervollständigen könnten, nicht zulässig. Ich möchte 
vielmehr die Vermutung aussprechen, dass es sich um junge Bienen 
handelte, bei denen die Konstanz noch mangelhaft ausgebildet war. 
Für unsere Betrachtung ist nur der zweite Fall von Inkonstanz von 
Bedeutung, bei welchem die Bienen und Hummeln die Blütenart 
wechseln, weil ihre Kennzeichen sıe täuschen. Ich führe bei den 
wenigen hier ın Betracht kommenden Beobachtungen auch die 
Hummeln mit an, da dıe Anzahl der Fälle sonst zu klein wäre, um 
Schlüsse aus ihnen ziehen zu können. In Feld Nr. 11 (1) blieben 
die Bienen der Centaurea phrygia (rot) treu, flogen jedoch bisweilen 
auf Trifolium pratense zu (rot), ohne sich auf ıhm niederzulassen. 
In Feld Nr. 13 (2) flog, wie schon erwähnt, eine Hummel, die einige 
hundertmal der Centaurea phrygia (rot) treu geblieben war, zweimal 
auf Cirsium palustre; ın Feld Nr. 15(3) besuchte eine Hummel in 
10 Minuten 39mal Trifolium incarnatum (purpur), einmal Trifohium 
pratense (rot), dreimal näherte sie sich der Gymnadenia conopsea 
(purpurrot), ohne sich jedoch auf der Blüte niederzulassen; in Feld 
Nr. 17 (4) wechselte eine Biene in 3 Minuten 39mal den Blüten- 
stand (Hypericum perforatum (gelb)), und flog dabei einmal Trago- 
pogon pratensis (gelb) an; eine Hummel, welche ich 10 Minuten 
beobachtete, besuchte dort (5) in den Flügen 1—30 die Centaurea 
phrygia (rot), in den Flügen 31—41 nacheinander Lathyrus pra- 
tensis (gelb), Lotus corniculatus (gelb) und Trifolium pratense (vot); 
ın den Flügen 4253 wieder Centaurea phrygia (rot), in den Flügen 
54—59 abwechselnd Centaurea phrygia (rot) und Trifolium pratense 
(rot). Im Feld Nr. 14 (6) endlich flog eine Biene von (irsium olera- 
ceum auf Centaurea-Centaurea-Centaurea und kehrte dann wieder 
auf Cirsium oleraceum zurück. 

Es sind im ganzen nur sechs Beobachtungen, bei denen aber 
eine größere Anzahl von Fällen der Inkonstanz konstatiert werden 


46 Tschermak, Über Verfärbung von Hühnereiern durch Bastardierung ete. 


konnte. Die Beobachtungen 1—4 dürften ein Beweis dafür sein, 
dass sich Bienen und Hummeln durch die Farbe täuschen lassen. 
Die Bienen und Hummeln flogen von roten bezw. gelben Blüten 
einer Art auf rote bezw. gelbe einer anderen Art. Besonders inter- 
essant ist die Beobachtung (3) auf Feld Nr. 15. Die Hummel flog 
hier verschiedene Male dicht an die Gymnadenia conopsea heran. 
Da diese einen so intensiven Geruch hat, dass man auch einen ein- 
zelnen Stengel nicht im Zimmer behalten kann, muss man annehmen, 
dass die Hummeln sich entweder vom Geruch nicht leiten lassen 
oder dass ihr Geruchsinn nur auf Nektar eingestellt ist und andere 
(Gerüche nicht perzipiert. Bei den Beobachtungen 5—6 kommt die 
Farbe für die Inkonstanz gar nicht oder erst in zweiter Linie in 
Betracht. Das Resultat der zweiten Beobachtungsreihe ist daher 
nicht ganz eindeutig, doch dürfte sich auf diesem Wege bei einer 
größeren Anzahl von Einzelbeobachtungen der Wahrscheinlichkeits- 
beweis für die Farbentüchtigkeit der Bienen und Hummeln ver- 
stärken lassen. Die Beobachtungen stimmen mit den von Herrn 
Geheimrat K. v. Frisch in Freiburg vorgeführten Experimenten 
überein, wenn man annımmt, dass die Konstanz der Bienen mehrere 
Tage anhält und die Farbe auch dort als Erkennungszeichen 
diente. 


Über Verfärbung von Hühnereiern durch Bastardierung 
und über Nachdauer dieser Farbänderung. 
(Farbxenien und Färbungstelegonie.) 

Von A. v. Tschermak (Prag). 


Durc’'h systematische Bastardierungen zwischen Kanarienweibchen 
und Männchen verwandter Wildvogelarten (Fringilliden: Hänfling, 
Girlitz, Zeisig, Stiglitz, Gimpel) konnte ich vor einigen Jahren 
(1910) den ersten zuverlässigen Beweis dafür erbringen, dass auch 
ım Tierreiche sogen. Xenien vorkommen. Man versteht darunter 
Abänderungen, welche mütterliche Organe oder die Hüllen der Frucht 
(durch Bastardierung) in einer korrespondierenden, patroklinen d. h. 
durch den: Vatertypus bezeichneten Richtung erfahren. In den er- 
wähnten Versuchen betraf die patrokline Abänderung die Zeichnung 
der Eischale. Während nämlich ein Kanarienweibchen bei Befruch- 
tung durch ein art- und rassegleiches Männchen Eier legt mit un- 
scharfer hellbirauner Fleckung, welche an unbefruchteten Eiern nur 
angedeutet ist, oder nahezu fehlt, liefert dasselbe Individuum bei 
Befruchtung ‘durch ein Männchen der genannten fremden Arten 
Eier, die bestimmte schwarzbraune Abzeichen aufweisen. Diese 
Punkte, Doppselpunkte, Punktreihen, Kurzstriche, Kommata, Geißeln 
oder Fäden ?ihneln in hohem Maße der typischen Zeichnung der 
Reinzuchteier der betreffenden Wildvogelart, so dass daraufhin für 


Tschermak, Über Verfärbung von Hühnereiern durch Bastardierung ete. 47 


ein geübtes Auge geradezu die Bestimmung der an der Bastar- 
dierung beteiligten Vaterart möglich ist. Meine damalıge Fest- 
stellung nahm bereits ausdrücklich Bezug auf die älteren Angaben 
von W. von Nathusius (1867) und von Kutter (1877—1878), 
dass eine „gewöhnliche“ bei Reinzucht weißschalige Eier legende 
Haushenne (wahrscheinlich war die vielverbreitete Rasse Italiener 
Rebhuhn gemeint) nach Befruchtung mit einem Hahn der Cochin- 
chinarasse, welche bei Reinzucht braune Eier produziert, nunmehr 
gelbliche Eier legen soll. Diese etwas schwankende Abänderung 
soll schon wenige Tage nach Beginn der Bastardpaarung einsetzen 
und im Laufe des Verkehrs der Tiere zunehmen, ohne allerdings 
die typische Cochinchinafärbung zu erreichen. Diese älteren An- 
gaben sind in umgekehrtem Sinne — nämlich Aufhellung der braunen 
Reinzuchteifarbe von Plymouth Rock durch Bastardierung mit 
einem Hahn der typisch weißeiigen Rasse „Italiener oder Livor- 
neser Rebhuhnfarben“ — inzwischen von P. Holdefleiß (1911) er- 
härtet und erweitert worden. Hingegen ist in letzterer Zeit A. Wal- 
ther (1914) bei der Paarung von Thüringer Pausbäckchenhenne 
(bei Reinzucht weiße bis gelbliche, ja hellbraune Eifarbe) und Nackt- 
halshahn (rötlichbraune Eifarbe), Krüperhenne (weiß bis gelblich) 
x. Japanesenhahn (weiß bis gelblich, ja hellbraun), Millefleurhenne 
(braun bis hellbraun) X Pausbäckchenhahn (weiß bis gelblich, ja 
hellbraun) zu einem wesentlich negativen, höchstens ım Fall III 
angedeutet positiven Resultat bezüglich des Verhaltens der Eifarbe 
(durchaus negativ bezüglich der Größe bezw. des Gewichtes, der Form 
und des Glanzes) gelangt. Für dieses Ergebnis möchte ich einerseits die 
erhebliche, zum Teil von weiß bis hellbraun gehende Variabilität 
der Eipigmentproduktion bei den gerade gewählten Rassen und Indi- 
viduen verantwortlich machen, andererseits wohl auch einen be- 
sonderen Charakter der benützten Rassen, welcher sie gerade für 
solche Versuche ungeeignet macht (vgl. meine eigenen Erfahrungen 
unten!). 

Die Feststellung von ganz spezifischen Zeichnungsxenien führte 
mich dazu, beim Erklärungsversuche die Alternative aufzustellen: 
entweder spezifische Mitbestimmung der Pigmentierung der Ei- 
schale seitens des bastardierten Eidotters (intraovale Xenienreaktion) 
oder charakteristische, geradezu korrespondierende Umstimmung 
des mütterlichen Eischalenbildungsapparates durch irgendwelche 
Bestandteile des fremdartigen Samens (extraovale Xenienreaktion). 
— Die erstere Möglichkeit bezeichnete ich als zwar einfacher und 
leichter vorstellbar, die andere jedoch als keineswegs ausgeschlossen. 

Diese hier nur ganz kurz erwähnte Alternative, welche ich be- 
reits früher (1910— 1912) ausführlich behandelt habe, sei durch zweı 
schematische Figuren veranschaulicht. Denselben sei noch ein Dia- 
gramm über die älteste, heute jedoch überwundene Vorstellung hin- 


48 Tschermak, Uber Verfärbung von Hühnereiern durch Bastardierung ete. 


zugefügt, dass gewisse Spermabestandteile direkt — ohne Umweg 

über die befruchtete Eizelle — eine chemische Veränderung der 

Eihüllen bezw. der Eischale zu bewirken vermögen (Seidlitz 1869). 
Die drei Bilder bedürfen wohl keiner näheren Erklärung. 


1. EB Ill. 





KEI- 
l 
) U 
) 
| 
| 
l 
f 
A A 
Direkter Einfluss des Intraovale Xenienreaktion Extraovale Xenienreaktion 


Samens (Seidlitz 1869). (W. v. Nathusius 1879, (A. v. Tschermak 1910). 
P. Holdefleiß 1911). 


Schema der drei Möglichkeiten der Xenienreaktion: 
(Abkürzungen: #L —+ U=Eileiter und Uterus, Ov = Ovarium.) 


Eine Entscheidung in der oben erwähnten Alternative können 
einerseits Versuche von Imprägnation mit unfruchtbar, doch sonst 
nicht unwirksam gemachtem Samen bringen, andererseits Experi- 
mente über eventuelle Nachwirkung einer Farbenabänderung nach 
Aufgeben der Bastardzucht und Wiederherstellung der Reinzucht. 

Für eine solche, bisher allerdings nicht sichergestellte Nach- 
wirkung von Bastardierung an den Fruchthüllen oder gar an der 
Frucht selbst besteht bereits der Terminus „Telegonie“. Im spe- 
zıellen Falle hier handelt es sich um die Frage bloßer Hüllen- 
telegonie bezw. Eifarbentelegonie. Der eventuelle Nachweis 
eines solchen Vorganges würde für die oben an zweiter Stelle er- 
wähnte Vorstellung, also für einen extraovalen Ursprung der Fär- 
bungs- und Zeichnungsxenien des Vogeleies sprechen und damit 
zur Vorstellung führen, dass bei der Imprägnation irgendwelche Be- 
standteile des Samens zur Einwirkung auf den mütterlichen Eiı- 
schalenbildungsapparat gelangen und dessen Tätigkeitszustand mit- 
bestimmen, eventuell in spezifischer Weise verändern. In der 
Frage der Färbungstelegonie von Vogeleiern liegt bisher nur die 
ungefähre, nicht näher präzisierte und detaillierte Angabe von 


. 


Tschermak, Über Verfärbung von Hühnereiern durch Bastardierung ete. 49 


Kutter (1878) vor, dass nach Bastardierung einer weißeiigen 
Henne mit einem Cochinchinahahn die gelbliche Verfärbung der 
Eier auch nach Wiederherstellung von Reinzucht abnehmend nach- 
dauere; noch nach Monaten soll hie und da ein gefärbtes Ei ge- 
legt werden. 

Von den bezeichneten Gesichtspunkten aus habe ich seit 1912 
umfangreiche Versuche über Verfärbung von Hühnereiern durch 
Bastardierung und über Nachdauer dieser Farbenänderung durch- 
geführt!). Zur prinzipiellen Sicherstellung von Xenien ist zwar das 
Auftreten von charakteristischen Zeichnungen, wie sie an den 
bastardierten Kanarieneiern beobachtet wurden, weit beweiskräftiger 
als das Auftreten oder Verschwinden von diffuser Färbung, welche 
beispielsweise Seidlitz (1869), allerdings mit Unrecht, auf eine 
einfache chemische Reaktion des fremdartigen Samens mit dem 
Sekret der Uterindrüsen bezog; für die Frage der Nachwirkung ist 
jedoch das Verhalten der diffusen Eifarbe an dem weit bequemeren 
Hühnermaterial ohne Einwand brauchbar. Zudem wurden Studien 
über die Vererbungsweise einzelner Merkmale an den gewonnenen 
Rassenbastarden ausgeführt und gleichzeitig mancher Fingerzeig für 
die züchterische Praxis gewonnen. Über diese Ergebnisse wird 
jedoch bei anderer ee berichtet werden. 

In meinen Versuchen kamen folgende Rassen zur Verwendung, 
welche gleich in jener Reihenfolge nebeneinander gestellt seien, 
nach welcher während bestimmter Fristen Bastardzucht in beiderlei 
Verbindungsweise durchgeführt wurde. 


Tabellarısche Übersicht der verwendeten Rassen: 


weißeilg brauneiig 
Italiener Weiß Langshan 
Italiener Rebhuhnfarben Plymouth Rock 
Minorka weiß („alte“ Spezialform) Cochinchina 


Die verwendeten Tiere waren von renommierten, für die 
betreffenden Rassen als Spezialisten geltenden Züchtern bezogen 
und von diesen als durchaus rasserein bezeichnet. Es wurden 
nur solche Hennen verwendet, welche mit den rassegleichen Hähnen 
Reinzuchteier produzierten, die an Farbe, aber auch an Größe und 
Form nicht besonders stark variierten. Es kam also keine Henne 
in Verwendung, die etwa bald reinweiße, bald gelbe oder braune Eier 
legte. Dieses Verhalten wurde überdies vor Aufnahme der hybriden Ver- 


1) Die Durchführung der Versuche wurde mir finanziell ermöglicht durch eine 
»weimalige Subventivn seitens des k. k. österreichischen Ackerbauministeriums, dem 
ich auch hier meinen besten Dank ausspreche. Ferner bin ich dem I. Österreichischen 
(eflügelzuchtverein für die Überlassung von Volieren für die Dauer der in Wien 
durchgeführten Versuche sehr verpflichtet. Seit 1. Nov. 1913 wurden die Versuche 
im physiologischen Institut der Deutschen Universität in Prag fortgesetzt. 

xXXXV. A 


50  Tschermak, Über Verfärbung von Hühnereiern durch Bastardierung ete. 


bindung in eigener Versuchseinrichtung noch durch eine etwa 2 Mo- 
nate währende Reinzucht (Rı) kontrolliert; die dabei gewonnenen 
Reinzuchteier wurden als Standardmaterial konserviert. Nach einer 
siebenwöchentlichen Isolationszet —- erfahrungsgemäß reichen 
20 Tage aus, um eine Nachwirkung des ersten Hahnes auszuschließen?) 
(D. Barfurth) — wurde die erste Bastardzucht (Br) begonnen und 
durch 10 Monate fortgesetzt, worauf wieder Reinzucht (Rır) herge- 
stellt wurde. Auf diese wurde teilweise neuerliche Bastardierung 
(Brr) und neuerliche Reinzucht (Rım) folgen gelassen. Von jeder 
Rasse kamen nur je ein Hahn und je eine Henne in Verwendung, 
was zwar vom züchterischen Standpunkte aus nicht vorteilhaft ist, 
zur erstmaligen absoluten Sicherung und für die Übersichtlichkeit 
der Versuchsergebnisse jedoch zweckmäßiger genannt werden muss. 
Durchwegs beziehen sich also die gewonnenen Ergebnisse auf je 
eine und dieselbe Henne, welche abwechselnd in Reinzucht und in 
Bastardzucht gehalten wurde; so weit als möglich wurde auch ein 
und derselbe Hahn bei Reinzucht bezw. bei Bastardzucht verwendet. 
In einer zweiten Versuchsreihe (ab Winter 1914) wird unter Ein- 
engung der Rassenzahl — auf Grund der Erfahrungen, die durch 
die erste Versuchsreihe (1912—1914) gewonnen wurden — zur Ver- 
wendung einer Mehrzahl von Hennen gleicher Rasse übergegangen 
werden. 

Über die Ergebnisse meiner Versuche orientiert die tabellarische 
Übersicht, in welcher auch manche interessant erscheinende Einzel- 
beobachtungen kurz vermerkt sind. Für jeden speziellen Versuch 
ist am Schlusse des Kolumnenabschnittes das Resume gezogen (in 
Kursivschrift). 

Aus den drei in beiderlei Verbindungsweise durchgeführten 
Versuchsserien ergibt sich in kurzer Zusammenfassung folgendes: 

I. Bezüglich Verfärbung durch Bastardierung (Xenio- 
dochie). 

In so gut wie allen Fällen ließ sich eine Verfärbung 
der Hühnereier durch Bastardierung nach der durch die 
Vaterrasse bezeichneten Richtung hin erkennen. Aller- 
dings war diese Xeniodochie in zwei Fällen (Prot. Nr. 1 Br — in 
Bir‘ fehlend — und Prot. Nr. 4 Br) nur angedeutet, in einer Neben- 
beobachtung (Prot. Nr. 2 Anm.) nur eben merklich und in einer 
anderen solchen (Prot. Nr. 5 Anm.) nur gelegentlich vorhanden. 
In den anderen Fällen war jedoch eine solche Verfärbung deutlich 
(Prot. Nr. 2 Bı und Bır‘, Prot. Nr. 5 Br), ja sehr deutlich (Prot. Nr. 3 Bı, 
minder Bır; Prot. Nr. 6 Br und Bir). Besonders eindringlich tritt 


2) Es ist daher im allgemeinen die Vorsicht geboten, die Eier der ersten 
>» Wochen einer Zucht für die entscheidende Beurteilung betreffs Xeniochie und 
Telegonie auszuschließen. 


Tschermak, Über Verfärbung von Hühnereiern durch Bastardierung ete. 51 


jener Einfluss hervor bei den Rassenkombinationen: Italiener Reb- 
huhnfarben 9 X Plymouth Rock 5 sowie Cochinchina 9 X Minorka 
weiß („alte“ Spezialform) $ — wenigstens bei den gerade von mir 
benützten Individuen. Die Farbenänderung durch Bastardierung 
erfolgte in meinen Beobachtungsfällen ebenso oft in der Rich- 
tung von Verstärkung der Pigmentierung von weiß zu braun 
(Prot. Nr. 1 nur angedeutet, Prot. Nr. 3 sehr deutlich, Prot. Nr. 5 
deutlich) als in der umgekehrten Richtung von Abschwä- 
chung der Pıgmentierung von braun zu weiß (Prot. Nr. 2 deut- 
lich und zwar unter Farbentonänderung ins Rötliche, Prot. Nr. 4 
nur angedeutet, Prot. Nr. 6 sehr deutlich). Der Grad der Ab- 
änderung ist augenscheinlich wesentlich abhängig von jeder der 
beiden Rassen bezw. von der gewählten Rassenkombination, ferner 
von der Verbindungsweise — die reziproken Versuche ergaben 
keineswegs eine Abänderung von gleichem Grade (Prot. Nr. 1 nur 
angedeutet — Nr. 2 deutlich; Prot. Nr. 3 sehr deutlich — Nr. 4 
nur angedeutet; Prot. Nr. 5 deutlich — Nr. 6 sehr deutlich). Auch 
die Individualität mag von Einfluss sein, doch vermögen meine zu- 
nächst absichtlich auf je eine Henne beschränkten Versuche darüber 
nichts auszusagen. 

Dass die Breite der Variation der Eischalenpigmentierung bei 
einer und derselben Henne (unter sonst gleichen Bedingungen) die 
Möglichkeit einer Entscheidung bezüglich Vorhandenseins oder 
Fehlens von Xeniodochie beeinflussen, ja aufheben kann, braucht 
kaum nochmals betont zu werden. Speziell zu berücksichtigen ist 
das Vorkommen von allmählıcher, sozusagen spontan fortschreitender 
Farbenänderung der Eier im Laufe des Lebens einer Henne (eventuell 
auch des Hahnes) trotz möglichstem Konstanthalten der äußeren 
Bedingungen. Hierüber scheinen noch exakte Studien zu fehlen, 
während bezüglich der Größe, bezw. des Gewichtes und der Form 
solche an der Rasse Plymouth Rock bereits vorliegen (Maynie 
R. Curtis unter Leitung von R. Pearl). Einen speziellen Fall 
solcher Art konnte ich beobachten bei Reinzucht von Bastarden 
erster Generation aus Minorka weiß, „alte“ Spezialform 9 X Cochin- 
china g: die Eifarbe blasste binnen 1!/, Monaten in der Beobach- 
tungszeit von 5. II. bis 25. IV. 1914 von dem ursprünglichen hell- 
gelbbraun, allmählich fortschreitend, ab bis zu einem weiterhin 
recht stabil bleibenden schwach bräunlichem Weiß. Ein hyper- 
kritischer Beurteiler könnte vielleicht versucht sein, die angegebenen 
Fälle von Xeniodochie auf Täuschung durch eine solche spontan 
erfolgende „Altersveränderung“ der Pigmentierung zurückführen zu 
wollen. Demgegenüber sei bemerkt, dass einerseits von einer solchen 
allmählichen Veränderung in all den unter Prot. Nr. 1—6 ver- 
zeichneten Hauptbeobachtungen während der Reinzuchten nichts zu 
bemerken war. Vielmehr trat nach der während der Bastardzucht 

4* 


52 


Tschermak, Über Verfärbung von Hühnereiern durch Bastardierung ete. 


Tabellarische 


der Versuche (1912—1914) über Farbxenien 








Mutterrasse zur 


| Vaterrasse 























B Reinzucht (R) Eier bei erst- : ch Ale) 
= | zur Bastard- | . : Eier bei erstmaliger 
5 und zur Bastard- zucht (B) maliger Rein- Bietardzete (Bn) 
2 zucht (B) a zucht (Rı) 
A| verwendet 
| verwendet | | 
— nn [ | — —- ——s = = 
1 | Italiener Weiß | Langshan Rı bis 15. IX. 1912. | Bı4. XI. 19121. IX.1913. 
(Dauernd eine | Rein weiße Farbe, Rein weiß bis Spur gelb- 
' u. dieselbe Henne rundliche — plumpe lich, ungeänderte Form. 
, verwendet.) Form. Angedeutete Xeniodochie. 
2 | Langshan Italiener |Rı bis 15. IX. 1912.| Bı 4. XT. 1912—31. VII. 
Weiß Farbe ziemlich va- 1913. 


(Dauernd eine 
u. dieselbe Henne 
verwendet.) 








riant, von mittelgelb- 
braun bis stark gelb- 
braun, etwa die halbe 
ıZahl der Eier mit 
dunkler oder dunkel 
| brauner Fleckung, 
bezw. Puderune. 





Deutlich stärkeres Vari- 
ieren der Färbung unter 
fortschreitendem Sinken des 
Mittelwertes, nicht unter 
einfach fortschreitendem 
Abblassen. — Variation von 
recht sattem, etwas rötlichen 
Gelbbraun bis zu Gelbweiß. 
Maximum — Extrem von 
‚Bı erheblich satter und 
\ mehr rötlich als Max. Ex- 
‚trem von Rı. Minimum — 
Extrem (relativ selten!) von 
Bıı weitaus blasser als Min. 
Extrem von Rı. Fleckung- 
Puderung ab 25. IV. 1913 
‘für die weitere Dauer von 
| Br verschwunden. 

Deutliche Steigerung der 
Variabilität durch Bastar- 
dierung, deutliche Xenio- 
ı dochie bezw. Abschwächung 
der Pigmentierung unter 
Anderung des Farbentons 
aus Gelblich- in Rötlich- 
braun, Verschwinden der 


, Zeichnung in der zweiten 





Hälfte von Bı. 


Tschermak, Über Verfärbung von Hühnereiern durch Bastardierung etc. 


Übersicht 


und Färbungstelegonie an Hühnereiern. 


53 











Eier bei zweiter Rein- 
zucht (Rıt) 


Eier bei zweiter Bastard- 
| zucht (Bir) 


I 
| 


Eier bei dritter Rein- 
zucht (Rıt) 

und bei dritter Bastard- 
zucht (Bııı) 








Rır 1. IX. 1913—25. IV. 
1914. 


(Hahn 20. III. 1904 er- 
setzt.) i 

Rein weiß, typische Form. 

Keine Telegonie. 


Bır‘ 25. IV.—5. VII. 1914. 


'  (Bastardzucht mit Zwerg- 
'cochinchinahahn, der bei 
vorausgeschickter Reinzucht 


liche Eier erzeugt hatte.) 
Rein weiß, ungeänderte 


wohl unbefruchtet, wenig- 
stens nicht anbrütbar. 


Keine Xeniodochie. 





gelblichweiße, kleine, läng- 


Form und Größe — Eier | 


| Rın 5. VIL—14. VII. 1914. 
Rein weiß, typische Form. 


| Bını 14. VIL.—13. X. 1914. 
Rein weiß, typische Form. 
| Keine Xeniodochie. 








Rs III — 25T DV: 
1914. 

(Hahn 7. II. 1914 er- 
setzt.) 

Ziemlich variant von star- 
kem Rötlichbraun bis Weiß- 
braun, Mittel minder satt 
und mehr rötlich als in Rı. 
Max. Extrem von Rıı min- 
der satt als Max. Extrem 
von Rı oder gar Bı; Min. 
Extrem von Rır erheblich 
weißlicher als Min. Extrem 
von Rı, jedoch etwas weniger 
weißlich als Min. Extrem 
von Br. Puderung nur auf 


dem ersten Reinzuchtei 
vom 3. II. 1914 in der 
Spitzpolhälfte vorhanden, 


sonst dauernd verschwunden 
wie bereits in der zweiten 
Hälfte von Bı. 


Deutliche Minderung der 
Variabilität durch Wieder- 
herstellung der Reinzucht, 
deutliche Telegonie bezw. 
Nachdauer der Abschwä- 
chung der Pigmentierung, 
Nachdauer der Tonände- 
rung in Rötlichbraun und 
Nachdauer des Verschwun- 
denbleibens der Zeichnung 
(mit einem Ausnahmefall). 


Bır‘ 25. IV.—9. VII. 1914. 
(Bastardzucht*) mit / F, 
[Minorka weiß 2 X Cochin- 
china Z'|, der bei voraus- 
geschickter Reinzucht mit 
Schwester 2 F, [Minorka 
weiß 2 X Cochinchina g'| 
zuerst hellgelbbraune, später 
fortschreitend hellere, bis 
schwach bräunlichweiße 
Eier produziert hatte.) 
Geringe Variabilität von 
rötlichem Weißbraun bis 


Weiß, Mittel noch weniger 
satt als in Rıı. Max. Ex- 
trem von Bır‘ sehr erheb- 
lich minder satt als Max. 


trem von Bı1‘ etwas weniger 
weiß als Min. Extrem von 
Rıı oder als Min. Extrem 
von Bı. — Puderung dau- 
ernd ausnahmslos ver- 
schwunden. — Verglichen 
mit Reinzucht von @F, X 
d F, (Geschwister — 5.11. 


paarten Bastardes, zeigt das 
Mittel von Bır‘ stärkere Pig- 
mentierung als das Mittel 
dieser Reinzucht, zeigen 
beide Extreme von Bir’ stär- 
kere Pigmentierung als beide 
Extreme dieser Reinzucht. 
Siehtliche Xeniodochie 
bezw. weitere Abschwä- 
chung der Pigmentierung 
und Verschwundenbleiben 
der Zeichnung infolge 
neuerlicher Bastardierung. 





rötlich oder gelblichbraunem | 


Extrem von Rıı; Min. Ex- | 


bis 25. IV.i914) des ange- | 


Rın 9.—14. VII. 1914. 
Keine Eiproduktion. 


Bu [4 S VI EXT T9TA 
(mit Ital. Weiß). 


Eiproduktion 10.—26. IX. 
Zieml. gleichmäßig, durch- 
schnittlich zwischen dem 
Mittel von Rıı und von Brı‘ 
stehend. 


Geringere Xeniodochie 
als in Bır'. 
*) Anm. Bastardzucht 


einer reinen Form mit einem 
Hybriden ist durch das Sym- 
bol Bı‘ bezeichnet. — Die 
umgekehrte Bastardierung 
F, [Minorka weiß 2 X 
Cochinchina Langs- 
han g' 25.IV.—9. V1I.1914 
ergab ganz geringe, vari- 
ierende Verstärkung der 
Pigmentierung (etwas stär- 
ker bräunlichweiß) gegen- 
über dem letzten Stadium 
der vorausgegangenen Rein- 
zucht (5. II.—25. IV. 1914), 
doch weit unter dem ersten 
Stadium dieser Reinzucht. 

Eben merkliche Xenio- 
dochie. 





54 Tschermak, Über ‚Verfärbung von Hühnereiern durch Bastardierung etc. 


Tabellarische 





der Versuche (1912—1914) über Farbxenien 





Mutterrasse zur | 


| 


N 


























u : Vaterrasse . . 
1 Reinzucht (R) zur Bastard- Eier bei lg Eier bei erstmaliger 
s und zur Bastard- | HB maliger Rein- ee (Bı 
3, zucht (B) HN zucht (Rı) BEI SZUCFUNNEN 
Ai verwendet | Yerwen er 
3 | Italiener Reb- Plymouth |Rı bis 15.IX. 1912.| Br 4. XI. 1912—1. IX. 
huhnfarben Rock Wenig variierende, | 1913.%) 
(Dauernd eine ganz schwach gelb-- Unter geringem Oszil- 
u. dieselbe Henne \lichweiße Färbung, lieren anfangs (bis April 
und je ein und ‚längliche und grazile 1913) recht starke Verfär- 
derselbe, Hahn ‘Form (dauernd un- bung in helles Braungelb, 
verwendet.) ‚ verändert bleibend).  allmähliche Abnahme, später 
|(?. V. 1913) schon weit 
| ı weniger gelb, nur gelbweiß 
| — doch durchwegs noch 
'gelblicher als Max. Extrem 
von Rı. 
' Steigerung der Varia- 
‚bilitat durch Bastardie- 
| rung, sehr deutliche Xenio- 
| ‚ dochie bezw. Verstärkung 
der Pigmentierung infolge 
ı Bastardierung. 
| 
4\ Plymouth Rock |ItalienerReb-| Rı bis 15. IX. 1912.| Br 4. XI. 1912—1. IX. 


(Dauernd eine | 


huhnfarben 





' u.dieselbe Henne 
und je ein und 
derselbe Hahn 
verwendet.) 


| 








Ziemlich vari- 
‚lerende Eifarbe von 
weißbraun bis mittel- 
‚braun, mit braunen 
Flecken. 

| (Heller als die Eier 
in sonstigen Rein- 
zuchten von Ply- 
ı mouth Rock.) 





1913. 

Deutlich stärker und zwar 
unregelmäßig variierend von 
satter gelb- oder rötlich- 
braun bis graugelb oder 
ıbraunweiß. Min. Extrem 
| von Bı ist ein wenig heller 
als Min. Extrem von Rı 
(1 Ei am Stumpfpol stark 
| rötlichbraun, am Spitzpol 
| mittelbraun). — Fleckung 
‚dauernd verschwunden. 


Deutliche Steigerung der 
Variabilität durch Bastar- 
dierung, Xeniodochie nur 

| angedeutet. 





Tsehermak, Über Verfärbung von Hühnereiern durch Bastardierung ete. 


Übersicht 


und Färbungstelegonie an Hühnereiern. 


St 
or 











Eier bei zweiter Bastard- 
zucht (Bıı) 


Eier bei zweiter Rein- | 
zucht (Rıı) | 





Eier bei dritter Rein- 
zucht (Rın) 

und bei dritter Bastard- 

zucht (Bıır) 








Rır g7 IX. 191: 3—25. zZ | Brı 25. IV.—7. VI. 1914. 
1914. Etwas satter gelblich als | 

Ziemlich variante gelb- in Rır gegen Schluss, nicht 
weiße Färbung, anfangs |so satt wie in Rır zu An-ı 
sogar etwas satter als am | fang. 

Ende von Br, satteste Stufen Minder deutliche Xenio- 
ganz auffallend an satteste dochie bezw. geringe neuer- 
Stufen von Br heran- |%ene Verstürkung der Pig- 
reichend; allmählich (spe- mentierung. 

ziell ab 11. IV. 1914) ab-| 

nehmend — doch nie so| | 
schwach gelblichweiß wie 
in Rı, noch immer etwas 
gelblicher. 

Sehr deutliche Telegonie, 
bezw. Nachdauer verstärk- 
ter Pigmentierung und er- | 
höhter Variabilität. | 





am, 7 


VI.—14. VII. 1914. 


(kelativ früh aufgenom- 
men, da Plymouth Rock- 
Hahn 7 7. VI. 1914.) 

Zum Teil weißlicher als 
in Bır, vereinzelt an Max. 
Extrem von Bir heran- 
reichend, nicht so stark pig- 
mentiert wie in Rıı zu An- 
fang. Doch von Rı noch 
immer merklich verschieden, 

ı besonders auffällig in den 


| satteren Stufen, z. B. noch 
kamel25SVIIE: 1914 deutlich 
‚ gelbweißes Ei produziert. 


Minder deutliche Tele- 
gonie bezw. Nachdauer 


wenig verstärkter Pigmen- 


ı bierung. 





RE IIIRBZ5. Ve 1914: — | 
(Plymouth Rock-Henne?r.) 

Ziemlich variant, doch 
Spielraum deutlich enger 
als in Br, von mittlerem 
Rötlichbraun bis Weiß-Röt- 
lichbraun. Mittel von Rıı | 
erheblich satter als Mittel | 
von Rı, kein Ei so satt wie | 
Max. Extrem von Bı; Min. 
Extrem von Rıretwasblasser 
als Min. Extrem von Rı 
und als Min. Extrem von 
Br. Fleckung dauernd ver-. 
schwunden. 

Deutliche Minderung der | | 
Variabilität durch neuer- | 
liche Reinzucht; betreffs 
Telegonie keine Aussage 
möglich. 











| licher, 
‚licher als in Rım. 


| ursachten Tode 


Bırm‘ ab 14. VII. 1914. 


Bastardzucht mit  F, 
[Plymouth Rock 2 X. Ital. 
‚ Rebh. 

Stärker variierend als in 
Rını, Max. Extrem gelb- 
licher, Min. Extrem weiß- 
Mittel etwas gelb- 


Angedeutete Keniodochie, 





*) Anm. Eine Bastard- 
henne $F, (Ital. Rebh. 2 
> Plymouth Rock fg‘), ver- 
leint gehalten mit f F, 


(Plymouth Rock 2 X Ttal. 


Rebh. 5) vom 5. 1I.—11. 
| III. 1914, enthielt nach 
ihrem durch Legenot ver- 


(1125ER: 
1914) ein Ei mit weißgelb- 


‚licher Schale. 


96 


Tschermak, Über Verfärbung von Hühnereiern durch Bastardierung etc. 


Tabellarische 


der Versuche (1912—1914) über Farbxenien 
































„| Mutterrasse zur | Yuter | 
2| Reinzucht (R) ee ı Eier bei erst- RR Min. 
3 .ı | zur Bastard- 0 Er Eier bei erstmaliger 
= und zur Bastard- ht (B) maliger Rein- Basta BITE 
= zucht (B) Zr L C t zucht (Rı) Be lSurt lan HUN) 
A verwendet We 
5  Minorka weiß |Cochinchina | Rı bis 15. IX.1912.*) | 4. XI. 1912—24. V. 1913. 
(Dauernd eine, Ziemlich variant, | : (Henne + 24. V. 1913.) 
‚u. dieselbe Henne reinweiß bis gelblich- | Stark variant, von gelb- 
verwendet.) | , weiß. lichweiß bis hellgelbbraun, 
| | Mittelwert erheblich höher 
| als Mittelwert von Rı. 
Steigerung der Varia- 
bilität durch Bastardie- 
rung; deutliche Xenio- 
dochie bezw. Verstärkung 
der Pigmentierung. 
6  Cochinchina ı Minorka Rı bis 15. IX. 1912.| Bı 4. XI 1912 —1. RX. 


u. dieselbe Henne 
und ein und der- 
selbe Hahn zur 
Bastardierung 
verwendet.) 





(Dauernd eine | 





Wenig variierend, 
ı mäßig bis mittel röt- 
‚ lieh-gelbbraun. 





| bihität 





1913. 


Stark variierend von satt 
rötlich-gelbbraun (z. T. er- 


\heblich satter als in Rı) 


durch braungelb bis zu 


 bräunlich-weiß und zwar in 


irregulärem Schwanken (1Ei 
maximal rotgelbbraun mit 
weißen Spritzern an der 
Stumpfpolhälfte; 1 Ei am 


| Stumpfpole mittelbraun, am 
| Spitzpole 


bräunlich-weiß). 
Steigerung der Varia- 
durch Bastardie- 
rung, sehr deutliche Xenio- 


| dochie bezw. Abschwächung 


der Pigmentierung. 


Tschermak, Uber Verfärbung von Hühnereiern durch Bastardierung etc. 


Übersicht 


und Färbungstelegonie an Hühnereiern. 


= 


57 








Eier bei zweiter Rein- 
zucht (Rıı) 





Eier bei zweiter Bastard- 


| 
| 
| zucht (Bir) 








Eier bei dritter Rein- 
zucht (Rııı) 











Rır 1. IX. 1913—5. II. 
1914. 
(Unbefruchtete Eier wäh- 
rend Isolierung, da Cochin- 
china-Hahn + 24. V. 1913.) 
Gleichmäßig, satt rötlich- 
gelbbraun wie Max. Ex- 


treme unter Bı, erheblich | 


satter als Rr. Vor dieser 
Legeperiode sehr lange 
Pause: 


1. IX. 1913—20. I. 1914. 

Aufhören des Variierens 
bei Aufgeben der Bastard- 
zucht, keine Telegonie (aller- 
dings große Pause!) 


Bır ab 5. II. 1914. 
Neuerlich starkes Vari- 


‚ieren, ähnlich wie in Br 


von satt rötlich-gelbbraun 
‚ bis weißlich-gelb bezw. grau- 
gelb.» Min. Extrem in Bıı 
nicht so licht wie in Br. 


'rotgelbbraun mit weißen 
Punkten auf der ganzen 


mit braunen Punkten in 
der Spitzpolhälfte; 1 Ei 
mittelgelbbraun am Spitz- 
pol, bräunlichweiß am 
Stumpfpol.) 

Steigerung der Varia- 
‚bilität durch Bastardie- 
rung, doch mit etwas ge- 
ringerem Spielraum als in 
Br. Sehr deutliche Xenio- 
ı dochie bezw. Abschwächung 
der Pigmentierung. 





— (1 Ei gleichmäßig satt | 


Oberfläche; 1 Ei weißgelb | 





*) Anm. Über die von 
Nachkommen aus dieser Ba- 
stardierung(Q und Z'F, [Mi- 
norka 2 X Cochinchina |) 
erzeugten Eier siehe unter 
Prot. Nr. 2. — Eine Henne 
einer anderen Spezialform 
der Rasse Minorka weiß 
(als Minorka „neu“ bezeich- 
net) legte bei Reinzucht 
rein weiße Eier, bei Bastar- 
dierung zuerst mit einem 
atypischen, dann mit einem 
typischen Hybriden %' F, 
[Cochinchina 2 X Minorka 
weiß „alt“ gJ'] im allge- 
meinen rein weiße, nur ver- 
einzelt gelbliche Eier, was 
einer gelegentlichen Xenio- 
dochie entspricht. 


58 Tschermak, Uber Verfärbung von Hühnereiern durch Bastardierung etc. 


Bı oder Bır erfolgten Abänderung die Tendenz zu einer gegensätz- 
lichen Veränderung während der folgenden Reinzucht Rır oder Rın 
hervor. Andererseits wäre es sehr sonderbar, wenn eine spontane 
Altersveränderung bei den weißeiigen Rassen in einer Zunahme der 
Pigmentierung, bei den brauneugen Rassen gerade umgekehrt in 
einer Abnahme der Pigmentierung gelegen wäre. Endlich schließt 
der zweifellose Einfluss, den die Bastardierung gleichzeitig auf den 
Spielraum der Eifarbenvariation besitzt, eine solche Annahme 
völlig aus. 

An der Möglichkeit bei Auswahl geeigneter Rassen und 
Individuen und beı geeigneter Rassenkombination und 
Verbindungsweise zweifellose Eischalenxenien zu pro- 
duzieren, ist demnach für Rassenkreuzungen in der 
Formengruppe „Haushuhn“ ebensowenig zu zweifeln als 
für die früher mitgeteilten Artbastardierungen ın der 
Familie der Fringilliden. Im Gegensatze zur Veränderung: der 
Hühnereifarbe durch Bastardierung wurde eine solche der Größe 
und der Form nicht beobachtet (in Bestätigung des Befundes von 
A. Walther). Ich gelange somit zu einer Erhärtung meiner 
früheren Angaben und zu einer Bestätigung der Beobachtungen von 
W. v. Nathusius, Kutter und P. Holdefleiß. Die ersteren 
beiden Autoren konstatierten, wie oben erwähnt, eine Zunahme 
der Pigmentierung bei der Bastardierung weißeiig (Ital. Rebhuhn?) 
9 X brauneiig (Cochinchina) 5, der letztgenannte Beobachter eine 
Abnahme der Pigmentierung bei der umgekehrten Verbindung braun- 
eiig (Plymouth Rock) 9 X. weißeiig (Ital. Rebhuhnfarben) J.. 

Als interessantes Datum muss die Erscheinung hervorgehoben 
werden, dass Bastardierung wenigstens in bestimmten Fällen, 
die Variabilität der Eifarbe in deutlichem Ausmaße er- 
höht. Es wurde dies speziell in den Fällen Prot. Nr. 2, 3, 4, 5, 6 
konstatiert und durch die Feststellung einer Minderung der Varia- 
bilität nach Aufgeben der Bastardzucht (Br), also bei nachfolgender 
Reinzucht erhärtet. 

Diese Folge der Bastardierung weist m. E. darauf hin, dass 
durch die Imprägnation mit fremdrassigem Sperma die Pigment- 
sekretionsstätten in einen geänderten Reaktions- bezw. Tätigkeits- 
zustand versetzt werden, welcher bald zu einer sogar verstärkten 
Ausprägung des Rassencharakters an Eipigmentierung, bald zu einer 
Minderung derselben in der Richtung der bastardierenden Vater- 
rasse führt. Man kann geradezu von einer Gleichgewichtserschütte- 
rung sprechen, von einem Versetzen in Oszillation unter Verschie- 
bung der Mittellage nach der väterlichen Seite hin, von. einer Art 
Wettstreit zwischen Rassencharakter und Fremdcharakter, wobei 
bald der eine, bald der andere siegt und der Rassencharakter ge- 
legentlich sogar stärker zum Ausdrucke kommt als zuvor bei Rein- 


Tschermak, Über Verfärbung von Hühnereiern durch Bastardierung ete. 50 


zucht. Ausdruck eines Wettstreites der beiden gegensätzlichen 
Faktoren ist auch die mitunter beobachtete ungleichmäßige Fär- 
bung der beiden Eipole bezw. Eihälften (vgl. Prot. Nr. 4Bı sowie 
Nr. 6Bı und Br). 

Bezüglich des Verhaltens der Xeniodochie bei wieder- 
holtem Wechsel von Reinzucht und Bastardzucht sei be- 
merkt, dass der verfärbende Einfluss der Bastardierung immer 
schwächer auszufallen scheint. So war derselbe beı Fall 2 ın 
Bir‘, noch mehr ın Bım weit geringer als in Bı; auch bei Fall 3 
war die Wirkung ın Bır, noch mehr in Bim‘ geringer als in Bı. 
Es scheint der pigmentbildende Anteil des Sexualapparates wieder- 
holt gegensätzlich beeinflusster Hennen überhaupt minder reaktions- 
fähig zu werden, gewissermaßen an Plastizität seiner Funktion zu 
verlieren und mehr oder weniger ın einer Mittellage zu erstarren 
(vgl. das über Telegonie bei wiederholtem Zuchtwechsel zu Be- 
merkende). 

Mit der vorstehenden Darstellung ıst allerdings die oben nur 
als Möglichkeit erwähnte Vorstellung einer extraovalen Xenien- 
reaktion als gesichert vorweggenommen. Die Berechtigung wird 
sich jedoch aus den nachstehenden Ausführungen über Telegonie 
ergeben. 


II. Bezüglich Nachdauer der durch Bastardierung 

erfolgten Verfärbung (Telegonie). 

In bestimmten Fällen ließ sich eine gewisse Nachdauer 
der durch Bastardierung bewirkten Veränderung der 
Schalenfarbe während der nachfolgenden Reinzucht er- 
kennen. Eine sölche Telegonie wurde zwar bei Fall 1 und 6 (bei 
Fall 5 fehlt Rır) vermisst, auch war bei Fall 4 infolge relativ großer 
Variabilität keine Aussage möglich — doch war bei Fall 3 ın Rıı 
die Nachwirkung sehr deutlich (in Rıı minder deutlich), ebenso bei 
Fall 2 ın Rır unverkennbar. In Fall 3 bestand der telegone Effekt 
in einer nachdauernden Verstärkung, in Fall 2 in einer nach- 
dauernden Minderung der Pigmentierung und Farbentonänderung 
ins Rötliche. In Fall 3 erfolgte ein allmähliches Abklingen, ohne 
dass nach siebenmonatlicher Reinzucht (Rır) die ursprüngliche Eı- 
farbe (von Rı) erreicht worden wäre. Auch ın Fall 2 war die 
Veränderung nach der gleichen Zeit noch merklich. Beide einmal 
(dann neuerdings) bastardierten Hennen blieben in ihrer Pigment- 
produktion alteriert, sozusagen aus der durch Rı bezeichneten 
typischen Lage abgelenkt. Vom züchterischen Standpunkte sind 
die benützten Hennen, d. h. die Italiener Rebhuhn-Henne als 
durch Bastardierung mit einem Plymouth Rock-Hahn, ebenso 
die Langshan-Henne als durch Bastardierung mit einem Italiener 
Weiß-Hahn nachhaltig „verdorben“ zu bezeichnen, da die 


60 Tschermak, Über Verfärbung von Hühnereiern durch Bastardierung ete. 


erstere Henne atypischerweise statt weißer oder ganz schwach 
gelblichweißer Eier solche mit deutlich gelblicher, mitunter sehr 
deutlich gelblicher Schale legt — die Langshan-Henne statt satt- 
brauner nur weißbraune Eier produziert. 

Andererseits vermochte neuerliche Bastardierung auch aus der 
telegonen Ablenkungslage heraus — neben neuerlicher Steigerung 
der Variabilität — eine neuerliche Ablenkung nach der Richtung 
der bastardierenden Vaterrasse hin zu bewirken: eine solche neuer- 
liche Xeniodochie von telegoner Lage aus wurde in Fall 2 (Bır 
und Bım) und in Fall 3 (Bır und Bu‘) festgestellt. Im ersteren 
Falle erfolgte sie ım Sinne weiterer Abschwächung, im anderen 
Falle im Sinne weiterer Verstärkung der Pigmentierung. 

Bei wiederholtem Wechsel von Bastardzucht und Reinzucht 
scheint die Telegonie — ebenso wie dies oben von der Xenio- 
dochie bei wiederholtem Wechsel von Reinzucht und Bastardzucht 
bemerkt wurde — abzunehmen (so bei Fall 3 in Rım gegenüber Rın), 
ohne dass — wenigstens in der bisherigen Beobachtungsdauer — 
die Ausgangslage (Rr) wieder erreicht wurde. Auch die Steigerung 
der Variabilität durch Bastardierung scheint, trotz sichtlicher Ab- 
nahme infolge neuerlicher Reinzucht (Rır bezw. Rır), in gewissem 
Grade nachzudauern (vgl. Fall 3). 

Die nächste Versuchsreihe soll die bisher gemachten Fest- 
stellungen an einer größeren Anzahl von Hennen der Italiener Reb- 
huhn- und der Langshan-Rasse nachprüfen?). 

Schon durch die abgeschlossene erste Beobachtungsreihe glaube 
ich den ersten stichhaltigen Beweis (von der nur gelegent- 
lichen Angabe Kutter’s |1878] abgesehen) erbracht zu haben für 
das Vorkommen von Eischalentelegonie, bezw. Nachdauer 
der bastardiven, xeniodochischen Verfärbung an Hühnereiern. Ein 
genauer Systematiker mag ja diese Art von Xeniodochie nur als 
eine Pseudoform bezeichnen, weil sie nur die Eihüllen, nicht weiter 
abliegende mütterliche Teile betreffe. Allerdings sind Fälle von 
korrespondierender Abänderung solcher Art, also „echte“ Xenien 
— ebenso Fälle von „echter“ Telegonie, welche oogene Teile bezw. den 
Embryo selbst betreffen würde, — überhaupt nicht mit irgendwelcher 
Zuverlässigkeit beobachtet und zwar weder bei Pflanzen noch bei 
Tieren. Auf die diesbezüglichen Literaturangaben sei hier nicht 
weiter eingegangen. Nur sei nachdrücklich betont, dass mit der 
Feststellung einer Färbungstelegonie der Hühnereischale ın gewissen 
Fällen meinerseits keineswegs die Möglichkeit oder Wahrscheinlich- 


3) Ich beabsichtige dann deren Ergebnisse in Zusammenhang mit jenen der 
ersten Versuchsserie ausführlicher darzustellen unter gleichzeitiger Anführung kolori- 
metrischer Angaben über die Färbungsgrade. Das bisher gewonnene Material wurde 
als ziemlich umfangreiche Sammlung konserviert, soweit es nicht zur Nachzucht 
Verwendung fand. 


Tschermak, Über Verfärbung von Hühnereiern durch Bastardierung etc. 61 


keit einer „echten“ Embryotelegonie behauptet wird. Vielmehr 
sind die festgestellten Erscheinungen des ersteren Gebietes prinzipiell 
ganz anders zu beurteilen als die angeblichen Phänomene des letz- 
teren Gebietes. Der Nachweis des Vorkommens einer chromatischen 
Eihüllentelegonie gestattet überhaupt keinerlei Schluss zugunsten 
der Annahme einer Embryotelegonie. 

Der Nachweis des Vorkommens von chromatischer Eischalen- 
telegonie entscheidet, wenigstens mit höchster Wahrscheinlichkeit, 
die eingangs erörterte Alternative: intraovale oder extraovale Natur 
der Xenienreaktion im letzteren Sinne. Mit der Möglichkeit einer 
extraovalen Xenienreaktion hatte ich schon beim erstmaligen 
Nachweise von chromatischen Eischalenxenien an Fringillidenarten 
gerechnet. ‚Jedoch musste diese Eventualität damals noch als gleich- 
wertig mit der entgegenstehenden Möglichkeit einer intraovalen 
Xenienreaktion behandelt werden. Ich gelange demnach auf Grund 
des Nachweises, dass bastardıve Verfärbung der Hühnereischale bei 
neuerlicher Reinzucht nachdauern kann, dass ferner Bastardierung 
die individuelle Variabilität der Pigmentproduktion steigert, dazu, 
eine charakteristische Beeinflussung des weiblichen Genitaltraktes 
durch gewisse Bestandteile des rasse- oder artfremden Spermas 
(eventuell auch des art- und rassegleichen, bloß individual- oder 
körperfremden) anzunehmen. Diese Beeinflussung hat die Tendenz, 
den noch nicht genau bekannten Ort und Modus der Pigment- 
produktion nach der durch die bastardierende Vaterart bezeichneten 
Richtung hin abzuändern. Diese Einflussnahme zielt also ab auf 
eine korrespondierende, patrokline Umstimmung des die 
Eischalenproduktion, speziell die Eischalenpigmentierung besorgenden 
Anteiles des weiblichen Genitalapparates. Nach dieser Auf- 
fassung erfolgt — im Prinzip unabhängig von der Befruchtung der 
Eizelle — irgendeine Imprägnation auch der bleibenden Anteile 
des mütterlichen Fortpflanzungsapparates *). Es kommt dabei, wenig- 
stens in gewissen Fällen, zu einem deutlichen Wettstreit der ur- 
sprünglichen, mütterlichen bezw. rasse- oder artgemäßen Disposition 
oder Tätigkeit des Pigmentierungsapparates und dem intoxikativen, 
rasse- oder artfremden Faktor. Dieser Wettstreit äußert sich spe- 
ziell in einem Wechsel zwischen Verstärkung der rassegemäßen 
Pigmentproduktion und rassefremder Minderung derselben — ein 
Wechsel, welcher an einem und demselben Ei merklich sein kann. 
Dieser Wettstreit hat einen ähnlichen Charakter wie jener, welcher 
bei gewissen Intoxikationen oder Infektionen zu beobachten ist 


4) In solchen Fällen könnte man geradezu von einer „Genitaltrakt-Befruch- 
tung“ sprechen und diese in eine gewisse Analogie zum sogen. vegetativen Befruch- 
tungseffekt am pflanzlichen Fruchtknoten setzen — ein Effekt, der gleichfalls im 
Prinzip unabhängig ist von der Befruchtung der Eizelle selbst (vgl. E. v. Tsehermak,). 


62 Tschermak, Über Verfärbung von Hühnereiern durch Bastardierung etc. 


zwischen einer erzwungenen abnormen Tätigkeit und der eventuell 
reaktiv verstärkten normalen Tätigkeit desselben Organs. 

Über den Ort, die Art und die Vermittlungsstoffe dieser Ein- 
flussnahme ist heute noch keine spezielle Aussage möglich. Ist 
doch beim Vogel auch mit der Möglichkeit zu rechnen, dass das 
Ovarıum das Pigment bezw. eine Vorstufe des Pigments für die 
Eischale liefert oder wenigstens irgendwie an der Pigmentbildung 
mitwirkt (Wiekmann 1893). Ob dabei ein direktes Eindringen 
von Spermatiden ın mütterliches Gewebe, speziell in die Schleim- 
haut des Eileiters, beim Vogel speziell in das Ovarialgewebe oder 
in die Kalkdrüse des sogen. Uterus in Betracht“ kommt, bleibe 
dahingestellt. Eine solehe Immigration oder Infektion’ der Mucosa- 
drüsengänge, der Mucosazellen und des submucösen' Bindegewebes 
ist bekanntlich von Kohlbrugge (1912) sowohl für das Haus- 
huhn als auch für Maus und Kaninchen angegeben, von anderer 
Seite jedoch bestritten worden. Sicher ist mit der Möglichkeit 
eines Eindringens des fremdrassigen oder fremdartigen Sperma- 
eiweiß ın gelöster Form und zwar mit einem Eindringen in die 
Uteruswand, speziell in die Elemente der Kalkdrüse, aber auch ın 
das Ovarialgewebe, weiterhin in die Blutbahn zu rechnen. So konnten 
Waldstein und Ekler (1913) das Auftreten spezifischer Abwehr- 
fermente im Sinne von Abderhalden gegen rasse- oder art- 
gleiches, nur individual- oder körperfremdes Spermaeiweiß ım Blute 
weiblicher Tiere nachweisen, welche vorher belegt worden waren. 
Die Vorstellung, dass gewisse Stoffe des Spermas eine intoxikative 
Umstimmung an den die Eischalenpigmentierung besorgenden An- 
teilen des weiblichen Genitalapparates bewirken, kann sich also be- 
reits auf eine Anzahl von Beobachtungen stützen, welche von ganz 
verschiedenen Gesichtspunkten aus unternommen wurden. Über den 
Träger der sozusagen toxischen Stoffe, sowie über deren Natur, 
dürften Versuche Aufklärung bringen, in denen Xenienwirkung an- 
gestrebt werden soll durch Einbringung von Spermatiden gleicher 
Art neben fremdartigem bezw. fremdrassigem Sperma, dessen Sperma- 
tıden entfernt oder sei es mechanisch, sei es aktinisch, durch ultra- 
violette oder durch Radıumstrahlungen, zerstört worden sind (von 
mir bereits 1912 geplant), oder neben Stoffen, die man aus dem 
fremdartigen bezw. fremdrassigen Sperma isoliert hat. 

(sewiss wird diese Vorstellung sowie die damit eröffnete weitere 
Perspektive, dass die Resorption gewisse Spermabestandteile, spe- 
zıell bei Rassen- oder Artverschiedenheit, aber vielleicht auch beı 
Rassen- oder Artgleichheit, also bloßer sexualer Typenverschieden- 
heit, eine Intoxikation des weiblichen Organismus und eine spezi- 
fische, ja korrespondierende Beeinflussung gewisser Funktionen des- 
selben hervorzurufen vermag, manchem etwas zu kompliziert und 
zu kühn erscheinen. Doch führen die mitgeteilten Beobachtungen 


Tschermak, Uber Verfärbung von Hühnereiern durch Bastardierung ete. 63 
fe) g ) 


über Verfärbung von Hühnereiern durch Bastardierung und über 
Nachdauer dieser Verfärbung ungezwungen zu jener Annahme, die 
sich bereits als Arbeitshypothese bewährt hat. Weitere Beobach- 
tungen werden über deren Zuverlässigkeit zu entscheiden haben. 


Zitierte Literatur, 


Curtis, Maynie R., A Biometrical Study of Egg-Production in the Domestic Fowl. 
IV. Factors influeneing the size, shape and physical constitution of eggs. 
Arch. f. Entw.-Mech. Bd. 39, S. 217—327, 1914. 

Holdefleiß, F., Versuche über Xenienbildung und Vererbungsgesetze bei der 
Kreuzung von Hühnern. Ber. a. d. physiol. Labor. und der Versuchsanstalt 
des landw. Inst. d. Univ. Halle. H. 20, 1—20. Hannover 1911. 

-—— Die Beziehungen zwischen der Pflanzen- und Tierzüchtung in ihren Arbeits- 
methoden und gemeinsamen Aufgaben im Anschluss an Vererbungsversuche 
mit Mais und Hühnern. 25. Flugschrift d. D. Ges. f. Züchtungskunde 1913. 

Kohlbrugge, J.H.F., Der Einfluss der Spermatozoiden auf den Uterus. Zeitschr. 
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— Die Verbreitung der Spermatozoiden im weiblichen Körper und im befruch- 
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Kutter, Betrachtungen über Systematik und Oologie vom Standpunkte der Selektions- 
theorie. 1. Teil. Cabanis’ Journal f. Ornithol. Bd. 25, S. 396-423, 1877; 
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en F. T., Die Farbe der Eier. D. Landw. Presse, 36. Jahrg., Nr. 27 

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ne W. v., Über die Hüllen, welche den Dotter des Vogeleies umgeben. 
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— Betrachtungen über die Selektionstheorie vom Standpunkte der Oologie. 
Cabanis’ Journ. f. Ornithol. 27. Jahrg., S. 225—261, spez. S. 238—239, 1879. 

Pearl, R., Studies on the physiology of reproduction in the domestic fowl. I. Regu- 
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Pearl, R. and Surface, Frank M., The nature of the stimulus which causes a 
shell to be formed on the bird’s egg. Rep. of the Maine Agric. Exp. Station 
1909. 

Seidlitz, G., Die Bildungsgesetze der Vogeleier in histologischer und genetischer 
Beziehung und das Transmutationsgesetz der Organismen. 58 S., spez. S: 26. 
Leipzig 1869, Engelmann. 

Tschermak, A. v., Einfluss der Bastardierung auf En Farbe und Zeichnung 
von Kanarieneiern. Umschau, 14. Jahrg., Nr. 39, S. 764—766 (24. Sept. 1910). 

— Über den Einfluss der Bastardierung auf Form, ae und Zeichnung von 
Kanarieneiern. Biol. Oentralbl. Bd. 30, Nr. 19, S. 641—646 (1. Okt. 1910). 

— Über ae von Kanarieneiern durch Bastardierung. Urania (Wien), 
5. Jahrg., Nr. 1, S. 2—4 (6. Januar 1912). 

— Über Veränderung der Form, Farbe und Zeichnung von Kanarieneiern durch 
Bastardierung. Pflüg. Arch. f. d. ges. Physiol. Bd. 148, S. 367—395, 1912 
(zugleich erschöpfende Literaturübersicht). 

Tschermak, E. v., Über den Einfluss der Bestäubung auf die Ausbildung der 
Fruchthüllen. Ber. d. D. Bot. Ges. Bd. 20, S. 7—16, 1902. 

Waldstein, E. und Ekler. R., Der Nachweis resorbierten Spermas im weiblichen 
Organismus. Wien. klin. Wochenschr. 26. Jahrg., H. 42, S. 1689-1692 
(Okt. 1913). 

Walther, Ad. R, Über den Einfluss der Rassenkreuzung auf Gewicht, Form, 
Glanz und Farbe der Hühnereier. Landw. Jahrb. Bd. 46, S. S9—104, 1914, 


’ 


64 Fruhwirth, Die Pflanzen der Feldwirtschaft. 


C. Fruwirth. Die Pflanzen der Feldwirtschaft. 


Gr. 8. VIII und 160 Seiten, mit 4 farbigen und 3 schwarzen Tafeln, 85 Abbild. 
im Text. Stuttgart 1913. Franck’sche Buchhandlung. 


Das im Rahmen eines populären Werkes (Die Pflanzen und 
der Mensch) als 2. Band erschienene Werk behandelt die für den 
Menschen wichtigsten Pflanzen der Feldwirtschaft. Nach einer 
kurzen geschichtlichen Übersicht über Ursprung und Wanderung 
der landwirtschaftlichen Kulturpflanzen werden in einem zweiten 
Abschnitt die Getreide, die Hülsenfrüchte, die Hackfrüchte, die 
Handels- und die Futterpflanzen eingehend besprochen. In einem 
dritten Abschnitt wird erörtert, wie neue Formenkreise bei Kultur- 
pflanzen entstehen. Im vierten Abschnitt bespricht Verf. den Wert 
dieser Pflanzen für die Privat- und Weltwirtschaft. Ein Anhang 
endlich erörtert die Technik der landwirtschaftlichen Pflanzenkultur. 

RP. 


Remo Grandori. Risultati dei nuovi Studi Italiani 


sulla Filossera della Vite. 


Kl. Ss. XV und 256 Seiten. Mit 17 Tafeln und 1 Fig. im Text. Mailand 1914, 
Ulrico Hoepli. 


In Frankreich, wo die Verheerungen durch die von Amerika 
auf unbekanntem Wege eingeschleppten Phyloxera sich zuerst in 
erschreckendem Maße gezeigt hatten, waren schon zahlreiche Beob- 
achtungen über die Lebensgewohnheiten des Insektes angestellt 
worden, ohne jedoch alle Unsicherheit zu beseitigen. In Italien 
sind auf Anregung des Ministeriums der Landwirtschaft eingehende 
Studien über die Biologie der Phyloxera angestellt worden, durch 
Grassi und seine Schüler, deren Ergebnisse im Jahre 1912 ver- 
öffentlicht worden sind. Im vorliegenden Bändchen gibt der Verf., 
einer der Mitarbeiter Grassi’s, eine gedrängte Übersicht jener 
Studien in der Hoffnung, dass sie allen, welche an denselben ein 
Interesse haben, von Nutzen sein werde. P. 





anstalt für Wasserhygiene in bDerlin-Dahlem, Post: Berlin- 
Lichterfelde 3, Ehrenbergstrafse 38, 40, 42. 

Die Königliche Landesanstalt für Wasserhygiene hat mit der 
Abgabe von Nährgelatine, die für die Zwecke der bakteriologischen Wasser- 
untersuchung bestimmt ist, begonnen. Der Preis für je ein Reagensgläschen mit 
10 cem Nährgelatine (ausschließlich Verpackung) ist, den Selbstkosten der An- 
stalt entsprechend, auf 18 Pfg. festgesetzt. 

Eine Abgabe unter 10 Stück kann nur in Ausnahmefällen stattfinden; für 
größere Aufträge muß sich die Landesanstalt eine Lieferzeit von etwa 8 Tagen 
vorbehalten. 








Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Antonstraße 15. — Druck der kgl. bayer. 
Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen. 


Biologisches Gentralblatt. 


Begründet von J. Rosenthal. 


In Vertretung geleitet durch 
Prof. Dr. Werner Rosenthal 


Priv.-Doz. für Bakteriologie und Immunitätslehre in Göttingen. 


Herausgegeben von 


Dr. K. Goebel und Dr.'R: Hertwig 


Professor der Botanik Professor der Zoologie 
in München. 


ss von Georg Thieme in Leipzig. 


en Nase für 12 Hefte Bakazı >0 Mark 
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. 


Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik 

an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, 

vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschiehte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München, 

alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Werner Rosenthal, z.Z. Nürnberg, Roonstr. 13, 
einsenden zu wollen. 


Ba. xXXXY. 20. Februar N: R. 


Inhalt: Ann Die Überwintering von Form mica picea Bar andere ash Beobachtungen. —_ 
Mertens, Zur Frage des Melanismus bei Eidechsen aus der Lacerta muralis- Gruppe. — 
IE ochnow, Das Springen der Schnellkäfer, physikalisch betrachtet. — Kohlbrugge, War 
Darwin ein originelles Genie? — Abderhalden, Abwehrfermente, 






































Die Überwinterung von Formica picea und andere 
biologische Beobachtungen. 
Von W. Bönner S. J. (Charlottenlund, Dänemark). 
(Mit einer Tafel.) 

Die Woche nach Neujahr 1914 brachte zum ersten Male starken 
Frost ohne vorausgehenden Schneefall. Es war mir somit Gelegen- 
heit gegeben, die geplanten!) Untersuchungen betreffs der Über- 
winterung von Formica picea ın Angriff zu nehmen. Wenn diese 
Ameise überhaupt das Moor im Winter verließ, musste sie jetzt 
ausgewandert sein, überwinterte sie aber im Moor, so bot die ge- 
frorene Sphagnumdecke die einzige Möglichkeit, in dieser Jahres- 
zeit zu ihr vorzudringen. 

Am 10. Januar begann ich meine Untersuchungen. Es herrschte 
7°C Kälte. Nachts sank die Temperatur bis — 10°C. Auf den 
Straßen lag noch hier und da festgetretener Schnee vom Dezember; 
das Moor aber war schneefrei und die picea-Nester also leicht zu finden. 

Bevor ich die einzelnen Nester untersuchte, stellte ich fest, 
dass die Sphagnumdecke 12—15 cm tief gefroren war. Der Wasser- 
spiegel lag 17—20 cm tief. Die Demmereiln innerhalb des gefrorenen 
Sphagnums war Null. Die unmittelbar darunter esancı: unge- 


l) Siehe Formica fusca pieea, eine Moorameise. Biol. Centralbl., Heft 1, 1914. 
XXXV. 5 


66 Bönner, Die Überwinterung von Formica pricea etc. 


frorene Schicht sowie das Wasser zeigten + 2°C. Damit stimmen 
die Messungen J. Steenstrup’s?) überein, der mehrmals die Tem- 
peraturen unterhalb gefrorener Moorschichten gemessen hat und 
sie niemals unter + 2° © fand. 

Ich suchte die Ameisen zuerst ın der erwähnten ungefrorenen 
Moorschicht zwischen dem Wasserspiegel und der gefrorenen 
Sphagnumdecke. Die Untersuchung war leicht; ich brauchte die 
Nester nur ringsum loszuschneiden und abzuheben; aber ich suchte 
vergebens. Ich begann nun eines der größeren Nester freizulegen 
und seiner ganzen Ausdehnung nach in schmale Scheiben auseinander 
zu schneiden, die ich dann einzeln nach Ameisen und anderen In- 
sekten untersuchte. In einem der mittleren Gänge des ge- 
frorenen Nestes traf ich auf Ameisen (s. Fig. 1). Ungefähr 
100 Arbeiterinnen saßen dicht gedrängt um 2 Königinnen. Alle 
Wände des Ganges wie des ganzen Nestes waren weiß 
von auskristallisierten Eisnadeln und so hart, dass sie 
wie Glas zersplitterten. An den Ameisen waren die Exkre- 
mente und andere Eispartikel festgefroren. Die Bewohner des 
Nestes blieben trotz der Erhellung und obgleich ich die Nestteile 
eine Stunde weit transportierte, um sie zu Hause zu photographieren, 
an der gleichen Stelle sitzen. Sie waren aber keineswegs steif ge- 
froren oder auch nur erstarrt, sondern geschmeidig wie gewöhnlich. 
Nicht selten bewegten sie Beine oder Fühler. Im warmen Zimmer 
erholten sie sich nach einigen Stunden völlig und kletterten mit 
gewohnter Lebhaftigkeit im Beobachtungsnest umher. Im Moor 
untersuchte ich noch eine Anzahl Nester; in allen, die eine voll- 
ständige Durchsuchung gestatteten, fand ich die Ameisen in einem 
der Gänge eingefroren. Meist saßen sie etwas unterhalb oder in 
der Mitte des Nestes. Sie waren also bei der allmählich ein- 
dringenden Kälte nicht einmal in die tiefer liegenden Moorschichten, 
von denen die unterste sogar noch ungefroren war und +2° C 
zeigte, hinabgestiegen. Bei einigen besonders großen und alten 
Nestern war das Baumaterial so zusammengefroren, dass es mir 
mit dem Werkzeug, das ich bei mir führte, unmöglich war, die 
Masse zu zertrümmern. Nur in solchen Nestern fand ich die 
Ameisen nicht. 

Die Widerstandsfähigkeit von Formica picea gegenüber der 
Kälte erfährt eine interessante Erläuterung durch eine Beobachtung, 
die mein Freund J. Wolfisberg(Kopenhagen) machte. Er hatte ein 
Beobachtungsnest der Moorameise nach der von mir angegebenen Art 
und Weise eingerichtet und im Dachgarten seiner Wohnung frei aufge- 
stellt. Unverhofft eintretende Kälte ließ das ganze Nest zu einem 
Eisklumpen zusammenfrieren, der durch seine Ausdehnung das Glas 


2) Amtl. Bericht d. 24. Versammlung deutsch. Naturf. und Ärzte in Kiel 
1846, p. 135. 


Bönner, Die Überwinterung von Formica pieca ete. 67 


zertrümmerte. Er hielt das Nest für vernichtet und hieß es an Ort 
und Stelle liegen, ohne sich weiter darum zu kümmern. Wie staunte 
er, als er nach einigen Wochen den aufgetauten Sphagnumklumpen 
in die Hand nahm und die Ameisen noch munter und unbeschädigt 
vorfand. Leider wissen wir nicht, wie die Ameisen sich in diesem 
Fall während des Frostes verhalten haben, aber es scheint mir nicht 
ausgeschlossen, dass Formica picea, wie es von anderen Tieren be- 
kannt ist, ein völliges Hartfrieren und Wiederauftauen überleben 
kann. Der Temperaturwechsel muss nur langsam vor sich gehen, 
wie es Ja unter den natürlichen Umständen auch der Fall ıst. Das 
Wasser findet dann Zeit, aus den Geweben auszukristallisieren 
bezw. wieder ın sie einzudringen, ohne sie zu zerstören. Selbst- 
verständlich dürfen die Ameisen ebensowenig wie die Tiere, bei 
denen man ein schadloses Hartfrieren nachgewiesen hat, völlig vom 
Wasser umgeben sein, da sonst der Druck, der durch dıe Gefrier- 
ausdehnung des Eises entsteht, den Organısmus zermalmt. Künst- 
liche Einfrierungsversuche, die ıch anstellte, blieben alle erfolglos; 
teils, weil es recht schwierig ist, eine genügend langsame Tempe- 
raturerniedrigung künstlich herzustellen, teils weil es nicht ausge- 
schlossen ıst, dass die Ameisen durch die benutzten Kältemischungen 
(Kohlensäure oder Äther) Schaden gelitten hatten. 

Im Anschluss daran möchte ich auf einige in botanischen Ar- 
beiten niedergelegte Beobachtungen über die Überwinterung von 
Ameisen hinweisen, auf die mich Prof. Eug. Warming aufmerk- 
sam machte. In den Salzmarschen der Nord- und Ostseeküsten 
findet man eine auffällig große Anzahl Ameisenhaufen, die wegen 
ihrer eigentümlichen Vegetation seit langem das Interesse der 
Botaniker auf sich gezogen haben. Über den Einfluss, den die 
Ameisen hier auf die Zusammensetzung der Flora ausüben, möchte 
ich im Zusammenhang an anderer Stelle berichten. An dieser Stelle 
solluns nur das Überwinterungs- oder genauer das Überschwemmungs- 
problenı dieser Ameisen beschäftigen, mit um so mehr Grund, als 
das UÜberschwemmungsproblem auch für Formica picea von Be- 
deutung ist, wie wir später sehen werden. 

Die Entstehung der Salzmarschen als eine Ablagerung des 
Meeresschlammes zur Zeit der Flut bedingt ihre geringe Höhe über 
dem Meeresspiegel. Die Folge davon ist, dass die Salzmarschen 
im Herbst und Frühling teilweise oder ganz für kürzere oder längere 
Zeit unter Wasser stehen. Oft ragen dann die 30—40 em hohen 
Haufen von Lasius flaruıs und Myrmica ruginodis mit ihrem obersten 
Teil über die Wasserfläche heraus, und hier oben hausen dann die 
Ameisen; oft aber steht auch der ganze Haufen unter Wasser, und 
dann leben die Ameisen in der Tiefe des Baues. Die Überschwem- 
mung der Ameisen ist auf Fanö von Warming°), auf Langeoog 


3) Dansk Planteväkst, Bd. 1, p- 254. Dort findet man auch die übrige Literatur. 


ı) 


65 Bönner, Die Uberwinterung von Formica picea etc. 


von Buchenau, auf Amager von E. H. Ostenfeld und mir be- 
obachtet worden. Die Ameisen werden von den Fluten nicht ge- 
tötet. Diese Tatsache ıst in jedem Falle merkwürdig. Die Be- 
wohner von Langeoog erzählten Buchenau®), die gelben Ameisen 
(Lasius flarus) konstruierten ım Herbst eine etwa eigroße und sehr 
harte Hülle, in der sie den Winter überdauerten. Diese Hülle seı 
wasserdicht und bewahre die Tiere vor Berührung mit dem See- 
wasser. Buchenau bat ım November 1874 einen Bewohner von 
Langeoog um Zusendung einiger solcher Gebilde. Er erhielt nur 
das Stück eines Ameisennestes, aber absolut nichts, was einer Hülle, 
einem Gespinst oder dergl. entsprochen hätte. Die erdige Sand- 
masse, die man ihm zusandte, war von zahlreichen Gängen durch- 
setzt, in denen einige Ameisen umherliefen. In der Mitte befanden 
sich Höhlungen, ın welchen die Ameisen massenhaft beisammen 
waren; auch diese Tiere waren munter. Einige Höhlungen waren 
mit Puppen sehr verschiedener Entwickelungsstadien angefüllt. 
Soviel Buchenau’s Mitteilungen. Genaueres kann ich leider auch 
nicht angeben; ich wollte nur auf diese zerstreuten Beobachtungen 
hinweisen und kehre zu Formica picea zurück. 

Die gefrorenen Sphagnumnester ließen einen klaren Einblick 
in ihre Bauart gewinnen. Die weiße Sphagnumkuppel, die ich 
früher als Sonnendach bezeichnete, ıst äußerst leicht gebaut und 
hat kaum die Dicke eines Löschpapiers. Sie ist trocken, luftgefüllt 
und deshalb weiß; ıhr Zweck ist offenbar, vor direktem Sonnen- 
licht zu schützen und doch eine völlige Durchwärmung der obersten 
Nestkammer zu ermöglichen. Gegen direkte Bestrahlung ist pice« 
sehr empfindlich: und zwar sınd es die Wärmestrahlen, die sie ge- 
nieren, wie aus folgendem Versuch hervorgeht. Ein kleines Be- 
obachtungsnest, das 2 Königinnen und ein Dutzend Arbeiterinnen 
enthielt, wurde ca. 20cm unter den Kohlenspitzen einer elektrischen 
Bogenlampe von 500 Kerzen Lichtstärke aufgestellt, deren Strahlen 
noch durch eine Sammellinse konzentriert wurden. Bei Schluss des 
Lichtkreises musste das Lichtbündel unmittelbar auf die Ameisen- 
gruppe fallen ohne dass sie durch die geringste Erschütterung ge- 
stört worden wäre. Ich konnte somit die ausschließliche Wirkung 
der Belichtung studieren. Obgleich das Licht nach dem Ein- 
schalten mit blendender Fülle die Ameisen überflutete, so dass 
eine Beobachtung ohne Schutzbrille kaum möglich war, zeigten 
diese auch nicht mit dem geringsten Fühlerzucken eine Wahrneh- 
mung desLichtes; es war als ob sie blind wären. Nach 20—30 Se- 
kunden wurden die Fühlerbewegungen lebhafter zum Zeichen einer 
behaglichen Stimmung; nach 40 Sekunden wurden die Bewegungen 
unruhiger und hastiger und nach 50-60 Sekunden seit Einschalten 
des Strömes verließen alle ın eiliger Flucht, dıe Königinnen voran, 





4) Abh. Naturw. Vereins Bremen IV, p. 215, Nachtrag p. 276. 


Bönner, Die UÜberwinterung von Formica pieeq etc. 69 


den Lichtkreis. In den unbeleuchteten Nestteilen angelangt, waren 
sie bald wieder ruhig; einzelne, die sich beim Umherlaufen dem 
Lichtkreis näherten, fuhren plötzlich gleichsam von Schmerz durch- 
zuckt zurück, wenn sie mit einem Körperteil in den Lichtkreis ge- 
raten waren. Eine Anzahl, die nicht aus dem Lichtkreis entfliehen 
konnten, lagen bald mit zitternden Gliedmaßen verendend am Boden. 
Die Temperatur innerhalb des Lichtkreises war gegen Ende des 
Versuches auf 37° © gestiegen; die Flucht der Ameisen fand bei 
26—28°C statt. Bei einem weiteren Versuch, der den natürlichen 
Bedingungen besser entsprach, ließ ich das Licht aus ca. 15 cm Ent- 
fernung direkt auf die Sphagnumdecke eines Beobachtungsnestes 
fallen. Obgleich die Wärmewirkung das im Torf enthaltene Wasser 
zum Verdampfen brachte, wurden die Ameisen, die wenige Zenti- 
menter tiefer hausten, kaum gestört. Eine Anzahl Exemplare, die 
oben auf dem Sphagnum herumliefen, verhielten sich gegenüber 
der direkten Wärme ebenso, wie die Ameisen des ersten Versuches: 
sobald sie in den Lichtkreis gerieten, stürzten sie auf demselben 
Wege, auf dem sie hineingekommen waren, wieder hinaus. Im 
natürlichen Nest schützt das Sonnendach vor den direkten Wärme- 
strahlen; die Temperatur wird aber selbst in der obersten Kammer 
nicht unerträglich werden, da ja schon der Boden und die Wände 
dieser obersten Etage mit Wasser getränkt sind, das durch seine 
Verdunstung die Temperatur herabsetzt und durch die bekannte 
Kapillarwirkung des Sphagnumtorfes immer wieder ersetzt wird. 
Das Endresultat ıst also jene den Ameisen überaus angenehme 
feucht-warme Treibhausluft. So weit über die Nestkuppel. 

Die übrigen Wandungen des Nestes (s. Fig. 2 und 3) sind 
2—5 mm dick und bilden ein System von ziemlich deutlich etagen- 
förmig angeordneten Gängen. Nur in den unteren Partien findet 
man zuweilen größere Kammern. Als Stütze des Baues dienen 
vor allem die ungemein festen Oxycoccusstengel. Schon bei den 
Untersuchungen des Moores im vorigen Sommer war mir die 
Festigkeit besonders älterer Bauten aufgefallen. Sie sind bedeutend 
stärker als die umgebende Sphagnumdecke. Die kleinen Moos- 
partikel sind so eng zusammengepackt, dass das aus ihnen be- 
stehende Baumaterial härter und solider wird als der gepresste 
Torf, den man als Belag von Insektenkasten verwendet. Die Nester 
scheinen mir vielmehr ın das lebende Sphagnum hineingebaut als 
aus ıhm herausgegraben zu sein, in dem Sinne, dass die Ameisen 
Nestmaterial zum Bau zusammentragen und nicht aus ihm heraus- 
tragen. Auf das Hineintragen grüner Sphagnumspitzen werde ich 
später noch zu sprechen kommen. Nach Adlerz ®) sind die Nester 


5) Arkiv för Zoologi v. 8, p. 1, 1914. Formica fusca-picea Nyl., en torf- 
mossarnas myra. Diese Abhandlung ist auch an den übrigen Stellen gemeint, wenn 
nichts Besonderes angegeben ist. 


70 Bönner, Die Uberwinterung von Formiea picea ete. 


ausgegraben und das ausgegrabene Material zum Bau der Nest- 
kuppel verwandt worden. Jedoch übersteigt die Sphagnummasse, 
die innerhalb eines Nestes auf einem bestimmten Raum angehäuft 
ist, sicherlich die Sphagnummasse, die das Sphagnum selbstätig auf 
einem gleichgroßen Raum anhäuft. Dieser Unterschied ist wohl nur 
durch die Annahme erklärbar, dass die Ameisen Material zum Bau 
oder zu anderen Zwecken herbeitragen. Vielleicht ist es noch am 
besten, wenn man sagt, es handle sich weder um ein einfaches Aus- 
graben noch ein einfaches Aufbauen, sondern um ein Umbauen 
der lockeren Sphagnummasse zu einem festen Nest, wobei kaum 
ein Sphagnumblättchen auf seinem ursprünglichen Platz bleibt und 
auch neue Moosfragmente herbeigeschafft werden. 

Über die Entwickelungsstadien der Nester kann ich folgendes 
mitteilen. Mehrmals fand ich Nester an Stellen, wo jede Spur 
von einem Kuppelbau fehlte. Diese Nester waren sehr volkarm 
und hatten weder Larven noch Puppen. Ich vermute deshalb in 
diesen Nestern junge Niederlassungen; ganz unter den gleichen 
Umständen fand ich im Moor eine aus einem Dutzend Arbeiterinnen 
und einer toten Königin bestehende Myrmica laevinodis-Kolonie. 
Wenn die Nester Brut hatten, fand ich sie stets mit einer Kuppel 
überwölbt‘®). Durch diesen Bau gehen die Sphagnumpflanzen, so- 
weit sie nicht schon von den Ameisen abgebissen sind, zugrunde; 
Oxycoceus palustris, Eriophorum vaginatum, Empetrum nigrum 
und Calluna vulgaris, die für das Lyngbymoor charakteristisch sind, 
wachsen ungestört weiter und geben dem Bau einen Teil seiner 
Festigkeit. Indem diese Pflanzen die Kuppel allmählich überwuchern, 
entziehen sie sie den Blicken. Die alten, großen Nester werden 
deshalb gerade durch das Vorherrschen der genannten Phanero- 
gamen verraten. 

Formica picea scheint ıhre Wohnung sehr leicht zu verlegen. 
Alle Nester, die ich, wenn auch nur ganz oberflächlich, störte, fand 
ich stets beim nächsten Besuche verlassen. Dazu stimmt die An- 
gabe Sahlberg’s, er habe die gemischte Kolonie sangwuinea-picea 
nicht wiederfinden können; sie war wohl ausgewandert. Diese Eigen- 
tümlichkeit hängt bei picea vielleicht mit den anspruchslosen 
Forderungen zusammen, die sie an einen Wohnort stellt. An jeder 
Stelle der Sphagnumdecke findet sie sie vollauf befriedigt, und 
mit wenig Arbeit ist das Heim notdürftig hergestellt. Vielleicht 
gelten ähnliche Gesichtspunkte auch für andere Ameisen z. B. baut 
Tapinoma erraticum, die, wie der Name sagt, sehr häufig wechselt, 
ganz kunstlose und oberflächliche Nester in Erdhäufchen oder unter 
Steinen, während Lasius fuliginosus, der wohl am schwersten aus 
seinem Bau zu vertreiben ist, das kunstvollste Nest unter unseren 
einheimischen Ameisen verfertigt. Auch folgende Beobachtung 


6) Vgl. die unten angeführten Beobachtungen von Kuhlgatz. 


Bönner, Die Uberwinterung von Formica picea etc. 1 


beweist noch, wie leicht picea auswandert. Eine ganze Anzahl von 
Nestern, die ich zu Hause untersucht hatte, wurden mit allem In- 
halt an einer feuchten Stelle zwischen Moos und Irisstengeln aus- 
geschüttet. Ich setzte noch einige Königinnen zu dem Haufen und 
sah dann, wie die Ameisen in den nächsten Tagen ein Nest 
einrichteten. Wochenlang konnte ich sie auf den lIrisblättern 
herumlaufen sehen. Seitdem ich aber das Nest geöffnet habe, um 
zu erfahren, wie sie sich den neuen Verhältnissen angepasst 
hatten, sind alle spurlos verschwunden. Es handelte sich um 
mehrere tausend Ameisen. In diesem Falle lag aber die nächste 
Sumpfgegend wohl einen Kilometer entfernt. 

Ich fand die Nester mehrmals gegen den Wasserspiegel hin 
durch eine 1—2 em dicke Schicht aus Sphagnumfragmenten ab- 
gegrenzt; besonders war das bei alten Nestern der Fall. Nach 
Adlerz’ Beobachtungen setzten sich die Gänge des Nestes unter 
dem Wasserspiegel fort, ja die Ameisen suchten sogar auf der 
Flucht vor dem Verfolger unter dem Wasser ıhr Versteck, wo sie 
sich noch festbissen, um nıcht ın die Höhe getrieben zu werden. 
Nach einigen Minuten kamen sie dann wieder zum Vorschein und 
versteckten sich ın Nestteilen über dem Wasserspiegel. Adlerz 
vermutet, es liege hier eine ziemlich weit fortgeschrittene An- 
passung an das feuchte Element vor. In dieser Ansicht wurde er 
bestärkt durch einige einfache Versuche. Von fünf picea nämlıch, 
die er 24 Stunden unter Wasser setzte, bestanden zwei die Wasser- 
probe, indem eine völlig gesund, die andere nur mit einem kleinen 
Rest von Leben davonkam. Ich wiederholte das Experiment mit 
picea. Nach 24 Stunden entnahm ich die Ameisen dem Wasser; 
nach weiteren 24 Stunden waren alle wieder zum normalen Leben 
zurückgekehrt, so dass ich sie wieder zu ihren Kameraden ins Be- 
obachtungsnest setzen konnte. Um zu entscheiden, ob es sich 
wirklich um eine Anpassung ans Wasserleben handelt, die Formica 
picea eigentümlich ist, machte ich einen Gegenversuch mit Lasius 
flavus, die ich aus ihrem Winterquartier ausgrub. Ich ließ ihnen 
im warmen Zimmer Zeit, sich etwas zu erholen und unterwarf dann 
ebenfalls fünf Exemplare dem Versuch. Nach 10 Stunden Aufent- 
halt unter Wasser entnahm ich zwei dem Gefäß; 3 Stunden später 
waren sie wieder völlig munter. Die drei übrigen blieben 20 Stunden 
unter Wasser, wo ein Sieb den Auftrieb verhinderte. Abends be- 
befreite ich sie aus ihrem feuchten Gefängnis; am folgenden Morgen 
liefen auch sie umher ohne ein Zeichen irgendwelcher Beschädigung. 
Einen Tag später fand ich zwar alle fünf tot, wahrscheimlich aber 
nur, weil ich vergessen hatte, sie aus einem kleinen, fest ver- 
schlossenen, trockenen Glasröhrchen herauszunehmen. Wegen 
Mangel an Versuchsmaterial kann ich augenblicklich nicht ent- 
scheiden, inwieweit diese Beobachtungen von anderen Ameisen 


m Bönner, Die Uberwinterung von Formica picea etc. 


gelten”); sicher aber kann man diese Tatsache kaum als einen 
Grund für eine besondere Anpassung von Formica picea ans 
Wasserleben anführen. Höchst interessant wäre es, wenn sıch die 
freiwillige Flucht unter das Wasser bei Formica picea bestätigte. 
Jedoch glaube ich, dass bis jetzt noch eine einfachere Erklärung 
möglich ist. Das Benehmen der Ameisen, die im Beobachtungs- 
nest unter das Wasser gerieten, machte mich stutzig. Da diese 
Nester einige CGentimeter hoch mit Wasser gefüllt sind, ist es sehr 
leicht, Ameisen, die sich ın den untersten Gängen des Nestes be- 
finden, unter das Wasser zu bringen: man braucht das Glas nur 
schief zu halten. Bei diesen Versuchen beobachtete ich, wie die 
betreffenden Ameisen in sichtbarer Unruhe und ohne jede 
Orientierung in Nestteilen, die ihnen völlig bekannt 
waren, umherirrten. Den Körper dicht an die Unterlage ge- 
presst, um nicht durch den Auftrieb des Wassers losgerissen zu 
werden, krochen sie, mit den Fühlern unruhig umhertastend, lang- 
sam durch die Gänge, um oft, wenn sie dieht unter dem Wasser- 
spiegel angelangt waren, wieder ins tiefere Wasser zurückzukehren. 
Nach 2—3 Minuten verloren sie das Bewusstsem. Der Mangel an 
Orientierung lässt sich durch das Versagen der topochemischen 
Wahrnehmungsorgane der Ameisen erklären, die unter Wasser 
ihren Zweck wohl nicht mehr erfüllen können. Liefen die Ameisen 
nach Adlerz’ Beobachtungen dennoch ins Wasser, so möchte ich 
dafür die „kopflose Angst“ verantwortlich machen. Nach einer 
brieflichen Mitteilung glaubt Adlerz, dass er die Nester zufällig 
bei sehr hohem Wasserstand getroffen habe, und dass deshalb das 
Wasser in die unteren Nestgänge eingedrungen sei. Es ist nicht 
einmal notwendig, dıes anzunehmen, um zu erklären, weshalb ein- 
zelne Gänge unter den Wasserspiegel führten. Wenn man ım Moor 
vor einem Neste steht, um es zu untersuchen, so ist durch die Körper- 
schwere die ganze Sphagnumdecke im Umkreis von einem Meter 
5—10 em, wenn das Moor sehr schwankend ist noch mehr, herab- 
gedrückt. Infolgedessen werden die untersten Nestpartien leicht 
unter Wasser gesetzt. Wie dem aber auch sein mag, ich glaube, 
wir müssen annehmen, dass die Ameisennester im normalen Zu- 
stand völlig über dem Wasser liegen. Eine Ameise, die auf einem 
der untersten Gänge entflieht — und hierhin entfliehen die meisten 
— kann recht wohl, wenn der Gang zufällig unter Wasser steht, 
in dieses hingeraten und sich in dem Sphagnum festbeissen. Nach 


”) P. Wasmann teilt mir mit, dass Arbeiterinnen von Formica-Arten, die 
im Zuckerwasser des Fütterungsapparates seiner Beobachtungsnester ertrunken waren 
und viele Stunden oder selbst einen Tag darin gelegen hatten, wieder zum Leben 
kamen, wenn sie in reines Wasser gelegt, damit die Stigmen nicht zukleben, und 
dann langsam getrocknet wurden. Königinnen von Monomorium Pharaonis kamen 
sogar nach 3 Tagen wieder zum Leben, nachdem sie unterdessen im Wasser gelegen 
hatten. 


Bönner, Die UÜberwinterunge von Formiea picea etc. 3 
s (x 


einiger Zeit wird sie Bemühungen machen aus dem Wasser heraus- 
zukommen, und wenn ihr das gelingt, möchte ich es eher einen 
Zufall nennen. Welche von beiden Erklärungen die richtige ıst 
möchte ich aber noch nicht entscheiden. 

Die bei Formica picea zuerst gefundenen und beschriebenen 
Moornester sind für diese Ameise nicht charakteristisch, da sie 
weder stets noch ausschließlich bei ihr gefunden werden. [Dies 
bestätigt auch eine, während der stark verzögerten Drucklegung 
dieser Arbeit erschienene Notiz von Forel. Er fand Formica picea 
in den Torfmooren von Boche bei Yvorne. Die Ameisen bauten 
hier ähnlich wie die r«fa-Arten. Auf dem Korrekturbogen bei- 
gefügt.] 

Am 25. Februar fand ich eine große Anzahl der Birken, die 
das Lynbymoor bewachsen, abgehauen. Durch die zahlreichen 
30—50 em hohen Strünke, die zurückgeblieben waren, wurde ıch 
auf die morschen Birkenstrünke aufmerksam, die von früheren Ab- 
holzungen herstammten. Ich begann sie zu untersuchen, und 
gleich der erste, den ich mit leichter Mühe abbrach, war ge- 
füllt mit Formica picea. In eigroßen, ovalen Räumen saßen Hun- 
derte von Arbeiterinnen mit einigen Königinnen. Die Ameisen 
waren noch in der Winterruhe und verhielten sich ziemlich ruhig. 
Die Kammern waren anscheinend von Käferlarven ausgehöhlt und 
von den Ameisen erweitert; einige engere Gänge waren nämlich 
noch mit Holzmehl angefüllt, wie man es als Arbeit von Käfer- 
larven findet. Die von Ameisen bewohnten Kammern konnte man 
leicht erkennen; ihre Wände waren von einer schwarzen Farbe 
durchdrungen, die mehrere Millimeter tief ins Holz eingedrungen 
war, während die Kammern, die nicht von Ameisen benutzt wurden, 
die natürlich weißen Wände zeigten. Dieser Aufenthaltsort war 
von außen um so schwieriger zu erkennen, als alle Ausgänge des 
Nestes unten im Stamm innerhalb der Sphagnumschicht lagen, 
was wohl auf eine Beziehung der Ameisen zum Moore hindeutet. 
Unter der Rinde des gleichen Birkenstämmchens lebte eine Kolonie 
Leptothorax acervorum, die kleine Larven enthielt. Es war eine 
sehr kleine Form mit spärlicher Behaarung, ganz ähnlich Nylan- 
ders Lept. muscorum, die ja für die alten Birkenstämme in Hoch- 
mooren charakteristisch ist. Von drei weiteren Stämmen, die ich 
untersuchte, war wieder einer von picea bewohnt. 

Die Mn ornehter sind um so weniger für pecea eigentümlich, 
als sie auch bei anderen Ameisen ln lar worden sind; sie 
scheinen ein allgemeinerer mes pus der Ameisen an das 
Moorleben zu sein und bilden einen neuen Beweis für die große 
Anpassungsfähigkeit der psychischen Begabungen der Ameisen. 
Aus Sahlberg’s Schilderung des sangwinea-picea-Nestes konnte 
man das nicht schließen, da der Nesttypus sich häufig nach der 


‚) 


Ta Bönner, Die UÜberwinterung von Formica picea ete. 


Sklavenart richtet. Anders liegt es bei Kuhlgatz’ °) Beobachtungen, 
dessen Beschreibung ich wörtlich anführen will: „Auf einem anderen 
(srasbult entdecke ich zwischen aufragenden Halmen einen 
eigentümlichen Kuppelbau. Die nähere Betrachtung seines 
Details mit Hilfe der Lupe zeigt, dass der Bau aus winzigen 
Rudimenten von Sphagnummoos besteht. Ich nehme eine 
Skizze und trage dann die Kuppel vorsichtig ab. Sofort sehe ich 
auch hier wieder die Knotenameise (Myrmica scabrinodis) hausen. 
Die Kuppel dient den Tieren zur Pflege ihrer Brut. Eier, Larven 
und Puppen bedürfen zu ihrer Entwicklung viel Wärme und 
Sonnenschein. Aber die hohen Halme des Bultes beschatten zu 
sehr. So bauen die Ameisen sich ein Türmchen zur Sommerkur 
für ihre Nachkommenschaft. Bei bedecktem Himmel und Regen- 
wetter tragen sie sie wieder hinunter. — In manchen Grasbulten, 
die ich sonst noch öffnete, fand ich andere Ameisenarten, in den 
Bulten überhaupt ein reiches Tierleben. Die Bulte sind als Trocken- 
inseln in der feuchten Sphagnummatte für viele Kleintiere Wohn- 
und Entwickelungsstätte. Man kann sıe als Zentren auffassen, aus 
denen immer wieder neues Leben ın das Moor ausgeht.“ Augen- 
scheinlich haben wir es hier mit dem gleichen Nesttypus zu tun, 
wie er von picea beschrieben ist. 

Auch die Mitteilungen Kuhlgatz’ über „andere Ameisen“ ım 
Moore verdienen Interesse. Die Zahl der Ameisen nämlich, die 
ın ziemlich feuchter Umgebung oder gar ım Moor gefunden wurden, 
ist gar nicht gering. Adlerz teilt sie nach der größeren oder ge- 
ringeren Gesetzmäßigkeit, mit der sie ın Sumpfgegenden auftreten, 
in mehrere Gruppen ein. 

Gruppe 1 bilden jene, die nur ausnahmsweise auf feuchtem 
Boden getroffen werden; wahrscheinlich wurden die Weibchen nach 
dem Paarungsflug dorthin verschlagen, es gelang ıhnen aber, sich 
allein oder mit fremder Hilfe in den neuen Verhältnissen zurecht 
zu finden. Hierhin gehören nach Adlerz: Formica sangwinea, 
Form. fusca, Camponotus herculeaneus, Lasius niger, Leptothorax 
acervorum und Harpagoxenus sublaevis. Für sangwinea sind diese 
Angaben durch Sahlberg und vielleicht auch durch Bondroit 
bestätigt. Nach mündlicher Mitteilung fand Mag. Henriksen 
Formica fusca und Lasius mixtus in einem Sphagnummoore. Im 
gleichen Moor fand er ın quartären Schichten Tetramorium caespi- 
fım und Myrmica scabrinodis, welch letztere Adlerz aber der fol- 
genden Gruppe zuteilt. Ich selbst fand, wie oben schon gesagt, 
ebenfalls Leptothorax acervorum und außerdem ZLasius niger ım Moor. 

(sruppe 2 umfasst nach A dlerz Formica exsecta, Myrmica scabri- 
nodis, ruginodis und laevinodis, man findet sie nach ıhm zwar auf 

S) 32. Bericht des Westpreußischen Botanisch-Zoologischen Vereins. Danzig 
1910, p. 80. 


Bönner, Die UÜberwinterung von Formica pieea etc. 75 


trockenem Boden, jedoch meistens und am zahlreichsten in Sümpfen 
und feuchten Örtlichkeiten. Für ruginodis, laevinodis und exsecta 
ist das bekannt, für scabrinodis jedoch überraschend, da ihr bisher 
immer eine Vorliebe für trockene, ja dürre und sandige Stellen zu- 
geschrieben wurde. Doch fanden Kuhlgatz und Henrichsen 
sie ebenfalls ın Mooren. 

Gruppe3 bildet Formica sueeica Adl., die ausschließlich in der 
Nähe von Sümpfen oder wenigstens von Wasser vorkommt, jedoch 
keine besondere Anpassung erkennen läßt. 

Gruppe 4 stellt Formica picea, die sich „anscheinend vollständig 
für das Leben ım Hochmoor angepasst hat, in dem ich sie bisher 
nur angetroffen habe“ (Adlerz). 

Diese letzte Bemerkung von Adlerz gibt mir Gelegenheit, etwas 
auf die Verbreitung von Form. picea einzugehen. Die Vermutung, 
dass bei manchen in der Literatur angeführten Fundorten für 
gagates eine Verwechslung mit pzcea vorliegt, hat in den meisten 
Fällen eine Bestätigung gefunden. Für England war eine Revision 
der Angaben Saunder’s bereits von Donisthorpe°) im vorigen 
Jahre durchgeführt. Von ıhm und anderen wurde picea unter 
gleichen Umständen im New Forest gefunden. Adlerz !%) publi- 
zierte gleichzeitig mit mir und unter demselben Titel eine Arbeit 
über pzcea, die große Übereinstimmung mit der meinigen zeigt. 
Er fand die Ameisen in Sphagnummooren des mittleren Schweden 
bei Borgsjö, Liden und Alnö. Nach einer brieflichen Mitteilung 
beziehen sich seine früheren Augaben über yagates bei Kongsvold 
in Norwegen auf Formica picea. Dagegen sind die Ameisen, 
die er auf Öland fand und als gagates bezeichnete, keine 
picea, sondern müssen als eine gagates-ähnliche fusca-Form ange- 
sehen werden wie die fasco-gagates-Varietät, dıe Forel aufstellte. 
Adlerz fand diese Ameisen auch nicht ın Mooren, sondern auf 


trockenem Boden. Im nördlichen Osteobottnien — nebenbei be- 
merkt wohl dem nördlichsten Fundort für Ameisen, fast unter dem 
Polarkreis! — wo Nylander picea schon gefunden hatte, hat sie 


neuerdings Räsänen!!) wiedergefunden, aber als gagates bestimmt. 
Die Vermutung, die Emery 1909 aussprach, nämlich dass pice«a 
wohl bis nach Ostasien und China verbreitet sei, hat eine interes- 
sante Bestätigung gefunden, indem Forel!?) unter dem Material, 
das ihm von der Insel Formosa zugesandt wurde, eine Varietät von 
Formica picea fand, der er den Namen v. formosae gab. Dieser 
Fundort ist auch insofern auffällig, als dıe Fauna der Insel haupt- 


9) The Entomologist’s Record v. 25 p. 67—68, Myrmecophilous notes for 1912, 

10) 1. ec. oben S. 69 Anm. 5. 

11) Meddelanden af:Soc. pro Fauna et Flora fennica v. 38 p. 52 (finnisch mit 
schwedischem Resume). 

12) Arch. für Naturgeschichte v. 79, 1913, Heft 6, p. 201. 


76 Bönner, Die Überwinterung von Formica picea etc. 


sächlich malaischen Charakter trägt, picea v. formosae also (mit 
einigen anderen Arten) als ein paläarktischer Überläufer zu be- 
trachten ist. Leider fehlen noch biologische Angaben, so dass wir 
nicht wissen, ob diese Varietät auch an Moore gebunden ist. 

Zum Schlusse möchte ich noch die Aufmerksamkeit auf einige 
Punkte lenken, über die ich keine Klarheit gewinnen konnte. Ad- 
lerz fand in dem Sphagnummaterial der picea-Nester Pilzhyphen, 
die nach seiner Ansicht zur Festigkeit des Baues beitragen oder 
auch den Ameisen zur Nahrung dienen können und deshalb viel- 
leicht von ihnen kultiviert werden, wie es von anderen Ameisen 
bekannt ist. Ähnliche oder sogar die gleichen Pilzbildungen waren 
mir auch aufgefallen. Ich hielt sie für die bei den Ericaceen, Empe- 
traceen und vielen Humusbewohnern häufigen Mykorrhizabildungen, 
und Genaueres habe ich auch bis jetzt noch nıcht feststellen können. 

In Nestern, die ich ım Moor untersuchte, fand ich mehrmals 
grüne Stengelspitzen von Sphagnum, die eben abgerissen zu sein 
schienen, an Stellen, wohin sie unmöglich von selbst kommen 
konnten. Ganz das gleiche beobachtete ich in künstlichen Nestern 
Ich kann das nur durch die Annahme erklären, dass die Ameisen 
diese Moosfragmente losgerissen und ins Nest geschleppt hatten; 
jedoch habe ich nie eine Ameise solch einen frischen Sphagnum- 
teil tragen gesehen. Vielleicht steht diese Beobachtung in Be- 
ziehung zu den Pilzhyphen. 

Ähnlich ging es mir mit einem eigentümlichen Dimorphismus der 
Arbeiterinnen von Formica picea. Bei Untersuchungen der Nester 
in der freien Natur fielen mir die zwei Typen zuerst als hellere 
und dunklere Exemplare auf, die ungefähr ın gleicher Anzahl 
vorhanden waren. Da es Januar war, konnten es schwerlich un- 
ausgefärbte Exemplare sein. Im Beobachtungsnest sah ich dann, 
dass die hellen, fast grauen Individuen meist 1—2 mm größer 
waren als die tiefschwarzen; der Hinterleib war unverhält- 
nısmäßig größer. Zu diesen morphologischen Unterschieden 
lernte ich biologische kennen. Die großen Individuen sitzen mei- 
stens im Innern des Nestes in Klumpen zusammen, die kleinen 
Individuen sind oben auf dem Neste oder ordnen das Nest. Bei 
Störung des Nestes fliehen die großen Exemplare nach unten, die 
kleinen stürzen zur Verteidigung heraus. Dies fiel mir besonders auf, 
als ich einmal das Nest unvorsichtig öffnete und mir die Ameisen 
wütend entgegen kamen. Ehe ich geschlossen hatte, waren 26 
herausgelaufen, ich fing sie ein; es waren alles kleine schwarze 
Exemplare, was unmöglich Zufall sein konnte. Der letzte Umstand 
erklärt auch, warum einem beim Öffnen eines Nestes in freier 
Natur zuerst nur die kleinen schwarzen auffallen, so dass man sie 
auf den ersten Blick mit großen Lasius niger verwechseln kann, 
wie ich früher schrieb. Wahrscheinlich haben wir es hier mit einer 


Biologisches Centralblatt 1915. Taf. 1. 











Eisal® 
Gefrorenes Nest von F. picea senkrecht durchgeschnitten (?/,). Rechts etwas unter der 
Mitte die Ameisen. 





Fig.2. Fig: 3. 
Stück aus dem Innern eines Nestes von Das gleiche Stück wie Fig. 2, aber von 
F. picea. Von oben gesehen. (Etwas vergrößert.) der Seite gesehen. (Etwas vergrößert.) 


27 


er 





Mertens, Zur Frage des Melanismus bei Eidechsen etc. er 


gynäkoiden Arbeiterform zu tun, wie sie Wasmann!*) schon 
bei Formica sangwinea, Formica rufibarbis und Polyergus rufescens 
beobachtet hat. Auch dort bildeten sie die obere Grenze der Ar- 
beitergröße, waren heller und fielen durch die Größe des Hinter- 
leibes auf. Merkwürdig scheint mir nur ihre große Anzahl; sie 
bilden — wenigstens in dem Beobachtungsnest, mit dem ich augen- 
blicklich arbeite —, gut die Hälfte der Arbeiterinnen. Auch konnte 
ich bisher nicht entscheiden, ob die vorhandenen zahlreichen Eier 
von den Königinnen allein oder auch von ihnen stammen. Das 
alles wird sich aber leicht durch Experimente klarstellen lassen. 
Adlerz bemerkte auch, dass die Arbeiterinnen, die ın den tieferen 
Teilen des Baues waren, einen auffallend stark angeschwollenen 
Hinterleib hatten, der die helleren Ligamente der Hinterleibsringe 
deutlich durchscheinen ließ. Er benutzt diese Tatsache zur Stütze 
seiner Hypothese, dass die Ameisen von den erwähnten Pilzhyphen, 
die sich vor allem ın den unteren Teilen des Nestes finden, leben. 


Erklärung der Abbildungen. 
Fig. 1. Gefrorenes Nest von F. picea senkrecht durchschnitten (?/,). Rechts 
etwas unter der Mitte die Ameisen. 
Fig. 2. Stück aus dem Inneren eines Nestes von F. picea. Von oben ge- 
sehen (etwas vergrößert). 
Fig. 3. Das gleiche Stück wie in Fig. 2, aber von der Seite gesehen (etwas 
vergrößert). a 
Zur Frage des Melanismus bei Eidechsen 
aus der Lacerta muralis-Gruppe. 
Von Robert Mertens, Leipzig. 


Die im Jahre 1572 von Theodor Eimer entdeckte und als 
Lacerta muralis coerulea beschriebene Eidechse erregte sofort wegen 
ihres Farbenkleides größtes Interesse im Kreise der Zoologen. 
Während man zu der Zeit nur braune oder grüne Mauereidechsen 
kannte, war diese auf dem steilen (äußersten) Faraglionifelsen bei 
Capri beheimatete Eidechse von auffallend schwarzblauer Färbung. 
Nach und nach lernte man noch drei weitere schwarze (resp. schwarz- 
blaue) Formen der Mauereidechse kennen; alle sind sie Insel- 
bewohner. Außer der eben erwähnten ZLacerta coerulea Eimer 
(= faraglionensis Bedriaga) sind es noch die Lacerta lilfordi var. 
typica Günther von den Balearen, die Lacerta melissellensis Braun 
von einigen dalmatinischen Felseninseln (z. B. Melissello) und die 
Laeerta fülfolensis Bedriaga vom Filfolafelsen bei Malta. 

Es ıst klar, dass diese schwarzen Formen sofort Anlass zu 
vielen Untersuchungen gaben, um Grund und Ursache dieses merk- 


13) Biol. Centralbl. v. 15, 1895, p. 606; ferner: Ameisenarbeiterinnen als 
Ersatzköniginnen (Mitt. Schweizer Ent. Ges. XI, 1905, Heft 2), und Zur Kenntnis 
der Ameisen und Ameisengäste von Luxemburg III. Teil 1909. 


7s Mertens, Zur Frage des Melanismus bei Eidechsen etc. 


würdigen Melanismus zu erforschen. Allein keine einzige Hypothese 
konnte genügen. Inzucht, durch Isolation bedingt, konnte den 
Melanısmus nicht fördern, denn sonst wären auch die noch viel 
weiter im Meere gelegenen Gallifelsen von solchen schwarzblauen 
Tieren bevölkert; dortige Tiere sind nach Eimer und meinen per- 
sönlichen Erfahrungen grün, nur die Bauchseite zeigt einige Ver- 
dunkelung (statt weißgrau); auch die Bauchrandschilder sind größer 
und intensiver blau gefärbt. Das Klıma konnte auch nicht die Ur- 
sache des Melanismus sein, denn auf dem nur 150 m entfernten 
Capri, wo klimatische Verhältnisse doch die gleichen sein müssen, 
kommen nur grüne oder grünlichbraune muralis- oder richtiger serpa- 
Echsen vor. Dass den Eidechsen auf dem Faraglioni irgendwelche 
Nahrung zu Gebote steht, die den Melanısmus zur Folge hat, ist 
kaum anzunehmen, denn Eimer, der Arthropoden, die ja in erster 
Linie die Nahrung unserer Echsen darstellen, vom Faraglionifelsen 
bekam, erkannte darunter nichts Auffallendes. Andererseits kann 
auch einseitige Nahrung das Dunkelwerden nicht bedingen, denn 
sonst würden wir ın unseren Terrarien, wo viele Eidechsen meist 
auf einseitige Beköstigung mit Mehlwürmern angewiesen sind, schon 
längst solches wahrgenommen haben, Dass auch ferner, wie es 
Eimer annimmt, die Faraglionieidechsen durch ihre schwarze Fär- 
bung, Schatten und Risse auf hellem Gestein imitieren, d. h., es 
also sich hier um weiter nichts als eine Schutzfärbung handelt, 
braucht wohl nicht erwähnt zu werden, denn was für Feinde sollten 
die Eidechsen auf steilem, auch dem Menschen fast unzugänglichen 
Felsen haben? Eımer erwähnt die Möven, doch nie habe ich 
solche Echsen fangen sehen, da sie doch in erster Linie Fischfresser 
sind. Wenn aber auch wirklich die Eidechsen in den Möven einen 
schlimmen Feind hätten, so wären auch Echsen auf anderen Fara- 
glionifelsen ebenfalls schwarzblau. 

Das Problem wurde noch schwieriger, als man Lacerten vom 
Monacone und den Gallifelsen mit berücksichtigte. Hier sınd 
Eidechsen zu finden mit mehr oder weniger Andeutung an das 
Dunkelwerden der Färbung. Was konnte nun diese Schwarzfärbung 
bedingen? Auf ganz Capri treffen wir nur grüne und braune La- 
certen an, auf dem nur wenige Meter entfernten Felsen plötzlich 
dunkelschwarzblaue; auf anderen Felsen bei Capri finden wir, was 
um so merkwürdiger ist, wiederum gewöhnliche oder nur etwas 
dunkler gefärbte Formen. Nicht als ob es sich auf dem einen Fara- 
glionifelsen etwa um eine neue Art handelte — im Gegenteil, weder 
im Habitus, noch in Beschuppung oder Beschilderung finden wir 
eine Differenzierung von den gewöhnlichen Eidechsen. 

Das heisst nun aber, die Lösung dieses interessanten Problems 
muss auf einem anderen Wege versucht werden. Wenn wir uns 
nämlich die Schwarzfärbung der Faraglioniechse nicht sekundär, 


Mertens, Zur Frage des Melanismus bei Eidechsen etc. 19 


wie man es jetzt allgemein tut, sondern primär vorstellen, so müssen 
wir auch die relativ dunkleren Galli- und Monaconeechsen nicht als 
Formen auffassen, die ım Begriff sind, dunkler zu werden, sondern 
die einstmal dunkel waren und jetzt heller werden. Mit anderen 
Worten, dieses läuft darauf hinaus, dass vor Jahrtausenden ın 
Europa Eidechsen lebten, welche alle ähnlich wie die jetzige schwarz- 
blaue coerulea gefärbt waren. Was nun diese ursprüngliche Fär- 
bung bedingte, ıst ja schließlich Nebensache, doch bin ich der An- 
nahme, dass es das Bedürfnis sich zu sonnen war, das den überaus 
wärmeliebenden Lacerten die Schwarzfärbung verlieh, um die 
Sonnenstrahlen besser absorbieren zu können. Diese Einrichtung 
ist auch jetzt noch bei allen Lacerten durch die Schwarzfärbung 
der Mesenterien erhalten. Nun musste diese auffallende Schwarz- 
färbung der Oberseite den Eidechsen wohl für die Aufnahme der 
dem regeren Stoffwechsel notwendigen Wärme von großem Nutzen 
sein, konnte sie jedoch nicht ın genügendem Maße vor ihren Feinden 
schützen. Es bildete sich also nach und nach eine grünliche Fär- 
bung mit dunklerer netz- oder streifenartigen Zeichnung, die ja den 
Grasboden, Gestrüpp, Steine etc., auf dem die Eidechsen leben, im 
höchsten Maße nachahmt. Dieses ist nun die Färbung der jetzigen 
italienischen Lacerten. Noch zu der Zeit, wo alle Eidechsen dunkel 
gefärbt waren, musste der Faraglionifelsen, der früher zweifellos 
mit Caprı ın Verbindung stand, sich losgelöst haben und den 
schwarzen Lacerten, die dort absolut keine Feinde haben können 
und darum auch keine Änderung in der Färbung erfuhren, blieb 
nun ihr Urkleid erhalten. Bemerken möchte ich auch, dass dieser 
Felsen durch seine Steilheit fast ganz unzugänglich ist. Dass auch 
Eidechsen dort beim Anblick des Menschen sich gänzlich furchtlos 
verhalten, berichtet auch Eimer. Ich kann dasselbe aus eigener 
Erfahrung nach vielen in meinem Besitze befindlichen Tieren be- 
stätigen. Alle anderen Felsen, wie z. B. der Monacone und die 
Galliinseln werden von Fischern, die letzteren sogar regelmäßig 
von Wachteljägern besucht. In alter Zeit waren da auch Bauwerke 
errichtet, was jetzt die dort befindlichen Ruinen beweisen. Die 
Eidechsen, die auf diese Weise mit dem wenig tierfreundlichen 
Menschen bekannt geworden sind, sind jetzt im Begriffe, ihre Fär- 
bung zu ändern, also Schutzfärbung anzunehmen; d.h. heller zu 
werden. Auf den Galliinseln soll auch die Zornnatter (Zamenis 
gemonensis), bekannt als eine arge Eidechsenfeindin, vorkommen. 
Der blaue Axillarfleck sowie die blauen Seitenschilder wäre alles, 
was den jetzigen Lacerten von ihrem eimstmaligen Kleide erhalten 
blieb. Interessant ist noch die Frage, warum wohl die Faraglioni- 
echsen durchschnittlich größer werden als die Echsen vom Fest- 
lande. Mag der regere Stoffwechsel wegen der günstigeren Auf- 
nahme von Wärme, die die Dunkelfärbung zur Folge hat und die 


s0 Mertens, Zur Frage des Melanismus bei Eidechsen etc. 


Annahme, dass sie auf dem steilen Felsen ın ihrem Daseın voll- 
ständig ungestört höheres Alter erreichen mögen, diese Tatsache 
bedingen. 

Diese Ausführungen, die natürlich nur rein hypothetisch zu 
nehmen sind, werden sich wohl ohne weiteres nicht nur auf die 
Faraglioniechsen, sondern auch auf andere melanotische Inselformen 
beziehen lassen. Auch auf andere ZLacerta-Arten kann man diese 
Hypothese anwenden. So z. B. auf die Echsen der Lacerta ocellata- 
Gruppe, an die sich die Eidechsen der Kanarischen Insel anschließen. 
Es handelt sich hier um relativ große Tiere (Zacerta ocellata, pater, 
tangintana, galloti, simonyi), die untereinander ım Habitus ziemlich 
ähnlich sind. Hier finden wir auch die auf dem Festlande be- 
heimateten Lacerta ocellata, pater, tangintana durchaus grün; die 
die Kanaren bewohnenden galloti und sömonyi sind durchweg alle 
dunkel (schwärzlich) gefärbt. Doch auch diese letzteren sind stark 
im Aufhellen begriffen. Auch noch einer Eidechse unserer heimischen 
Fauna sei hier gedacht. Es ist dies die rätselhafte ZLacerta nigra, 
eine schwarze Varietät unserer Lacerta rivipara. Ich habe dieses, 
sowohl auf der Ober- als auch auf der Unterseite kohlschwarz ge- 
färbte Tier bei Oberhof (Thüringen) auf ziemlich trockenem Terrain 
fangen können. Man war der Meinung, dass Feuchtigkeit diese 
eigentümliche Schwarzfärbung verursacht. Nach unseren Aus- 
führungen können sıe nichts anderes als Relikte einer ursprüng- 
lichen Eidechsenfärbung darstellen. 

Wenn wir uns zum Schlusse noch den histologischen Verhält- 
nissen der Haut der Faraglionieidechsen zuwenden, so sei vor allem 
bemerkt, dass die schwarzblaue Farbe der Eidechsen nicht etwa 
durch ein blaues Pigment bedingt wird, sondern eine Lage von 
schwarzen Bindegewebszellen, über der sich noch eine Schicht farb- 
loser Epidermis befindet, die blaue Färbung in unseren Augen her- 
vorruft. Bei den grünen Eidechsen befindet sich dagegen zwischen 
der schwarzen und der farblosen Schicht noch eine Schicht von 
gelbem Pigment, die nun den Eindruck von grün bedingt!). Nun 
sehen wir auch hier, dass die histologischen Verhältnisse der Haut 
bei der Faraglioniechse viel einfacher, ursprünglicher sind Jals bei 
den grünen Echsen. So müssen wir denn bei den letzteren auch 
die Schicht der gelben Pigmentzellen als eine sekundäre Einlage- 
rung betrachten; erst diese bedingt die sogen. Schutzfärbung bei 
unseren jetzigen Echsen. Den Faraglioniechsen fehlt diese Lage 
der gelben Pigmentzellen noch, ihr schwarzblaues Kleid braucht 
diese Schutzeinrichtung nicht. 


Zusätze: 1. Die ın letzter Zeit vorgenommenen Untersuchungen 
von W. J. Schmidt haben gezeigt, dass bei den grün gefärbten 


1) Vel. Th. Eimer, Zoolog. Studien auf Capri 11. 


Prochnow, Das Springen der Schnellkäfer, physikalisch betrachtet. 51 


Eidechsen die grüne Farbe durch das Strukturblau der Guano- 
phoren und das darüber gelagerte Lipochromgelb erzeugt wird. 
Unter diesen beiden Schichten befinden sich noch die sogen. Melano- 
phoren, die aber am Zustandekommen des Grüns nicht beteiligt 
sind. Sie erzeugen die schwarze Zeichnung der Oberseite, indem 
an diesen Stellen die Guanophoren und das Lipochromgelb durch 
die Melanophoren gänzlich verdrängt werden. Bei den blauschwarzen 
Faraglioniechsen scheint in erster Linie der Lipochromfarbstoff zu 
fehlen, so dass an der Färbung nur die Guanophoren und die 
Melanophoren beteiligt sind. 

2. Es liegt mir natürlich fern, meine Hypothese über den Mela- 
nismus als Urfarbe der Lacertiden auch auf andere Tiere beziehen 
zu wollen. So sind wir z. B. ziemlich sicher, dass der Melanısmus 
bei gewissen Säugetieren (Nagetieren) als durchaus sekundär auf- 
zufassen ist. Der Verfasser. 


Das Springen der Schnellkäfer, physikalisch betrachtet. 
Von Oskar Prochnow in Berlin-Lichterfelde. 
(Mit 4 Figuren.) 


1: 
Die Eigenbewegungen der Tiere und Maschinen. 


Alle Eigenbewegungen der Tiere und Maschinen sind Be- 
wegungen durch Rückstoß und können in zwei Gruppen eingeteilt 
werden: 

1. in Bewegungen durch Rückstoß mit Beanspruchung des um- 
gebenden Mediums oder in Bewegungen durch Abstoßen von 
dem umgebenden Medium, 

2. in Bewegungen des ganzen Körpers infolge von beschleunigten 
oder gehemmten Bewegungen einzelner Teile des Körpers oder 
in Bewegungen durch Selbstrückstoß. 

Zu der ersten Gruppe von Bewegungen gehören das „Schlagen“ 
eines Gewehrs beim Abfeuern, ..die Bewegung der Turbinen, das 
aktive Schwimmen der Lebewesen im Wasser sowie der Flug der 
Vögel, alle Bewegungen der auf Rädern laufenden Maschinen und 
schließlich unser Gehen, Laufen und Springen, —- zu der zweiten 
Gruppe von Bewegungen gehören viele Regulierbewegungen bei 
lebhaften Bewegungen, unsere Hilfsbewegungen der Arme beim 
Springen, alle Rückdrehbewegungen des Ganzen, wenn ein Teil 
beschleunigt oder gehemmt wird in einer Drehung. Hierzu gehört 
auch die Drehbewegung beim Sprung der Ellateriden, unserer Schnell- 
käfer, wie ich im folgenden beweisen werde. 

De Gruppen von Eigenbewegungen mögen durch Beispiele näher beschrieben 
werden: 

1. Wie ist es möglich, dass wir gehen? — Allgemeiner: Welches sind 
die physikalischen Gründe, dass sich ein Körper durch eine in seinem Innern er- 


xXXXV. 6 


82 Prochnow, Das Springen der Schnellkäfer, physikalisch betrachtet. 
zeugte Kraft relativ zu einem andern fortbewegt? Wenn wir sagen, wir kontrahieren 
die Muskeln auf der Streckseite eines Beines, so dass es gehoben wird, verlegen dadurch 
den Schwerpunkt des ganzen Körpers etwas nach vorn, lassen den Körper auf dieses 
Bein fallen, dann das andere durch die Gleichgewichtslage hindurch nach vorn pen- 
deln u. s. w., so haben wir dadurch die aufgeworfene Frage nicht physikalisch be- 
antwortet. 

Auf die Bedingungen eines Ereignisses werden wir am ehesten aufmerksam, 
wenn wir feststellen, wann es nicht eintritt. Ich frage daher: Unter welchen Be- 
dingungen können wir nicht oder doch nur sehr schwer gehen. Im Sande — wird 
man sagen. Der Grund dafür ist der, dass wir uns dort nicht so leicht von der 
Erde abstoßen können. Denn zu jeder Bewegung eines Körpers durch eigene Kraft 
relativ zu einer Unterlage ist eine träge Masse nötig, die durch ihren Trägheits- 
widerstand dem sich bewegenden Körper einen Stützpunkt bietet, von dem er sich 
abstoßen kann. Es ist — kinetisch betrachtet — beim Gehen des Menschen nicht 
anders als beim Abfeuern einer Kanone: wie die Pulverladung auf Geschoss und 
Geschütz einwirkt und die leichtere Kugel weit nach vorn, das schwerere Geschütz 
ein wenig nach hinten wirft, so wirkt die „Muskelentladung‘“ auf den Körper des 
Lebewesens wie auf die Erde ein, indem sie beide auseinander treibt, das Lebewesen 
um Schrittlänge nach vorn und die „unendlich“ viel schwerere Erde — ich rechnete 
einmal aus, dass die Erde 10° — 100000 Trillionen mal so viel wiegt wie ein er- 
wachsener Mensch — um einen unmessbar kleinen Betrag zurück. 

Eine andere Bedingung des Gehens ist die Reibung zwischen unserer Stütz- 
fläche und dem Boden; denn ohne Reibung können wir den Trägheitswiderstand 


der Erde nicht hervorrufen, so dass wir uns nicht von ihr — oder eigentlich sie von 
uns — abstoßen können. 

Es ist also beim Gehen wie beim Schwimmen, Fliegen u. s. w. derselbe 
Vorgang: 


Das Tier, das sich fortbewegen will, drückt mit Teilen seines Körpers gegen 
die Unterlage, die Luft, das Wasser, den Erdboden. Dadurch wird der Trägheits- 
widerstand des Mediums hervorgerufen, das sich nicht ohne Rückwirkung auf das 
Tier aus der Ruhelage herausbringen lässt. Darauf aber gerade ist es abgesehen ; 
denn der Rückstoß des Mediums ist es, der die Richtung hat, nach der „sich‘ das 
Tier bewegen will; er ist es, der das Tier während der ganzen Dauer des Stoßes 
entgegen seinen Bewegungen dorthin treibt, wohin es will. 

Alle Eigenbewegungen relativ zu einer Unterlage erfolgen also nach dem Prinzip 
von Aktion und Reaktion; das Tier führt eine Aktion aus und nutzt die dadurch 
hervorgerufene Reaktion. 

2. Welchen Nutzen haben unsere Armbewegungen beim Springen? 
— Beim Schlussprung in die Höhe schleudern wir die Arme im Augenblick des 
Absprungs ruckartig nach vorn und besonders nach oben und hemmen die Arm- 
bewegung möglichst plötzlich während des Sprunges selbst. Während des Ab- 
sprunges wird dadurch der Druck auf die Unterlage, z. B. das Sprungbrett, ver- 
stärkt, also auch der nutzbare Gegendruck der Unterlage auf den Körper. Während 
des Sprunges selbst wirkt die Hemmung der Armbewegung in demselben Sinne 
fördernd auf den Springer. Von der Tatsache dieses Antriebes überzeugt man sich 
leicht, wenn man, auf einem Stuhle sitzend, folgende Armbewegung ausführt: die 
Arme ungefähr gleichmäßig .beschleunigt hebt und sie dann möglichst kräftig an- 
hält; man wird an der Druckverminderung auf das Gesäß merken, dass dieses 
Bremsen der Bewegung des einen Körperteils den ganzen Körper nach oben treibt. 
Diese Wirkung erklärt sich auch durch den Rückstoß. Beschleunigen wir die Arm- 
bewegung, so wird auf den Körper eine entgegengesetzte Beschleunigung ausgeübt. 
So macht sich bei jeder Bewegung eines für diese Betrachtung vom umgebenden 
Medium unabhängigen Körpers eine entsprechende Gegenbewegung geltend. Es ist 
wie in dem obigen Beispiel vom Gehen auf der Erde: an die Stelle des die Erde 
durch seine Fußtritte von sich wegdrehenden Menschen ist der Arm getreten, an 


Prochnow, Das Springen der Schnellkäfer, physikalisch betrachtet. 83 


die Stelle der Erde und des Menschen auf ihr der Mensch allein. Wenn der Mensch 
sich durch seine einzelnen stoßartigen Fußtritte von der Erde abstößt, so dreht er 
sie in entgegengesetzter Richtung zu der, in der er sich bewegt; hemmt er dagegen 
plötzlich seinen Lauf, etwa dadurch, dass er den Fuß in den Boden einstemmt, so 
übt er damit ein dem ersten entgegengesetztes Drehmoment auf die Erde aus, dessen 
Wirkung also mit der Bewegung des Läüfers vor dem Hemmen des Laufs gleiche 
Richtung hat. Wie also jede Beschleunigung eines Körperteils dem ganzen Körper 
eine dieser Beschleunigung entgegengesetzt gerichtete Beschleunigung erteilt, so er- 
teilt jede Hemmung einer Eigenbewegung eines Körperteils dem ganzen Körper eine 
Beschleunigung in Richtung der Eigenbewegung des bewegten Körperteils. Ich be- 
zeichnete derartige Bewegungen oben als Bewegungen durch Selbstrückstoß. 

Um solche Bewegungen handelt es sich auch, wenn man in den dafür ge- 
eigneten Spreewaldkähnen hin und her läuft oder sich in den Knien hin und her 
wiegt oder in einem Rollsitzboot auf der Rollbahn hin und her fährt. Wenn man 
dabei die Beschleunigungen passend einrichtet, so kann man dem Kahn oder Boot 
— strömungsloses Wasser und Windstille vorausgesetzt — leicht eine dauernd fort- 
schreitende Bewegung nach der Seite des wirksameren Rückstoßes aufzwingen. Soll 
z. B. das Boot nach vorn fahren, so ziehe man den Körper, wenn er am Ende der 
Rollbahn nach der Spitze des Bootee zu angekommen ist, mit großer Kraft zu dem 
Stemmbrett heran und bremse diese Bewegung gegen das Ende langsam ab, dann 
gehe man langsam zurück und bremse diese nach der Spitze des Bootes gerichtete 
Körperbewegung zum Schluss stark ab. 

Auf einen Unterschied der Abstoßbewegungen von den Selbstrückstoßbewegungen 
soll noch hingewiesen werden: Während bei den Abstoßbewegungen auch konstante 
Geschwindigkeiten des sich bewegenden Körpers wirksam sind zur Erzielung von 
Rückstoßbewegungen, da ja dadurch in der Regel die Teilchen des umgebenden 
Mediums beschleunigt werden und infolgedessen eine Reaktion ausüben, kommen 
Selbstrückstoßbewegungen nur durch Geschwindigkeitsänderungen, also durch Be- 
schleunigungen oder Hemmungen zustande. 

Ich musste auf diese beiden Arten von Rückstoßbewegungen eingehen, weil 
die Schnellbewegung der Elateriden aus beiden zusammengesetzt ist. 


1. 


Kritik der bisher aufgestellten Erklärungen der Schnell- 
bewegung, insbesondere der zuletzt veröffentlichten Er- 
klärung Otto Thilo’s (Biolog. Centralblatt, Bd. XXXIV, Nr. 2 
S. 150—156). 

Soviel ich sehe, behaupten alle Autoren, dass Elateriden, die 
— was wegen der starken Wölbung der BauchSeite und flachen 
Wölbung der Rückenseite und der dadurch bedingten Schwerpunkts- 
lage in der Nähe der Rückenseite nicht selten geschieht — auf den 
Rücken gefallen sind, mit ihren kurzen Beinen den Boden nicht 
berühren, jedenfalls aber sich mit ihrer Hilfe nicht wieder auf- 
richten könnten, wenn sie in der Schnellbewegung nicht ein Mittel 
dazu hätten. 

Ich habe mehrmals gesehen, dass sie es doch vermögen, aller- 
dings scheint es ihnen mehr Mühe zu machen als das Empor- 
schnellen. Meist versuchen die Käfer dieses Mittel erst, wenn 
sie sich mehrmals emporgeschnellt und trotzdem — eben der 
Schwerpunktslage wegen — die normale Lage nicht erreicht haben; 

6* 


) 


S4 Prochnow, Das Springen der Schnellkäfer, physikalisch betrachtet. 


sie helfen dann auch wie andere Käfer durch Spreizen der 
Elytren nach. 

Das Instrument des Käfers für die von einem knipsenden Schall 
begleitete Schnellbewegung besteht im wesentlichen aus einem Dorn 
am Hinterrande des Prosternum und einer passenden Grube am 
Vorderrande des Mesosternum. 

H. Landois (1874) erklärt sich das Schnellen folgendermaßen: 

„Wenn das Tier auf dem Rücken liegt, biegt es die Vorder- 
brust rückwärts und bringt so den Dorn derselben aus der Höhle, 
in der er in der Ruhe belegen ist. Nun krümmt sich der Körper 
plötzlich nach der Bauchseite und dadurch schießt der Dorn wieder 
in die Grube und das Insekt stößt dabei mit dem Rücken des 
Thorax kräftig auf den Boden und wird durch diesen Stoß empor- 
geschnellt. Dieses Emporschnellen des Käfers ist mit einem knipsen- 
den Ton verbunden ... Der Dorn der Vorderbrust ist ziemlich 
lang und auf der Oberfläche, wie auch an der Spitze ziemlich stark 
behaart, weswegen der knipsende Ton nicht dadurch hervorgebracht 
werden kann, dass etwa die Spitze des Dorns auf den Grund der 
Höhle stieße. Bei größeren Elateren, etwa KHlater oculatus aus 
Illinois, sieht man auf der Unterseite des Dornes in einiger Ent- 
fernung von der Spitze desselben schon mit freien Augen einen 
erhabenen glatten Wulst. Dieser wird beim Emporschnellen des 
Käfers über den erhabenen Vorderrand der Grube gezwängt. Hat 
der Wulst den Rand passiert, so knipst es...“ („Tierstimmen*, S. 105). 

R. Hesse (1910) schreibt (in „Tierbau und Tierleben‘“ I, S. 212): 

». .. Der Käfer stemmt zum Schnellen den Dorn gegen den 
Vorderrand der Grube und lässt ihn unter starker Anspannung der 
Streckmuskulatur plötzlich abgleiten, wobei durch das Hineinfahren 
des Dorns in die Grube der knipsende Ton entsteht. Dabei ergibt 
sich ein heftiges Zusammenknicken des gebeugten Gelenkes, so dass 
der vorher konkave Teil der Rückenseite jetzt konvex vorspringt 
und gegen die Unterlage stößt; durch deren Rückstoß wird der 
Käfer ın die Höhe geschleudert. Da dieser Stoß aber nicht im 
Schwerpunkt angreift, sondern vor demselben, so wird das Tier in 
der Luft um die durch den Schwerpunkt gehende Querachse ge- 
dreht und kommt mit der Bauchseite nach unten herab.“ 

Otto Thilo (1914) bemängelt (im Biol. Centralblatt S. 150ff.) 
an diesen Beschreibungen und Deutungen mit Recht die Ungenauig- 
keit der Beobachtung und gibt eine andere Erklärung. Er weist 
zunächst darauf hin, dass die Krümmung des Rückens stets gering 
ist und insbesondere gering wird, wenn der Käfer seine Vorberei- 
tung zur Schnellbewegung — das Anstemmen des Dornendes gegen 
den Grubenrand — ausführt. Thilo meint daher, dass der Aus- 
gleich dieser Krümmung nicht ausreichen könne, um den Käfer so 
hoch zu schleudern, und sagt in den „Ergebnissen“: 


Prochnow, Das Springen der Schnellkäfer, physikalisch betrachtet. s5 


„Der Sprungkäfer schleudert sich dadurch in die Höhe, dass 
er mit seinem Brustdorn gegen den zweiten Brustring schlägt. Der 
Dorn ist hierbei keine Sperrvorrichtung, sondern dient nur zur 
Führung und Sicherung der Bewegung.“ 

Diese Ansicht begründet Thilo nicht durch Versuche, sondern 
durch teilweise wenig geschickte Vergleiche mit anderen springenden 
Geräten, einer mit einem Schlagbügel versehenen Mäusefalle, die 
sich durch das Aufschlagen des Bügels auf das eine Ende in der 
Richtung der Bewegung des Bügels überschlägt, und durch Hin- 
weis auf das Klippholz oder Prellholz, das die Kinder über einen 
Stein legen und durch einen Schlag auf das eine Ende zum Über- 
schlagen über dieses Ende veranlassen. 

Nun sind jedoch die Ursachen des Überschlagens dieser beiden 
Geräte durchaus nicht dieselben. Das Prellholz der Kinder 
springt nach dem Gesetz vom zweiarmigen Hebel (Wurfhebel), die 
Mäusefalle und das Klippholz Thilo’s, das ja ım Prinzip nichts 


anderes ıst als eine Mäusefalle — die Maus müsste nur die 
Zündschnur durchfressen und dann schnell nach dem anderen 
Ende laufen — springt nach dem oben erläuterten Gesetz vom 


Selbstrückstoß. Das scheint Thilo übersehen zu haben; sonst 
würde er wohl nicht in der Wirkung des Schlages auf das eine 
Ende die Erklärung des Sprunges der Mäusefalle und der Elateriden 
gesehen haben. Ganz haltlos wird aber dieser Erklärungsversuch, 
wenn man bedenkt, dass, wenn der „Schlag“ auf das eine Ende 
des doch krummen Rückens der Elateriden die Schnellbewegung 
auslösen sollte, der Käfer sich in der Richtung über das getroffene 
Ende hinweg überschlagen müsste, also über den Kopf und nicht, 
wie Thilo und Hesse angeben, über den Hinterleib. 

So war ich denn, als ich Thilo’s Arbeit gelesen hatte (mit 
deren Ergebnissen er in der „Umschau“ einen größeren Leserkreis 
bekannt machte), davon überzeugt, dass diese fast jedem Kind be- 
kannte Erscheinung bisher noch keineswegs physikalisch einwand- 
frei erklärt ist und wurde in dieser Ansicht noch dadurch bestärkt, 
dass sogar die Richtung des Überschlags in den verschiedenen, auf 
biologische Verhältnisse überhaupt eingehenden Lehrbüchern nicht 
übereinstimmend angegeben wird: Hesse (a. a. ©.) gibt wie Thilo 
an, dass sich der Käfer über den Hinterleib überschlägt, Schmeil 
(Lehrbuch der Zoologie, 1912, S. 376), dass die Drehung um das 
Kopfende erfolgt. 

IM. 
Die Gestalt des Sprungorgans. 

Das Sprungorgan variiert in der Familie der Elateriden nicht 
unbeträchtlich. Übereinstimmend ist jedoch bei allen Arten der 
Dorn am Hinterrande des Prosternum und die dazu passende Grube 
am Vorderrande des Mesosternum. Der Dorn (Fig. 1 und 3) er- 


S6 Prochnow, Das Springen der Schnellkäfer, physikalisch betrachtet. 


scheint, von der Bauchseite aus gesehen, schwach konvex gekrümmt. 
Er trägt an der Unterseite, etwa um !/, bis !/, der Länge von der 
Spitze entfernt, einen Wulst. Dahinter ist die Unterseite kopf- 
wärts mehr oder minder deutlich gekielt. Die ganze Unterseite 


Fig. 1. 





Fig. 1. Schattenriss eines zum Absprung bereiten Schnellkäfers 
(Athous rufus Degeer). Der Wulst des Dorns ist gegen den Rand der 
Grube gepresst; das Pronotum berührt die Untterstützungsfläche nicht. 
Vergr. 4:1. 

Fig. 2. Vorderer Teil eines Schnellkäfers (Athous rufus Degeer), von 
unten gesehen. 

D Dorn, @ Grube, ® Vorsprung am Hinterrande des Prosternum, 

9 Bremsgrube zur Aufnahme des Vorsprungs v, A hinterer seitlicher Vor- 
sprung des Hinterrandes des Prosternum, f Gelenkfurche zur Aufnahme 
des Vorsprunges h. Vergr. 5:1. 

Fig. 3. Vorderer Teil eines Schnellkäfers (Athous rufus Degeer), von 
der Seite gesehen. Vergr. 7:1. 


Prochnow, Das Springen der Schnellkäfer, physikalisch betrachtet, S7 


des Dorns ist unbehaart und sehr glatt, die Spitze und die Ober- 
seite kurz behaart. 

Die Grube passt nicht bei allen Arten gleichgut für den Dorn. 
Ihre Öffnung ist ungefähr oval; hinten ist die Grube am tiefsten. 
Der Vorderrand springt etwas vor und zeigt in der Mitte einen 
Ausschnitt. In diesen passt der Kiel der Unterseite des Dorns 
hinein. Vom Vorderrande der Grube führt eine glatte, ein wenig 
gekrümmte Gleitbahn in die Tiefe der Grube. Darauf gleitet der 
Dorn bei der Schnellbewegung abwärts. Neben und unterhalb der 
Gleitbahn ist die Grube weniger glatt und z. T. schwach behaart. 

Das Gelenk für die Drehung des Prothorax wird von den 
Skeletteilen des Pro- und Mesonotum gebildet. Da der dorsale 
Einschnitt zwischen Pro- und Mesothorax ziemlich tief ist, so liegt 
der Drehpunkt nur wenig dorsal von der transversalen Median- 
ebene. Zu diesem Drehgelenk gehören auch die äußeren seitlichen, 
bei allen Arten mehr oder minder deutlich entwickelten Fortsätze 
des Prothorax, für die teilweise (z. B. Fig. 2 bei f) Gelenkfurchen 
am Vorderrande des Mesothorax entwickelt sind. 

Eine Skeletteigentümlichkeit ist bisher übersehen worden, die 
für die Wirkung des Sprungorgans von großer Bedeutung ist. 

Der Hinterrand des Prosternum springt jederseits vom Dorn 
(Fig. 2, D) etwa in der Mitte zwischen der Medianlinie und dem 
äußeren Rande jederseits in Gestalt einer Spitze (r) oder eines 
Bogens nach hinten zu vor. Diesem Vorsprunge entspricht am 
Vorderrande des Mesosternums eine Grube (g), in die die Spitze oder 
der Bogen hineinpasst. Ich habe sie in Fig.3 als Bremsgrube be- 
zeichnet. Ist der Dorn in die Grube (G@) hineingedrückt, so greifen 
auch diese Vorsprünge in ihre Gruben ein. 

IV. 
Versuche über das Springen der Schnellkäfer. 

1. In welcher Weise hängt der Sprung von der Ela- 
stizität der Unterlage ab? 

Ein und derselbe Elater sanguineus L., 16 mm lang, diente für 
alle Versuche als Versuchstier. Es wurde zunächst die Sprunghöhe 


gemessen. 
a) Auf Glas: Sprunghöhe: 
1. Versuch 7 cm 
% ” 8 E2] 
3. 3 _ ER 
b) Auf einer Aluminium- 
schachtel von 1 mm 
Wandstärke und 9 cm 
Durchmesser: F 
1. Versuch £ B7Z 
3 11 


+ 93 Te 


Ss Prochnow, Das Springen der Schnellkäfer, physikalisch betrachtet. 


c) Aufeiner Pappschachtel 
von 1'/,mm Wandstärke, 
Größe 14 X 19cm: 


1. Versuch IR, 
2. 1 12.5, 
Bel, Iuzer 


d) Auf einem zusammen- 
gefalteten Taschentuche: 


1. Versuch Ele Am folgenden Tage richtete sich der 
2. % LICH: | Käfer auf dieser Unterlage in zwei 
3 r I, von drei Fällen mit den Beinen auf. 
e) Auf trockenem, feinem 
Sande: Sprunghöhe: 
1. Versuch 1!/,cm 
2. „ 1 „ 
Su, Se, 
f} Auf Watte: 
5; Versuch R 2 Der Käfer richtet sich mit Hilfe seiner 
i 2 2 Beine auf. 
u , 0 
g) Anf derselben Papp- 
schachtel wie oben (ec): 
1. Versuch 10: ,, 
2. „ 12 „ 
Bu lem, 


Alle Versuche wurden kurz hintereinander angestellt, der letzte 
Versuch zu dem Zwecke, um festzustellen, ob der Käfer schon er- 
müdet war. Eine Kontrollversuchsreihe am folgenden Tage zeigt 
bei anderer Anordnung der Versuche die gleichen oder nur ganz 
wenig davon abweichende Sprungleistungen. 

Wie zu erwarten war, zeigte sich eine direkte Abhängigkeit 
von dem Widerstand der Unterlage: der Sprung ıst höher, wenn 
die Unterlage aus nicht nachgebenden Teilen besteht, insbesondere, 
wenn die Unterlage federt. 

Die Sprungleistungen sind allerdings auf der Pappschachtel 
nur wenig höher als z. B. auf Glas. Am zweiten Versuchstage 
tritt dies noch deutlicher hervor. 

Da ergab sich auf Pappe, Aluminium Glas 
die Reihe der Sprunghöhen 10,12,10; 10,11,11; 10,10, 11 (cm). 

Den Haupteinfluss scheint daher die Elastizität des Chitins zu 

haben. 


2. Stößt sich der Käfer mit Prothorax und Elytren 
von der Unterlage ab? 

Wenn ein Schnellkäfer in der Rückenlage ist, berührt er mit 
dem Pronotum die Unterlage im allgemeinen nicht (Fig. 1). Ob 
dies beim Sprunge geschieht, untersuchte ich „durch folgende zwei 
Versuchsanordnungen. 


Prochnow, Das Springen der Schnellkäfer, physikalisch betrachtet. Ss) 


Ich legte den Käfer mit einer Pinzette rücklings auf eine mit 
Ruß geschwärzte Glasplatte und ließ ihn springen. Dann haftet 
der Ruß von allen den Stellen an seinem Körper, die er vor oder 
beim Sprunge berührt. Auf diese Weise konnte ich nun feststellen, 
dass eine starke Berührung des Pronotum mit der Unterlage nicht 
nötig ist (vgl. Fig. 4, b). 


Fig. 4. 

Berührungsstellen ab- 
springender Elateriden mit 
einer berußten Glasplatte. 
(Nat. Gr. Phot.) a 

Hinten Berührungsstelle der 
Elytren, davor von Prothorax 
und Fühlern, seitlich von den 
Beinen. 

a und b von Elater sangui- 
neus L., e und d von Athous 
niger Redt. Bei a und d Be- 
rührung mit den Beinen, bei d 
vor dem Sprunge heftige ab- 
stoßende Beinbewegung. Bei c, 
besonders aber bei db nur ganz 
schwache Berührung des Protho- 
rax, möglicherweise nur von der 
Krümmung rückwärts und nicht 
vom Sprunge herrührend. 


b 





Den Beweis, dass eine solche Berührung überhaupt nicht statt- 
zufinden braucht, erbrachte folgender Versuch: 

Ich legte den Käfer mit einer Pinzette so auf den Rand einer 
Glasplatte oder eines Mikroskopierspatels oder eines etwa 1 cm 
breiten Blechstreifens, dass nur die Elytren aufliegen, das Pronotum 
aber über den Rand ganz hinausragt. Der Käfer trachtet zwar, 
sich durch Drehen oder vorzeitiges Abspringen zu befreien, doch 
gelingt der Versuch nach einiger Übung, so dass sich der Käfer 
kurze Zeit vor dem Sprunge in der gewünschten Lage befindet. Es 
zeigte sich, dass der Käfer auch aus dieser Lage abspringen kann — 
also ohne dass er das Sprunggelenk zum Abstoßen gebraucht. 

3. Nach welcher Richtung überschlägt sich der Käfer? 

Die Beantwortung dieser Frage ist für die Erklärung der Sprung- 
bewegung von großer Wichtigkeit. 

Die direkte Beobachtung ist sehr schwer, da die Gesamtdauer 
des Emporschnellens und Niederfallens !/, bis !/, Sekunde beträgt. 
Trotz angespanntester Aufmerksamkeit ist es nicht in allen Fällen 
möglich, mit Bestimmtheit zu sagen, ob das Überschlagen über den 
Kopf oder über den Hinterleib erfolgt. In allen Fällen, wo der 


90 Prochnow, Das Springen der Schnellkäfer, physikalisch betrachtet. 


Verfasser und die hinzugezogenen Beobachter mit Bestimmtheit 
sagen konnten, nach welcher Richtung die Drehbewegung erfolgte, 
lautete das Urteil: über den Hinterleib. Erstaunlich ist, dass der 
Käfer auch in diesen Fällen sehr häufig nach der Richtung zu 
niederfällt, wo vorher sein Kopf lag. 

Auch bei den Versuchen, wo der Käfer allein mit den Elytren 
auf einem Blechstreifen auflag, lautete das Urteil in allen Fällen, 
wo Bestimmtes gesagt werden konnte, dahin, dass die Drehung 
über die Hinterleibsspitze erfolgte. Trotzdem fiel der Käfer nach der 
Richtung von seiner Ausgangslage aus nieder, wohin der Kopf zeigte. 

Ohne Mühe kann man die Richtung der Drehbewegung fest- 
stellen, wenn man den Käfer auf feinem, trockenem Sande seine 
Sprünge ausführen lässt. Der Käfer kann sich dann nur ganz wenig 
erheben und die ganze Bewegung ist in den meisten Fällen nichts 
anderes als eine Drehung des Käfers um die Hinterleibsspitze aus 
der Rückenlage in die Bauchlage. 

Diese Versuche reichen zur Auflösung der Sprungbewegungen hin. 


V. 
Erklärung des Springens der Schnellkäfer. 


Wenn sich der Käfer emporschnellen will, bewegt er den Pro- 
thorax so lange auf und ab, bis der glatte Wulst auf der Unter- 
seite des Dorns gegen den Rand der Grube stößt. — Man kann 
dieses Anpassen in der Regel beobachten. Führt man am toten 
Käfer dieses Anpassen aus und zwängt dann den Dorn in die Grube, 
so hört man, wie schon Landois beobachtete, einen knipsenden 
Ton in dem Augenblick, wo der Wulst über den Rand der Grube 
gleitet. Es fällt in diesem Augenblick offenbar der gekielte proxi- 
male Teil des Dorns auf den gekerbten Rand der Grube. Dann 
gleitet der Dorn schnell in die Grube hinein. Die Bewegung wird 
durch das Anschlagen der Vorsprünge des Prosternum-Hinterrandes 
an die Bremsgruben am Mesosternum-Vorderrande und wohl auch 
durch das Auftreffen des Dornendes auf den Grund der Grube ab- 
gebremst. Dass der Grund der Grube schwächer chitinisiert ist als 
die Gleitbahn, lässt darauf schließen, dass das Abbremsen der Be- 
wegung an dieser Stelle von untergeordneter Bedeutung ist. Zu 
Thilo’s Darstellung ist hier zu bemerken, dass der Dorn nicht fest 
in der Grube sitzt wie ein Säbel in seiner Scheide, sondern bei 
manchen Arten ziemlich großen Spielraum hat. Weiter scheint mir 
irrtümlich, dass die Haare zur Verminderung der Reibung dienen 
sollen. Sie vermehren zweifellos die Reibung und finden sich daher 
nur dort, wo Reibung nicht vorhanden oder bedeutungslos ist, z. B. 
auf der Oberseite des Dorns, der nicht fest in die Scheide passt. 

Die Versuche lassen zunächst darauf schließen, dass drei Be- 
wegungsursachen vorliegen: 


Prochnow, Das Springen der Schnellkäfer, physikalisch betrachtet. 91 


1. Der Selbstrückstoß durch Abbremsen der Prothoraxbewegung, 
der eine Drehung um die Hinterleibsspitze herbeiführt (Versuch 
auf Sand, vgl. IV), 

2. die Stoßwirkung des Abhremsens der Prothoraxbewegung, 
wodurch der Käfer wie ein Wurfhebel um den Unterstützungspunkt, 
also über den Kopf gedreht wird (Auffallen kopfwärts), 

3. die elastische Gegenkraft des Chitins und der Unterlage 
(Versuche über die Sprunghöhe). 

Zu erörtern bleibt noch, welchen Zweck der Wulst auf der 
Dornunterseite hat. 

Eine Bewegung löst das Hinweggleiten des Wulstes über den 
Grubenrand wohl nicht aus. Es könnte nur, während der Wulst 
auf den Grubenrand hinaufgleitet, wenn also seine Bewegung be- 
schleunigt ist, eine Selbstrückstoßbewegung eintreten, die der unter 
1. genannten entgegenwirkt; wenn der Wulst jedoch hinabgleitet 
von dem Grubenrande, müsste eine Stoßwirkung auftreten, die in 
demselben Sinne wirkt wie die Kraft, die unter 2. genannt ist. 
Diese Kraft scheint in der Tat nicht unbedeutend zu sein, denn 
der knipsende Ton, der offenbar von dem Aufprallen des Dorns 
auf die Gleitbahn herrührt, ist stets deutlich hörbar. Man könnte 
zwar meinen, dass das Abbremsen der Prothoraxbewegung von dem 
Geräusch begleitet ist; doch überzeugen Versuche am toten Tiere 
davon, dass es bereits „knipst“, wenn der Wulst über den Gruben- 
rand hinweggedrückt ist, ehe noch der Vorsprung die Bremsgrube 
berührt hat. 

Die Hauptbedeutung des Dornwulstes suche ich jedoch anderswo. 
Ich sehe sie darin, dass es dem Käfer so möglich wird, zunächst 
einen festen Halt zu finden und, wenn der Widerstand dann durch 
starke Muskelanspannung beseitigt ist, sehr schnell eine große Be- 
wegungsgeschwindigkeit zu erzielen, so dass beim Abbremsen dieser 
Geschwindigkeit eine große Selbstrückstoßkraft auftritt. 

Diese ist nämlich das stets Wirksame, auch wenn die Unter- 
lage für einen hohen Sprung keine Möglichkeit bietet. Die Wurf- 
hebelwirkung ist zweifellos unbedeutender. Denn der Käfer indi- 
vidualisiert den Sprung nicht; er müsste also, wenn die Wurfhebel- 
wirkung stark wirksam wäre, auch auf nachgiebiger Unterlage mehr 
oder minder senkrecht in die Höhe springen oder auf der Stelle 
liegen bleiben — indem sich die beiden entgegengesetzten Dreh- 
kräfte dann das Gleichgewicht hielten. 

Ist die Wurfhebelwirkung auf dieser nachgiebigen Unterlage 
nicht wirksam, so kann sie doch bei fester Unterlage in Erschei- 
nung treten. Denn die Drehwirkung wird sicher dadurch gehemmt, 
dass die Unterstützungsstelle dem Druck nachgibt. Dadurch erklärt 
sich teilweise das mehr oder minder senkrechte Emporschnellen 
sowie das häufige Auffallen kopfwärts. 


92 Prochnow, Das Springen der Schnellkäfer, physikalisch betrachtet. 


Schließlich findet, wie auch die Photographie der Berührungs- 
stellen beweist, in manchen Fällen ein Abrollen der Elytren auf 
der Unterlage statt, so dass dabei auch ein Abstoßen der hinteren 
Teile der federnden Chitindecken eintritt, das offenbar das Ergebnis 
hat, dass der Körper einen Antrieb zum Sprung nach der Seite 
des Kopfes hin bekommt. 

Sehr wünschenswert wären gute kinematographische Aufnahmen 
der Schnellbewegung. 

Ergebnisse. 

1. Das Sprungorgan besteht erstens aus einer Vorrichtung zur 
Ermöglichung einer schnellen Drehbewegung des Prothorax und 
zweitens aus einer Vorrichtung zum Abbremsen der Bewegung. 

Zur Erzielung der schnellen Drehbewegung dient der Dorn des 
Prosternum, dessen an der Unterseite befindlicher Wulst gegen 
den Rand der Grube vorn am Mesosternum gepresst und dann nach 
Einsetzen des vollen Muskeldrucks darüber hinweggezwängt wird. 

Das Abbremsen dieser Bewegung geschieht wohl teilweise durch 
das Auftreffen des Dorns auf den Grubengrund, vorwiegend aber 
durch das Anstoßen der seitlichen inneren Vorsprünge des Prosternum- 
Hinterrandes gegen die Bremsgruben am Mesosternum-Vorderrand. 

2. Die Schnellkäfer können auch auf wenig festen Unterlagen 
ihre Sprünge ausführen, z. B. auf feinem, trockenem Sande. Dann 
besteht die Schnellbewegung in einer Drehung um das Hinterleibs- 
ende. Auf fester Unterlage spielt die Elastizität des Chitins eine 
größere Rolle als die der Unterlage. 

Die Drehung beim Sprunge scheint stets um das Hinterleibs- 
ende zu erfolgen, auch dann, wenn der Käfer, was sehr häufig ge- 
schieht, kopfwärts von der Absprungsstelle landet. 

3. Die Schnellkäfer brauchen beim Absprunge die Unterlage 
nur mit den Elytren zu berühren. Die Elytren rollen sich dabei 
bisweilen bis zur ganzen Länge auf der Unterlage ab. 

4. Alle bisher aufgestellten Erklärungen der Schnellbewegung 
sınd falsch: 

Der Käfer stößt sich nicht mit dem Pronotum und den Elytren 
ab (z. B. Hesse, Tierbau und Tierleben I, S. 212); er springt 
ebenso gut, wenn nur die Elytren aufliegen. 

Er schleudert sich auch nicht durch die Schlagwirkung auf den 
Vorderrand des Mesosternums in die Höhe (Thilo, Biol. Oentralbl., 
1914, S. 150ff.), denn dann müsste die Drehung wegen der Wurf- 
hebelwirkung über den Kopf erfolgen. Die Schlagwirkung ist nur 
eine Teilursache. 

5. Beim Schnellen wirken folgende Bewegungsursachen: 

a) Der Selbstrückstoß infolge der Hemmung der Drehbewegung 

des Prothorax, der die Drehung über das Ende des Abdomens 
bedingt, 


Kohlbrugge, War Darwin ein originelles Genie? 93 


b) der Schlag des Dorns auf die Gleitbahn nach dem Hinüber- 
gleiten des Wulstes über den Grubenrand und der Brems- 
schlag der mittleren seitlichen Chitinvorsprünge hinten am 
Prosternum gegen die Bremsgruben vorn am Mesosternum 
als Ursachen einer Wurfhebeldrehung des Käfers um die 
Unterstützungsstelle der Elytren als Drehstelle, wodurch 
die Drehbewegung um das Ende des Abdomens abgeschwächt 
und der Druck auf die Unterlage verstärkt wird, 

c) die Federkraft des Chitins infolge des Drucks auf die Unter- 
lage und der Abrollung der Elytren auf der Unterstützungs- 
fläche. 

Der Selbstrückstoß und die Wurfhebelwirkung wirken einander 
entgegen und pressen, wenn beide wirksam sind, den Käfer gegen 
die Unterlage. Auf nachgiebiger Unterlage gibt die Unterstützungs- 
stelle dem Druck nach und die Wurfhebelwirkung kommt nicht 
zur Geltung. Dann bleibt nur die Drehung des Selbstrückstoßes 
übrig, die den Käfer über die Spitze des Abdomens dreht. Das 
Auffallen in der Richtung des Kopfes von der Absprungstelle aus 
scheint dadurch bedingt zu sein, dass die sich auf der Unter- 
stützungsfläche abrollenden Elytren auf den Käfer abstoßend ein- 
wirken. Dass die Drehung anscheinend stets über die Spitze des 
Abdomens erfolgt, lässt auf die vorherrschende Wirkung des Selbst- 
rückstoßes infolge der Hemmung der Drehbewegung des Prothorax 
schließen. 


War Darwin ein originelles Genie? 
Von J. H. F. Kohlbrugge, Utrecht. 

Wie dachte Darwin selbst über seine Originalität? 

Am schärfsten sprach er sich darüber wohl in den folgenden 
Worten aus: “I was forestalled!) in only one important point, 
which my vanity has always made me regret.” Alles andere, was 
er in seinen Werken in bezug auf die Deszendenztheorie gebracht 
hatte, war also von ihm entdeckt, von ihm geschaffen worden! 

Ähnlich klingen die folgenden Worte, die auf das Ganze zielen: 
“It has?) some times been said, that the success of the origin proved 
‘that the subject was in the air’, or ‘that men’s minds were prepared 
for it’. I do not think this is strietly true, for I occasionly 
sounded not a few naturalists and never happened to come across 
a single one, who seemed to doubt about the permanence of 
species”. 


1) Bei Erwähnung von Forbes’ Erklärung der Arktischen und Hochgebirgs- 
Fauna und Flora durch die Eisperioden. Life and letters. Vol. I, p. 71, New 
York 1887. 

2) Fr. Darwin. The life and letters of Ch. Darwin. Vol, 1, p. 71, New 
York 1887. 


94 Kohlbrugge, War Darwin ein originelles Genie? 


Ungefähr dasselbe äußerte er in der ersten Auflage seiner 
Origin of species (p. 481). “Why, it may be asked, have all the 
most eminent living naturalists and geologists rejected this view 
of the mutability of species”. Auf S.6 lesen wir “The view which 
most naturalists entertain that each species has been independently 
created.” 

Wir sehen also, dass Darwın glaubte, dass er nahezu alle 
wichtigen Beweise (alle bis auf einen) oder Erklärungen zu seiner 
Deszendenzlehre selbst und selbständig gefunden habe. Dass er 
allein stehe in seiner Auffassung der Variabilität der Organismen, 
dass die übrige Welt noch versunken sei in der Schöpfungslehre 
und dass er demnach durch seine selbstgefundenen Auffassungen 
und Erklärungen gegen diese Welt in die Schranken trat und sie 
überwand. 

Darwin hielt sich selbst also für ein durchaus schöpferisches 
Genie! 

Diese Selbsteinschätzung wurde z. B. durch Mantegazza be- 
stätigt?). 

Darwin & un creatore: „anch’ egli dopo vent’annı di osser- 
vazıone e dı meditazione disse nel mondo delle forme vive: Sıa 
la luce, e anch’egli morendo nelle supreme ore della sua serena 
agonia, poteva, guardandosi indietro, compiacersi di s& stesso et dell’ 
opera sua. E. Darwin vide che la luce era buona.“ 

Diesen Worten nach dürfte man Darwin also mit den Worten 
des alten Kirchenliedes: „Veni creator spiritus“ begrüßen. 

Ich habe nicht weiter nach derartigen Äußerungen in der 
Darwinistischen Literatur gesucht, aber nach Radl?), der sie gut 
kennt, tragen die Darwinisten die Sache stets so vor, als ob der 
Darwinismus eine absolute, von der Zeit unabhängige, durch seinen 
genialen Kopf entdeckte Wahrheit sei; als ob alle Forscher vor 
Darwin an direkte Erschaffung jeder Spezies glaubten. Erst 
Darwin habe die historische, kausale Methode und das exakte 
Denken in die Naturwissenschaften eingeführt, welche denn auch 
durch ihn, da er sie aus den theologischen und teleologischen Fesseln 
befreite, zur Wissenschaft wurde. Da wir nun keinen Grund haben, 
dieses alles gläubig anzunehmen, so wollen wir zunächst einmal 
untersuchen, ob wirklich die Variabilität der Organismen zu Dar- 
win’s Zeit eine unbekannte oder von allen verurteilte Lehre war. 
Es könnte doch sein, dass Darwin seine Zeitgenossen und die 
Literatur nicht kannte, um so mehr, da er ja von sich selbst be- 
zeugte: “During my whole life I have been singularly incapable of 





3) Archivio per l’ antropologia e etnologia. Firenze 1905, p. 311. 
4) E. Radl. Geschichte der biologischen Theorien. T. IT, Leipzig 1905, 
S. 113, 273, 554. 


Kohlbrugge, War Darwin ein originelles Genie? 95 
mastering any language?°).” Sein Urteil beruhte also vielleicht nur 
auf seinen Erfahrungen, die er durch Gespräche mit einigen seiner 
Landsleute machte. Von diesen schrieb H. Hauff: „Nur in Eng- 
land klebt noch ein Teil der Naturforscher hartnäckig an dem Buch- 
staben der Schrift, was wohl daher rührt, dass so viele Lehrer der 
Naturgeschichte Geistliche der bischöflichen Kirche sind,“ was 
Judd bestätigt!‘) 

Zuvor muss ich noch einem zuweilen gemachten Einwand be- 
gegnen, dass zumal der induktiv arbeitende Forscher, der zahllose 
neue Tatsachen ans Licht bringt, die Literatur vernachlässigen 
dürfe, wenn ihn diese bei seinen originellen Untersuchungen auf- 
halte. Ich gebe gerne zu, dass diese Auffassung eine gewisse Be- 
rechtigung für sich hat, so lange wenigstens, wie solch ein Forscher 
sich auch kein Urteil erlaubt über die Literatur, über die Auf- 
fassung seiner Zeitgenossen oder über die Geschichte seiner Wissen- 
schaft. Oben sahen wir aber, dass Darwin sich wohl erlaubte, 
seine Zeitgenossen und den Zeitgeist zu beurteilen. Dann muss 
man aber auch von ıhm fordern, dass er beide kannte. Kannte er 
sie nicht und erlaubte er sich trotzdem ein Urteil, so fehlte es ıhm 
an wissenschaftlichem Ernst! 

Zwar hat Darwin sein berühmtes Buch anfangs ohne jede 
historische Einleitung erscheinen lassen, wodurch er ganz besonders 
den Eindruck erweckte, dass seine Tat, seine Theorie’), eine origi- 
nelle, neugeschaffene sei. Später jedoch zunächst in der ersten 
deutschen Auflage und dann ın der amerikanischen Auflage brachte 
er eine historische Einleitung und zwar auf Antrieb Bronn’s°). 
Obgleich diese Einleitung äußerst oberflächlich und kurz gehalten 
ist, so ist es doch immerhin eine historische Einleitung. Einerseits 
gibt uns diese nun das Recht, von ihm zu fordern, dass er die 
Geschichte, über die er schrieb, kannte, anderseits vernichtete er 
durch diese Einleitung die selbstbehauptete Originalität. 

Wir wollen uns nun zunächst unter Darwin’s Zeitgenossen 
von 1830— 1859 umsehen, ob unter ıhnen namhafte Forscher sich 


5) Fr. Darwin. The life and letters of Ch. Darwin. Vol. I, p. 29, New 
York 1887. 

6) H.Hauff. Vermischte Schriften. Bd.I. Skizzen aus dem Leben und der 
Natur. Stuttgart und Tübingen 1840, S.202. J.W.Judd. The coming of evolution, 
1910, p. 25 schrieb “Uniformitarianism and Plutonisme were looked upon, with 
aversion and horror as subversive of religion and morality.” Coneybeare, Sedg- 
wick, Buckland, Whewell, Henslow waren Geistliche. Judd, ]. c. schrieb 
weiter in bezug auf England (p. 1). “At the beginning of the century the few who 
ventured to entertain evolutionary ideas where regarded by their scientific contem- 
poraries, as wild visionairies, or harmless ‘cranks’, by the world at large as ignorant 
‘quacks’ or ‘designing atheists” (vgl. auch Judd S. 61). 

7) Er selbst schrieb oft “my theory”. So auf S. 206, 280, 302, 463, 465 der 
ersten Auflage. Darüber handelt auch Fr. Darwin. Ch. Darwin, 1892, p. 246. 

8) Fr. Darwin. Ch. Darwin, 1892, p. 246. 


I6 


finden lassen, die die Variabilität der Organısmen lehrten. 
finden dann die folgenden Autoritäten. 


Kohlbrugge, War Darwin ein originelles Genie? 


ich selbst gelesen habe. 


I# 
2. 
3. 


4. 
. Omalius d’Halloy 


Qu 


Wilbrand 1830. 
Matthew 1831. 

E. Geoffroy St. Hilaire 
1831. 

Aug. de St. Hilaire 1831. 
1831, 
1846. 


. Nodier 1832. 

. Leuckart 1832. 

. de la Beche 1833. 

. von Baer 1834, 1859. 
Grant 1834. 

. Poiteau 1834. 

. Heer 1834, 1855, 1858. 

. Schubert 1835, 1839, 1852. 
. Ehrenberg 1835, 1838. 

. Rossmässler 1835, 


1847, 
1856. 


. Rafinesque 1836. 

. Schopenhauer 1836, 1850, 
. Reichenbach 1837. 

. Herbert 1837. 

. Oken 1837. 
Dutreichet 1837. 

. von Berg 1837, 1843. 
. Bucher de Pertes 1838. 
. Burdach 1838, 1840. 
. Spring 1838, 1853. 
liıttre 1838 

.v. Martius 1839. 

. Wimmer 1839. 

. Meunier 1839. 

. Carpenter 1839, 1841. 
. Wetter 1839. 
00121839. 

. Kehlau 1840, 

. Hauff 1840. 

. Illgen 1840. 

. Perty 1841, 1846. 

. Moritzi 1842. 

. Landbeck 1842. 

. Balsac 1842, 1848. 


40. 
41. 
. Hooker 1844, 1853, 1859. 
. Lindley 1844. 

. Chambers 1844, 1853 etc. 
. Pietet 1844,°1853. 

. Vogt 1845, 1847. 

. Wimmer 1846. 

. Fraas 1847. 

. Gerard 1847. 

. Cotta 1848. 

. Cockburn 1849. 

. Martin 1849. 

. Schleiden 1850, 1852. 

. Braun 1851, 1859. 

. Reichenbach 1851. 

. Freke 1851. 

. Kützing 1851, 1856. 
>Bronns18hr 

. Donders 1851. 

. Naudın 1852, 1858. 

. Quenstedt 1852. 

. Unger 1852. 

. Eschricht 1852. 

. Spencer 1852. 

. Schaaffhausen 1853. 

. Brehm 1853. 

. Baumgärtner 1853. 1855. 
. Carus 1853. 

. Keyserling 1853. 

. Mac Gregor 1853. 

. Nägelıi 1853, 1859. 

. Lecocq 1854. 

. Schultz - Schultzenstein 


Wır 
Ich gebe nur solche, die 


Haldeman 1843. 
Regel 1843. 


1854. 


. Baden Powell 1855. 
. de ÖCandole 1855. 

. Büchner 1855. 

. Laugel 1856. 

. Müller 1856. 

. Burmeister 1856. 

. Serres 1857. 


Kohlbrugge, War Darwin ein originelles Genie? 07 


81. Jaeger 1857. 85. Maury 1859. 
82. Virchow 1858. 86. Hudson Tuttle 1859. 
83. Wallace 1858. 87. Hooker 1859. 


84. Huxley 1859. 


Diese 87 Namen von Zeitgenossen, die sich durch weiteres 
Nachforschen wohl werden vermehren lassen, zeigen in unwider- 
leglicher Weise, dass Darwın die Literatur nicht kannte und dem- 
nach den Zeitgeist nicht beurteilen konnte. Dann war es allerdings 
leicht, sich selbst zu suggerieren, dass er ein origineller Schöpfer 
sel. Dieses Namenverzeichnis beweist weiter, dass Darwın sich 
die nutzlose Aufgabe zuerteilte um offene Türen einzurennen, als 
er schrieb: „Mag ich mich auch geirrt haben ... indem ich die 
Tragweite der natürlichen Zuchtwahl überschätzte .... trotzdem 
glaube ich wenigstens dadurch etwas Gutes gestiftet zu haben, dass 
ich das Dogma von einzelnen Schöpfungen umgestoßen habe“). 
Oder wir müssen annehmen, dass Darwın für die ganz speziellen 
damaligen englischen Verhältnisse schrieb, die aber, wie die oben 
gebrachten englischen und amerikanischen Namen beweisen, auch 
nicht ganz seiner Beschreibung des Zeitgeistes entsprachen, was er 
in seiner Einsamkeit auf Down wohl nicht erfahren hatte. Oder 
Darwin wollte sich vielleicht mit seinem Buche an die Theologen 
und das große Publikum wenden, die allerdings der Meinung waren, 
dass jede Spezies einzeln geschaffen worden sei? Gegen letztere 
Auffassung ıst aber einzuwenden, dass Darwin in den oben ge- 
gebenen Zitaten selbst immer von den „naturalist“ spricht, also 
von seinen Fachgenossen. Dann kannte er wohl nur einige der 
damaligen, heute längst vergessenen englischen Dozenten, während 
er die Literatur einfach nicht kannte. Um dies noch stärker hervor- 
treten zu lassen und weil Darwin in seiner später gegebenen histo- 
rischen Einleitung weit über die selbstdurchlebte Periode hinausgeht, 
so empfiehlt es sich, dass wır uns auch nach den Vertretern der Varia- 
bilität umsehen, die vor 1830 gelehrt haben. Dabei wollen wir die 
älteren Autoren, solche z. B., die Variabilität annahmen, weil sonst 
in der Arche Noah kein Raum für alle Tiere gewesen sei, außer 
acht lassen und ebenso die mittelalterlichen, oft recht phantastischen 
Anschauungen über Variabilität. Wir fangen darum erst mit dem 
18. Jahrhundert an. 


88. de Maillet 1715, 1748. 93. Buffon 1756, 1761. 
89. Marchant 1719. 94. Duhamel du Monceau 
90. Needham 1747, 1749. 1758: 
91. Baumann (Maupertuis) 95. Wolff 1759. 
1751. 96. Robinet 1761. 
92. Diderot 1754, 1769. 97. Bonnet 1764, 1769. 


9) Der englische Text folet unten auf S. 108. 
XXXV. 7 


98 
98. Duchesne 1766. 129. 
99. Maupertuis 1768. 130. 
100. Holbach (Mirabaud) 131. 
1710: 1323 
101. Kawersnief 1775. 133. 
105 Pallas 1777,.41780.31811.. 243% 
103. Zimmermann 1778. 135. 
104. Leske 1779. 136. 
105. Soulavie 1780. lauf 
106. Fabricius 1781, 1804. 138. 
107. Ealecone&r 1782. 139. 
108. Douglas 1785. 140. 
109. Forster 1786. 141. 
110: E. Darwin 1789, 1796. 142: 
ON ar 
112. Hunter 1794. 143. 
113.0 0-b anası 1.796,17797: 144. 
114. Deleuze 1800. 145. 
115. de Lazepede 1800. 146. 
116. Rodig 1801. 147. 
117. de Lamarck 1801, 1809. 148. 
118. Schelver 1802, 1812. 149. 
119. Playfair 1802. 150. 
120. Treviranus 1802. 
1217 Bertrand 3803. 
122. Gautierı 1806. 151 
1232 V.0181.1808,.1817, 1823. 152. 
124. Hagen 1808. 93} 
125. Philites 1809. 154. 
126. Bonellı 1809. 155. 
127. Meiners 1811. 156. 
128. Spix esilale 197 


Kohlbrugge, War Darwin ein originelles Genie? 


Fries 1814. 

Feburier 1815. 
Lawrence 1816. 
Doornik 1816. 
Lenhossek 1816. 
Schweigger 1818, 1820. 
Wells 1818. 

Tauscher 1818. 
Ballenstedt 1818. 
Poiret 1819, 1820. 

v. Schlottheim 1820. 
Agardh 1820. 

Link 1821. 

Pander, d’Alton 1821 bıs 
11825; 

Meckel 1821. 

Körte 1821, 1824. 
Nöggerath 1822. 
Herbert 1822, 1837. 
Gaede 1823. 

Hayn 1823. 

Stahl 1824: 

Bory St. Vincent (Dietion. 
de l’histoire naturelle) 1824 
bis 1830. 

Defrance 1824. 

v. Buch 1825. 

Grant 1826. 

Prichard 1826, 1834. 
Lyell 1827, 1836. 
Ritgen 1828. 

Kaup 1829. 


Zu diesen wären dann noch diejenigen zu fügen, welche nicht 
eine Variabilität durch äußere oder innere Einflüsse, sondern eine 
Entstehung neuer Spezies durch Kreuzung lehrten. Von diesen 
will ich hier nur die folgenden nennen. 


158. Linne 1743—1762. 163. Henschel 1820. 
159. Gmelin 1749—1760. 164. Knight 1821, 1823. 
160. Koelreuter 1761, 1764. 165. Sageret 1830. 

161. Adanson 1763. 166... Eu vıSs91837. 


162. Ackermann 1812. 


Hier wären besonders noch manche Botaniker hinzuzufügen !°). 
10) Ältere Arbeiten finden sich z. B. noch bei J. Dryander: Catalogus 


bibliothecae historico-naturalis Josephi Banks. Londini 1797. T. III. Abteilung 
Transmutatio specierum. 


Kohlbrugge, War Darwin ein originelles Genie? 99 


Eine weitere kleine Reihe von Forschern, die Variabilität für eine 
bestimmte Gruppe lehrten, werde ich weiter unten bringen. 

Wir wissen nun, mit welchem Leichtsinn Darwin urteilte und 
ebenso Haeckel!!) als er schrieb: „Um die Bedeutung dieses 
doppelten Verdienstes richtig zu würdigen, muss man bedenken, 
dass fast die gesamte Biologie vor Darwin den entgegengesetzten 
Anschauungen huldigte und dass fast bei allen Zoologen und Bota- 
nikern die absolute Selbständigkeit der organischen Spezies als 
selbstverständliche Voraussetzung aller Form-Betrachtung galt. Das 
falsche Dogma von der Beständigkeit und unabhängigen Erschaffung 
der einzelnen Arten hatte eine so hohe Autorität und eine so allge- 
meine Geltung gewonnen, und wurde außerdem durch den trügen- 
den Augenschein bei oberflächlicher Betrachtung so sehr begünstigt, 
dass wahrlich kein geringer Grad von Mut, Kraft und Verstand 
dazu gehörte, sich reformatorisch dagegen zu erheben und das 
künstlich darauf errichtete Lehrgebäude zu zertrümmern.“ Wir 
wissen nun, wie wir über diesen Mut und das Zertrümmern zu 
denken haben!?). Auf diese trockenen Namenverzeichnisse, be- 
sonders auch weil ich diese einstweilen ohne den näheren Literatur- 
nachweis bringe”), mögen nun noch einige Zitate folgen, welche 
dasselbe beweisen wie die Namen. 

Wir haben oben bereits Hauff als Zeugen angeführt, dass 
man um 1840 auf dem Kontinent ziemlich allgemein an die Ver- 
änderlichkeit der Spezies glaubte. Gleiches lehrt uns die 1842 zu 
Erlangen erschienene Streitschrift!*) von G. F. Müller, welche diese 
Konstanz heftig verteidigt und nicht erschienen sein würde, wenn 
die Variabilität nicht viele Anhänger gehabt hätte. Deutlich sind 
auch die Worte von K. E. von Baer. „Es wäre!) geradezu un- 
möglich, alle Aussprüche von Naturforschern aufzuzählen, welche 
sich gegen die Konstanz der einzelnen Arten erklärt haben.“ Auch 


11) Schöpfungsgeschichte, 9. Aufl., S. 107. 

12) Man vergleiche damit die Worte von Dewar (D. Dewar u. F. Finn. 
The making of Species. London 1909, p. 6, 7): “We hear much of the “magnitude 
of the prejudices” which Darwin had to overcome, and of the mighty battle which 
Darwin and his lieutenant Huxley had to fight before the theory of the origin 
of species by natural selection obtained acceptancee. We venture to say that 
statements such as these are misleading. We think we may safely assert that 
scarcely ever has a theory which fundamentaly changed the prevailing scientific 
beliefs met with less opposition.” 

13) Ein Artikel wie dieser würde durch einen ausführlichen Literaturnachweis 
allzu große Dimensionen annehmen. Ich gedenke ihn später zu bringen, wenn die 
Verhältnisse die Herausgabe eines Buches „Die Geschichte der Evolution“ ge- 
statten. 

14) G. Fr. Müller. Die Entstehung des Menschengeschlechts. Erlangen 1842. 

15) K. E. v. Baer. Studien aus dem Gebiet der Naturwissenschaften. 1876, 
P. 273. 

7* 


100 Kohlbrugge, War Darwin ein originelles Genie ? 


Ehrenberg’s Schrift von 1852'%) wäre hier zu nennen, in der 
man auch (S. 1) diese Worte findet: „Die neueste Bewegung in 
den organischen Naturwissenschaften stellt alle Formbeständigkeit 
in Frage.“ Diese Bewegung hatte außer der Evolutionstheorie noch 
verschiedene Wurzeln. Wir nennen hier: 

Erstens aus den am Ende des 18. und Anfang des 19. Jahr- 
hunderts sehr beliebten Untersuchungen über die Generatio spon- 
tanea und das Leben der niedrigsten Organismen. Diese hatten zu 
der Überzeugung geführt, dass wenigstens die niedrigen Organismen 
direkt ineinander übergehen können. Im 18. Jahrhundert ging diese 
Auffassung von Needham aus, der deshalb durch Voltaire scharf 
angegriffen wurde. Im 19. Jahrhundert war Agardh der Haupt- 
repräsentant dieser Richtung, an den sich die meisten anderen 
anschlossen. Die mir bekannt gewordenen Forscher, welche die 
niederen Formen ineinander übergehen ließen, bringt das nach- 
folgende Verzeichnis. 


167. Needham 1747, 1749. 183. Eichwald 1821. 

168. Richard 1780. 184. Ramdohrius ' 
169. Engramelle | nn 185. Vaucher Eichw ld 
170. Muller ek, 186. Gruithuizen | la 


| Richard 


171. Le Bossu 187. Wiegmann 1822. 


172. Ingerhous 1784. 188. Fries 1821, 1822, 1829. 

173. Lichtenstein 1797. 189. Meyer 1825. 

174. Treviranus 1802. 190. Turpin 1826. 

175. Girod Chantran 1802. 191. Edwards 1826. 

176. Sprengel 1804, 1812. 192. Meyen 1827. 

177. Trentepohl 1807, 1823, 193. Borry St. Vincent: 1827. 
1826. 194. Unger 1827, 1830, 1843. 

198.4 Nitzschw181%. 195. Leuckart 1827. 

179. Agardh 1814, 1820, 1823, 196. Hundeshagen 1829. 
1826, 1828, 1829. 197. Himley 1838. 

180. Schweigger 1820. 198. Carpenter 1839, 1841. 


181. Nees v. Esenbeck 1820. 199. Kützing 1841. 
182. Hornschuh 1821. 


Da auch diese Autoren die Konstanz der Art wenigstens für 
die niederen Organismen bekämpfen, so wäre unsere Zeugenreihe 
auf fast 200 angewachsen, während Darwin in seiner historischen 
Einleitung nur 2317) zu nennen wusste. Dabei habe ich erst einen 
kleinen Teil der Literatur durchgesucht. Ich bezweifle, ob man 

16) ©. G. Ehrenberg. Über die Formbeständigkeit und den Entwicklungs- 
kreis der organischen Formen. Aus den Monatsberichten der Akademie, Berlin 1852. 

17) Man findet 25 Namen, von denen ich glaube, dass Owen und Isid. 
Geoffroy St. Hilaire besser fortgelassen werden. Diese, wie viele andere zweifel- 
hafte Zeugen, wird man auch in meinen Verzeichnissen nicht finden. G. Seidlitz 
brachte später auch nur 47 Namen (Darwin’sche Theorie, 2. Aufl., Leipzig 1875). 


Kohlbrugge, War Darwin ein originelles Genie ? 101 


solch eine stattliche Reihe gleich bedeutender Forscher wird zu- 
sammenstellen können, welche die Konstanz der Art verteidigten, 
wenn ich auch einige tüchtige Geologen zu nennen wüsste, welche 
den Standpunkt Cuvier’s übertrieben auffassten. 

Zweitens wurde obengenannte Bewegung sehr gestützt durch 
Schwann’s Zellenlehre Ehrenberg (l. c. S. 30—31) bemerkt 
dazu: „Jetzt wird häufig die Ansicht laut und öffentlich gebildet, 
dass eine Zelle mit ihrem Zellkerne einem Ei gleiche und alle Eier 
samt den ganzen Infusorien nur solche Zellen wären. Nichts ge- 
rıngeres als die ım Erdinnern geologisch wahrnehmbare Aufeinander- 
folge verschiedener Formenreihen, deren Erkenntnis noch so mangel- 
haft und deren Darstellung oft so wenig physiologisch richtig ist, 
glaubt man sogar damit zu erklären.“ „Freilich (l. ce. S. 10) löst 
sich jetzt jede Pflanzenvorstellung in der Literatur der Botanik fast 
allein in Zellen auf, die so wenig das Bild einer Pflanze geben 
können als Mauersteine das eines Hauses, oder es zergeht die Vor- 
stellung in ein Nebelbild proteischer Fortbildung und Verwandlung, 
welche alle Formbegrenzung nach allen Seiten hin aufhebt, alle 
Genera und Spezies vernichtet'?). 

Drittens wirkte hier der 1842 von Steenstrup entdeckte 
Generationswechsel kräftig mit, der den Übergang des einen Tieres 
in ein anderes direkt zu zeigen schien. 

Viertens zeigte auch hier die Naturphilosophische Lehre von 
der Metamorphose ihren Einfluss (Ehrenberg, l. c. S 141), da sie 
überall nach Urformen suchte. Sie ließ alle Seitengebilde der 
Pflanze mit Goethe aus dem Blatt entstehen und alle Unterteile 
des tierischen Körpers aus Wirbeln. Sie verflüssigte also auch die 
Formen. 

Fünftens stimmte für dıe Variationsfähigkeit der Organismen 
die geologische Formenreihe. Dazu bemerkte Ehrenberg'’): „Zu 
läugnen ist es nicht, dass die bisherige häufig ausgesprochene Vor- 
stellung, als wären alle neuere Organismen samt dem Menschen 
die Nachkommen und vervollkommnetenr Verwandlungsstufen von 
Trilobiten und Farnkräutern etwas Widerstrebendes hat.“ 

Dieses alles hatte zur natürlichen Folge, dass man bei der 
einfachen Variabilität nicht stehen blieb, welche nur für verwandte 
Formen gemeinsame Abstammung annahm, sondern vollständige 
Stammbäume für Tiere und Pflanzen entwarf, kurz zu einer Deszen- 
denztheorie überging. Auch diese Bestrebungen, die den seinen so 
nahe kamen, waren Darwin meist unbekannt geblieben, wie nicht 


18) Darüber handeln besonders: M. J. Schleiden, Die Pflanze und ihr 
Leben, Leipzig 1850; O. Schmidt, Goethes Verhältnis zu den organischen Natur- 
wissenschaften. Berlin 1853, 8. 8. 

19) ©. G. Ehrenberg. Über noch zahlreiche jetzt lebende Tierarten der 
Kreidebildung. Berlin 1840, S. 83. 


102 Kohlbrugge, War Darwin ein originelles Genie? 

nur seine historische Einleitung, sondern auch die folgenden Worte 
zeigen, die er schrieb: “With respect to books on this subject I 
do not know of any systematical ones, except Lamarcks.” Ob 
man nun der Deszendenztheorie ein Buch, oder ein Kapitel, oder 
nur einige Seiten widmete, ist nebensächlich, wenn man nur eine 
deutliche Vorstellung des Deszendenzgedankens gab. Das taten 
aber die nachfolgenden Autoren ?°), die alle eine Abstammung aller 


Wesen aus einigen oder wenigen Formen annahmen. 


de Maillet 1748. 

Needham 1749. 

Baumann (Maupertuis) 1751. 
Maupertuis 1768. 

Delisle de Sales 1777. 

E. Darwın 1789—1796. 
Fabricius 1781—1804. 

Rodig 1801. 

Treviıranus 1802. 

Bertrand 1803. 

Gautierı 1806. 

Hagen 1808. 

Voigt 1808—1817. 

de Lamarck 1809. 

Bonelli 1809—1830. 

Fodera 
Marmocchi 
Doornik 1816. 

Tauscher 1818. 

Bander d’Alton 18201825. 
Meckel 1821. 

Link 1821. 

Nöggerath 1822. 
Reichenbach 1828-1837. 
Kaup 1829, 1835. 

Nodıer 1832. 

Littre 1838. 

Illgen 1840. 

Perty 1841, 1846. 


| nach Gamerano 


Moritzi 1842. 

Chambers 1844, 1853. 
Rossmässler 1844, 1847, 1856. 
Gerard 1844, 1845, 1847. 
Cotta 1848. 

Braun 1851, 1359. 
Donders 1851. 

Freke 1851. 

Spencer 1852. 

Unger 1852. 

Schleiden 1852. 
Quenstedt 1852. 

Naudin 1852, 1858. 
Schaaffhausen 1853. 
Baumgärtner 1853, 1855. 
Naegelı 1853, 1859. 
Schultz-Schultzenstein 1854. 
Baden Powell 1855. 
Büchner 1855. 

Heer, 1855, 1858. 

Laugel 1856. 

Kützing 1856. 

Jaeger 1857. 

Huxley 1859. 

Wallace 1859. 

Hudson Tuttle 1959. 
Weinland 1860—1861. 
Carpenter 1862. 


Das wären also fast 60 Namen von Deszendenztheoretikern! 


Würde ich nun hier auch noch die Namen derjenigen herzählen, 
die, wenn sie auch keine fleischliche Deszendenz annahmen, doch 
eine gleichzeitige Schöpfung aller Formen verwarfen und für die 


20) Es sind natürlich zum Teil dieselben, die oben bereits für die Variabilität 
der Art genannt wurden, 


Kohlbrugge, War Darwin ein originelles Genie? 103 


Organismen eine ideell gedachte, sich über weite Zeiträume aus- 
dehnende Evolution verteidigten, dann könnte ıch fast alle Namen 
der bedeutenderen Zoologen, Botaniker und Geologen hier zusammen- 
stellen, die seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gelebt haben. 
Fast alle waren Evolutionisten, verwarfen das Sechstage-Werk und 
nahmen ein sehr hohes Alter für die Erde und ihre Organismen an. 
Vielleicht werden auch unter den Lesern dieser Zeilen noch einige 
sein, die, trotzdem schon so oft darauf hingewiesen wurde, meinen, 
dass Deszendenztheorie und Evolution dasselbe sei. Das ist aber 
durchaus nicht der Fall. Es wurde diese irrige Auffassung aber eifrig 
propagiert, denn ındem man Evolution und Deszendenz identifi- 
zierte, konnte man sagen: „Es gebe nichts zwischen Deszendenz- 
lehre und dem aus der Bibel hergeleiteten Schöpfungsbegriff.“ 
Dazwischen liegen aber viele vitalistische Evolutionstheorien. In 
bezug auf die Verallgemeinerung dieses damals schon alten Evo- 
lutionsgedankens ist aber noch besonders hervorzuheben, dass für 
diesen Spencer?!) und Lyell?) mehr taten als Darwin. 

Deszendenz ist einfach die materiell gedachte Evolution. Dass 

die Evolution allgemein anerkannt und auf allen Universitäten ge- 
lehrt wurde, bezeugen auch M. Müller und H. Lotze?). Was 
Theologen und Laien dazu dachten, geht uns Naturforscher (Natura- 
lists) wohl weiter nichts an. Wir haben mit der langen Reihe 
Namen sattsam nachgewiesen, dass die Deszendenztheorie nicht 
mehr aus den Gedanken der Forscher wich, seit sie durch de Maillet 
einmal eingeführt und durch de Lamarck weiter ausgearbeitet 
worden war. Das habe ıch übrigens schon in zwei Arbeiten aus- 
führlich gezeigt ?*). 
Burmeister schrieb denn auch 1856?) von der „Umwand- 
21) A. Thomson. Progress of science in the century. London 1906, p. 426. 
Biological problems of to day. Edinburgh review. Jan. 1909, p. 194. E. Clodd. 
Pioneers of Evolution p. 174—183, London 1897. W. A. Locy. Biology and its 
makers, p. 346, New York 1908. R. Mackintosh. From Comte to Kidd, p. 64, 
London 1899. Ch. Hodge. What is Darwinisme, p. 11, London, Edinburgh 1874. 
O. Zöckler. Geschichte der Beziehungen zwischen Theologie und Naturwissen- 
schaft, II, S. 806. Gütersloh 1877. R. H. Lock. Recent progress in the study 
of variation 3e ed. London 1911. p. 23. 

22) Judd, l. c. p. 73, 74, 81, 103, 150. Judd’s Urteil ist darum besonders 
wertvoll, da er alle englischen Forscher dieser Periode persönlich gekannt hat. 
Übrigens bestätigt Darwin Judd’s Auffassung in der ersten Auflage der Origin of 
species S. 282. 

23) M. Müller. Natürliche Religion. Leipzig 1891, p. 251. H. Lotze. 
Mikrokosmus. Leipzig 1858, p. 58. 

24) J. B. de Lamarck und der Einfluss seiner Deszendenztheorie von 1809 
bis 1859. Zeitschr. f. Morphologie u. Anthropologie, Bd. XVIII, Stuttgart 1914. 
B. de Maillet, J. de Lamarck und Ch. Darwin. Biolog. Centralblatt, S. 505, 
Bd. XXXI, Leipzig 1912. 

25) H, Burmeister. Zoonomische Briefe. Pd. I, 1856, Anm. S. 20. 


104 Kohlbrugge, War Darwin ein originelles Genie? 


lungstheorie der Spezies beim Übergange aus einer Schöpfung in 
die andere, welche von vielen namhaften Forschern vertreten wird.“ 
Bei A. Gaudry lesen wir: „Lorsque M. Darwin dans son livre 
sur l’origine des especes a pretendu qu’il y avait des transformations 
ıl a repondu aux aspirations d’un grand nombre d’observateurs“ ?°), 

Grant Allen?”), der seinen Landsmann Darwın durchaus zu 
schätzen wusste, bezeugte “On every side (p. 17) evolutionism, in 
its crude form was already in the air. Long before Ch. Darwin 
himself published his conclusive ‘origin of species’ every thinking 
mind in the world of science elder and younger was deeply engaged 
upon the self-same problem °®)’” Darum konnten Darwin’s Ge- 
danken so schnell Eingang finden (l. c. S. 19). Weiter setzt Allen 
auseinander (l. c. S. 192), dass, wenn Darwın’s Buch nicht er- 
schienen wäre, wir doch alles das wissen würden, was wir heute 
wissen, dass wir auch alle von Darwin verteidigten Ideen ohne 
ıhn kennen gelernt haben würden, aber sie würden dann beschränkt 
geblieben sein auf: “a small philosophical and influential band of 
evolutionary workers.” Durch Darwin’s Auftreten verbreiteten 
sie sich über die ganze Welt! Wir sind der Auffassung, dass letz- 
teres wohl nicht durch Darwın selbst geschah, sondern durch ein zu- 
fälliges Zusammentreffen mit anderen Strömungen (unten S. 109). Auf 
S.23 schrieb Grant Allen “that the theory of ‘natural selection’ was 
the only cardınal one in the evolutionary system on which Eras- 
mus Darwin did not actually forestall his more famous and 
greater namesake”?®). Das klingt ganz anders als Darwin’s eigener 
Satz, den wir am Anfang dieser Arbeit brachten, ın dem auch das 
Wort “forestall” benutzt wurde. 

Asa Gray, Darwin’s Freund, wies ausdrücklich darauf hın, 
dass viele wie Darwin, Hooker, de Oandolle, Agassız und 
er selbst, jeder selbständig ın der gleichen evolutionistischen Rich- 
tung nach einer Erklärung suchten ®%). Dazu rechnete er auch 
Dana°!). Lyell sprach die gleiche Überzeugung aus nach seinem 
Besuche bei OÖ. Heer??). 


26) A. Gaudry. Animaux fossiles de l’attique. Paris 1862. 

27) Grant Allen. Charles Darwin, English worthies edited by Andrew 
Lang. .London 1885. 

28) Hierzu auch E. Krause (Ü. Sterne). Charles Darwin und sein Ver- 
hältnis zu Deutschland. Darwinistische Schriften. 2. Folge, Bd. 6, Leipzig 1885, 
p: 9120292. 

29) 1. c. p.23. Hiermit stimmt E Th. Clodd, Pioneers of evolution. London 
1897, p. 104, überein, der Allen’s Buch “excellent little monograph” nennt. 

30) Letters of Asa Gray, 1893. To Dana 13. Dec.. 1856, p. 424. 

31) Letters of Asa Gray, 1893, 7. Nov. 1857. 

32) Ch. Lyell. Life letters and journals, Vol. II, p. 246, London 1881. 
Oswald Heer. Lebensbild eines Naturforschers von K. Schröter. Zürich 1885, 
p- 349. 


Kohlbrugge, War Darwin ein originelles Genie? I05 


A. Newton°?) schrieb: “There was among naturalists during 
the second quarter of the nineteenth century a feeling of dissatis- 
faction with respect to current ideas concerning the origin of species, 
accompanied in many cases with one of expectation that a solution 
might soon be found.” Gleiches besagen Dewars?*) Worte: “As 
we have seen the theory was enunciated at the psychological 
moment, at the time when zoological science was ripe for ıt. Most 
of the leading zoologist were evolutionist at heart and were only 
too ready to accept any theory which afforded a plausible explana- 
tion of what they believed to have occurred. Hence the rapturous 
welcome accorded to the theory of natural selection by the more 
progressive biologists.” Hier ıst Dewar nicht ganz genau. Freudig 
begrüßt wurde die große Materialsammlung Darwin's, wodurch 
die Lehre der Variabilität besser begründet und so die Deszendenz- 
theorie gestützt wurde. Die Erklärung aber, welche er zu der Des- 
zendenztheorie gab, also “natural selection” wurde als formbestim- 
mender Faktor nicht allein von allen bedeutenden Forschern des 
Kontinents verworfen®?), sondern auch von den meisten seiner 
englischen Freunde mit Ausnahme Hooker’s°®®). Darauf will ich 
jetzt nicht näher eingehen. Jauchzend begrüßt wurde aber gerade 
die rein materiell gedachte “natural selection” von einer anderen 
Gruppe, die wir weiter unten erwähnen werden. 

In seinem Buche Darwiniana?”) schrieb Asa Gray (p. 238): 
“A notable proportion of the more active minded naturalists had 
already come to doubt the received doctrine of the entire fixity of 
species and still more than that of their independent and super- 


33) Macmillians magazine Febr. 1888, p. 241 nach Judd, |. c. 

34) D. Dewar, F. Finn. The making of species. London 1909, p. 3. 

35) Ich nenne einstweilen K. E. von Baer, Bronn, Köllicker, Nägeli, 
Virchow. Vergl. Krause l. c. 

36) Über die Differenzen zwischen Darwin und seinen Freunden Wallace, 
Lyell und Asa Gray vergleiche: E. Krause. Ch. Darwin und sein Verhältnis 
zu Deutschland. Leipzig 1885, S. 128, 133, 146. Asa Gray. Letters 1893, 
18. Febr. 1862, 20. April 1863, 7. Juli 1863. Asa Gray. Natural science and 
religion. New York 1880, p. 48, 72. J. Marcou. Life letters and works of 
Agassiz, New York 1896, p. 117. Ch. Lyell. Principles of geology, 10 ed. 
1868, II, p. 613. Life letters journal. London 1881, II, p. 363, 365, 366, 
442. E. Th. Clodd. Pioneers of evolution, 1897, p. 133, 149. R. Wallace. 
Contributions to the theory of natural selection, London 1870. Für Huxley 
vergleiche: Life and letters of Huxley, 1900, I, S. 173 und Radl, l.c., II, S. 156. 
Weiter: Une vietime du Darwinisme. Revue des deux mondes. 15. Dee. 1900. 
E. B. Poulton. Essays on evolution. Oxford 1908, p. 201-202. Clodd. 1. ce, 
p- 22, 90, 92. Für Herschel vergleiche W. May. Wissenschaftliche Rundschau, 
Heft 18, 1911—1912. G.J. Romanes kehrte ganz in den Schooß der Kirche zu- 
rück. Life and letters of Romanes, London 1896, am Schluss. 


37) Darwiniana. Essays and reviews pertaining to Darwinism,. New York 
1876. 


06 Kohlbrugge, War Darwin ein originelles Genie? 
} gs 8 


natural origination.” Schleiden behauptete: „Die®*) hier gegebene 
historische Übersicht wird wohl jedem klar machen, dass die Dar- 
win’schen Lehren nur dem mit der Wissenschaft gänzlich unbe- 
kannten als etwas Neues und Unerhörtes erscheinen konnten.“ Bei 
A. de Candolle lesen wir: „I y a?) des notions tres importantes 
qui se repandent spontanement et qui s’imposent pour ainsı dire 
a une certaine epoque sans qu’on puisse les attribuer a tel ou tel 
individu. C’est le cas de la transformation des etres organıses dans 
la serie des temps, quı etait deja admire implieitement, de quelque 
maniere, par la plupart des naturalistes, comme un fait incomprehen- 
sıble, lorsque l’idee neuve de la selection offrant un moyen d’expli- 
cation vient donner ä la theorie un appui tres important.“ Schon 
im Jahre 1855 hatte De Candolle die Frage, ob neue Formen 
aus den früheren entstehen oder geschaffen wurden, als die große 
Frage der Naturgeschichte des 19. Jahrhunderts bezeichnet *°). 
G. Jäger nannte sie „diese Jahrhunderte alte Streitfrage“ *'). Sehr 
bezeichnend schrieb auch D. Wetterhahn. „Auch hieraus®?) ıst 
ersichtlich, dass Darwin’s Buch keineswegs wie ein Blitz aus 
heiterem Himmel in die im Immunitätsglauben ruhende wissen- 
schaftliche Welt gekommen ist.“ Der beste Beweis hierfür ist wohl 
der buchhändlerische Erfolg, der nicht nur Darwın's Werk, sondern 
auch den älteren echt evolutionistischen Werken von Ch. Lyell 
(Principles of geology) und von R. Chambers (Vestiges of Creation) 
zufiel. 

Der erste Band von Lyell erschien 1829 und wurde in 1500 
Exemplaren aufgelegt, nach 3 Monaten waren bereits 650 Exem- 
plare verkauft. Mit dem zweiten Bande erschien denn auch 1832 
eine neue Auflage des ersten Bandes, und mit dem dritten Bande 
eine zweite Auflage des zweiten Bandes. 1834 wurde das ganze 
dreibändige Werk von neuem verlegt. In 10 Jahren erschienen 
so sechs Auflagen und ım ganzen zwölf Auflagen). Die Vestiges 
of Creation erlebten von 1844—1853 zehn Auflagen. Es war denn 
auch wohl kein Zufall, dass Darwın ın dem Erscheinungsjahr der 
Vestiges (1544) seinen ersten kurzen Entwurf vom Jahre 1842 


38) Der Darwinismus und die mit ihm zusammenhängenden Lehren. Unsere 
Zeit, 1869, p. 264. 

39) Histoire des sciences et des savants. Gendve 1882, 2e ed., p. 481. Ähn- 
lich in seinem Artikel „Darwin“. Arch. des sciences de la bibliotheque universelle, 
T. VII, Mai 1882. 

40) A. de Candolle. Geographie botanique raisonnee 1855. Einleitung. 

41) Schriften zur Verbreitung naturwissenschaftlicher Kenntnisse in Wien. 
Bd. I, 1862, 8. 81-110. 

42) D. Wetterhahn, Beiträge zur Geschichte der Entwicklungslehre in 
Kosmos, Bd. 16, 1885, S. 410. 

43) J. W. Judd. The coming of evolution. Cambridge 1910. 


Kohlbrugge, War Darwin ein originelles Genie? 107 


(35 Seiten) zu einem neuen Entwurf von 230 Seiten ausdehnte **). 
Wir wissen ja, dass Darwin die Vestiges eifrig studiert hat®?). 
Über den großen Einfluss, den dieses Buch auf Darwin ausübte, 
handelte besonders Judd*). Allerdings verurteilten die englischen 
Autoritäten das Buch Chambers ebenso wie Sedgwick, Whewell, 
Buckland, Henslow, de la Beche das Buch Lyell’s verurteilt 
hatten’). Es wirkt geradezu komisch, die abfällıgen Kritiken auf 
erstgenanntes Buch zu lesen von Leuten, die sich später auf Dar- 
win’s Seite stellten und gegen diesen dieselben Argumente hätten 
benutzen können, die sie gegen Chambers angeführt hatten ®*). 

Zum Schluss noch das Zeugnis eines Mannes, der die Literatur 
wie wenige kennt: 

Radl schreibt (l. c. S. 113): „Nicht bei allen lautet die Ant- 
wort auf die Frage nach der Entwickelung ganz gleich, aber ihre 
positiven Antworten sind da nebensächlich, das wichtigste ıst, dass 
fast alle großen Biologen aus den 30er und 40er Jahren des 19. Jahr- 
hunderts mit Interesse entwickelungsgeschichtliche Fragen ver- 
folgten.“ 

Alle diese Autoren bezeugen also dasselbe, was ich mit meinem 
Namenverzeichnis bewiesen habe. Nun lese man oben nochmals 
Darwin’s selbstgefälliges Eigenlob und die Worte Mantegazza’s 
oder auch die folgende Stilprobe aus Haeckel: „Ein einziges 
kolossales Dogma*?) beherrscht die gesamte Wissenschaft nach Art 
des drückendsten Absolutismus. Denn nur als ein kolossales Dogma, 
welches ebenso durch hohes Alter geheiligt und durch blinden 
Autoritätsglauben mächtig, wie ın seinen Prämissen haltlos und ın 
seinen Konsequenzen sinnlos ist, müssen wir hier offen die gegen- 
wärtige immer noch herrschende Ansicht bezeichnen, dass die 
Spezies oder Art konstant und eine für sich selbständig erschaffene 
Form der Organisation ist.“ „Nur durch Annahme ‚einer völligen 
Verstumpfung der Organe des Anschauens‘ begreift man, wie dieses 
in sich hohle und widerspruchsvolle Dogma 130 Jahre hindurch 
fast unangefochten bestehen und wie dasselbe nicht allein dıe Masse 
der gedankenlosen Naturbeobachter, sondern auch die besten und 
denkendsten Köpfe der Wissenschaft beherrschen konnte.“ „Einem 


44) Judd. 1.c. p. 121—122. Ch. Krause Darwin und sein Verhältnis 
zu Deutschland. Leipzig 1885, S. 69—70. 

45) Fr. Darwin. Life and letters of Ch. Darwin I, S. 302, Anm. New 
York 1887. 

46) 1. c. S.73, 74, 81, 103, 150. 

47) Judd. 1 c. p. 70, 72. 

48) Siehe Th. Huxley, Scientific memoirs. Supplementary volume p. 21. 
Für Herschel vergleiche A. R. Wallace, The wonderful century p. 377—378. 
London 1898, 1903. 

49) Generelle Morphologie. Berlin 1866, Bd. I, S. 90. 


108 Kohlbrugge. War Darwin ein originelles (Genie? 


Götzen gleich steht allmächtig und allbeherrschend dieses paradoxe 
Dogma da.“ 

So schrieb man Geschichte! Das hat man dem Volke 
und einer Generation von jungen Gelehrten eingelöffelt! Warum? 
Nun, weil der Darwinismus, wie C. Vogt?) bezeugte, „zu einer 
Religion geworden war, auf die der Darwinist ebenso schwörte wie 
ehemals die Gläubigen auf die Bibel und den Koran.“ Darum 
musste natürlich auch alles richtig sein, was Darwin in selbstge- 
fällıger Weise über sıch selbst und sein Werk geäußert hatte. Darum 
musste Darwın zum unantastbaren Heiligen kanonisiert werden. — 
Auch das Tatsachenmatersal, auf welches Darwın sich bei seinen 
Spekulationen stützte und die wichtigsten sich daran anschließenden 
Verallgemeinerungen waren schon vor Darwin gesammelt und be- 
kannt, wenn er auch eine ganze Reihe höchst wichtiger Beobach- 
tungen hinzufügte. Darauf will ich jetzt nicht eingehen, ich hoffe 
später darauf zurückzukommen. Ich will hier einstweilen nur darauf 
hinweisen, dass man das Material zu einem Buche wie die “Origin 
of species” bereits bei Meckel°!), Bronn°?) und Carpenter”) 
vorfinden konnte. Originell in Darwin’s Zusammenstellung war 
nur°*) der Gedanke, dass der schon vielfach erörterte Kampf ums 
Dasein nicht nur das ungeeignete ausmerze, sondern auch neue 
Formen aus der unbegrenzt gedachten Variabilität hervorrufen 
könne. In dieser “Natural selection” genannten Idee sah Darwin 
aber selbst nicht das Hauptziel seiner Tätigkeit, denn er schrieb°°): 
“Hence ıf I have erred ın giving to natural selection great power, 
which I am far from admitting, or in having exaggerated its power, 
which ıs in itself probable, I have at least, as I hope, done good 
service in aidıng to overthrow the dogma of separate creations°®). 

50) Des Darwinisten Zweifel. Frankfurter Zeitung, 1875. Radl. l.c., II, S. 170. 
1) J. F. Meckel. System der vergleichenden Anatomie. 1821, Bd. I. 
2)H. G. Bronn. Morphologische Studien über die Gestaltungsgesetze. 
Leipzig 1858. Untersuchungen über die Entwickelungsgesetze der organischen Welt. 
Stuttgart 1854. Nach R. Burckhardt (Geschichte der Zoologie, S. 114. Leipzig 
1908) gehören sie zu den wichtigsten Vorarbeiten, auf denen Haeckel fußte. 

53) W. B. Carpenter. Principles of general and comparative physiology, 
1839, 1841, 1854. 

54) Das versichert auch E. Häckel. Generelle Morphologie 1866, II, p. 165 
und Natürliche Schöpfungsgeschichte, 9. Auflage, S. 107, 108. Weiter A.R. Wal- 
lace. Darwinismus. Darstellung der Theorie der natürlichen Zuchtwahl. 1889, im 
Vorwort. F. Rolle. Charles Darwin’s Lehre von der Entstehung der Arten. 
Frankfurt 1867. C. Naegeli. Entstehung und Begriff der naturwissenschaftlichen 
Art. München 1865, S. 16, Anmerk. Grant Allen in Fortnightly Review 1897, 
vol. 61, p.254. W.A.Locy. Biology and its makers. New York 1908, p. 346—348. 
M. Hoernes. Natur und Urgeschichte des Menschen. Wien 1909, S. 46. 

55) The descent of man. London 1871, Vol. I, p. 153. 

56) Vergl. Asa Gray an Darwin. July 21, 1863. ‘But as you say now, 
you don’t so much insist on natural selection if you can only have derivation of 
species.” Dasselbe Fr. Darwin: Charles Darwin. 1892, p. 246. 





) 
5 
> 





Kohlbrugge, War Darwin ein originelles Genie? 109 


Wir haben oben gesehen, dass dieses Dogma der Systematiker 
unter den Naturforschern schon längst seinen Einfluss verloren 
hatte. Um dieses zu bekämpfen, brauchte kein Darwin mehr zu 
kommen. Niemand nahm es ihm übel, dass er nochmals dieses 
längst verblichene Dogma angriff und dies weit kräftiger als seine 
Vorgänger tat, wodurch die Variabilität der Art über allen Zweifel 
erhoben wurde. Was man an ihm verurteilte, war, dass er viel zu 
viel mit seiner ja an und für sich nicht abzuleugnenden “natural 
selection” und so alles mechanisch erklären wollte. Übrigens ist 
es ja richtig, dass er obengenanntes Dogma, das auch heute beı 
Theologen und Laien noch wohl bekannt ist, bei vielen von diesen 
umgestoßen hat, gleichzeitig mit dem Glauben an die gesetzgebende 
Kraft des Buchstabens der Bibel für Erscheinungen der Natur. 
Nicht aber durch eigene Kraft gelang ıhm letzteres, sondern durch 
den deutschen philosophischen Materialismus. Dieser war von dem 
agnostischen Positivismus von Comte’’) und von Feuerbach’s 
Kritik der Religion ausgegangen und von Strauss, Büchner, 
C. Vogt, Moleschott u. a.°*) . propagiert worden, denen sich 
Huxley mit seinem Agnostizismus anschloss. Es ging diese Strö- 
mung zum Teil aus dem Abscheu gegen den Idealismus der Natur- 
philosophie hervor. 

Diese Materialisten °’) fanden in den Lehren Darw in’s geeignetes 
Material für ihre Naturbetrachtungen, zumal es nach ihrer Auffassung 
diesem Engländer gelungen war, an die Stelle der übernatürlichen 
Kraft eines Schöpfers oder der Zweckmäßigkeit das mechanisch 
wirkende Selektionsprinzip oder dieblinde Notwendigkeit zu stellen °°). 
Darwin’s Arbeit wurde dann aber besonders durch Haeckel aus- 
genutzt zum Ausbau seiner monistischen Religion, zu deren Dogma®') 
sie gehört‘). Zwar interessiert dieses Dogma, wie überhaupt jedes 


57) R. Mackintosh. From Comte to Benjamin Kidd. London 1899. 

58) Vergleiche: E. Daequ&. Der Deszendenzgedanke und seine Geschichte. 
S. 111, München 1904. Manche von den damaligen Materialisten wollten übrigens 
anfangs auch nichts von Darwin wissen. Vergl. Wetterhahn in Kosmos, 1855, 
S.405—408 und E. Löwenthal. Herr Schleiden und der darwinistische Arten- 
Entstehungs-Humbug. Berlin 1864. 

59) L. Weiß. Der Streit über die Berechtigungen der Realschulen beleuchtet 
durch die Untersuchung der Frage: Was ist Naturwissenschaft? Ruhrort 1869. 

60) J. Moleschott in seinen Vorträgen (©. R. Darwin, Denkrede, Vor- 
träge, Gießen 1883, S. 19) zeigte den Anschluss der Materialisten an Darwin. 

61) Von einem Dogma spricht auch E. Dacque. Der Deszendenzgedanke 
und seine Geschichte. München 1904, S. 118. ©. v. Nägeli. Mechanisch-physio- 
logische Theorie der Abstammungslehre. München 1884. Einleitung, S. 6. „Die 
Lehre wurde dogmatisiert, systematisiert, schematisiert.“ B. Erdmann. Über den 
modernen Monismus. Deutsche Rundschau März 1914. 8.325 „Neues Evangelium“, 
S. 327 „religiöse Grundstimmung“, S. 328 „religiös Gesinnten“. 

62) Dass Darwin sich stets mehr an diese Partei anschließen musste, zeigte 
Krause. Charles Darwin und sein Verhältnis zu Deutschland. Leipzig 1885, 


410 Kohlbrugge, War Darwin ein originelles Genie? 


Dogma, den Naturforscher als solchen nicht direkt, aber es hat die 
Naturwissenschaft sehr unter dieser Strömung gelitten, da sie, wie 
schon Sachs hervorhob‘°), dadurch zu einer rein deduktiven Wissen- 
schaft wurde, also ganz wie ım Mittelalter, wenn auch in anderer 
Weise. 

Vielleicht wird die neue Zeit eine Losringung aus diesem 
von England ausgegangenen Einfluss und eine Rückkehr zur induk- 
tiven Methode bringen. Dann wird man auch Darwın’s Beiträge 
zur Naturforschung, aber entkleidet von dem ihnen besonders von 
seinen Freunden umgehängten halb philosophischen, halb religiösen 
Mantel, richtiger einschätzen und verwerten können. Es war in 
den vergangenen Jahrzehnten ja fast unmöglich geworden, Dar- 
win’s Arbeiten an sich und rein sachlich zu betrachten und es 
wurde schon öfter darauf hingewiesen, dass Darwin zu dem Stoß- 
seufzer berechtigt gewesen wäre: „Gott beschütze mich vor meinen 
Freunden, mit meinen Feinden will ich schon selbst fertig werden“ ®*). 
Das Schicksal teilt er mit Goethe. Beide trifft aber auch dieselbe 
Schuld. Denn ebensowenig wie Goethe sich kräftig gegen die 
Auswüchse seiner Naturphilosophie widersetzte, tat dies Darwin 
ın bezug auf seine deutschen oben aufgezählten Freunde und 
seinen Trabanten Huxley, deren naturphilosophische Werke er 
zitierte und rühmte. 

Der französische Naturphilosoph Serres behauptete schon vor 
Darwin: „L’universest expliqu& et nous le voyons, c’est 
un petit nombre de principes generaux et feconds qui 
nous en ont donn& la clef!* 

So etwas könnte Haeckel auch geschrieben haben! Man nahm 
eben alles vorweg, woran noch Jahrtausende arbeiten müssen. Das 
hatte zur Folge, dass man die Tatsachen der Theorie zur Liebe 
fälschte. Was der aus deutscher Schule hervorgegangene Uuvier, 
ein Joh. Müller, Nägeli, v. Baer, Bronn u. a. geleistet haben, 
wird stehen bleiben, und auf diese sollte die deutsche Wissenschaft 
zurückgreifen. Von dem aber, was nach 1860 geschah, wird sehr 
viel von neuem untersucht werden müssen, weıl man mit Sıeben- 
meilenstiefeln gehen wollte und die Theorie mehr liebte als die 
Tatsachen. Ich glaube, dass wir die Nachwirkungen dieser bösen 
Periode am besten überwinden durch ein „ıgnoramus“ und nun 
tüchtig weiter arbeiten, nicht um in amerikanischer Weise in Er- 
staunen zu setzen, sondern um wirklich gutes Material zu liefern. 


S. 166. Die darwinistischen Schriften Krause’s wie der Kosmos propagierten 
diese Richtung. 

63) J. Sachs. Geschichte der Botanik. München 1866, p. 184—185. 

64) Difficulties of the theory of natural selection. The mouth 1869, S. 142. 
Westminster review, Januar 1869. 


Abderhalden, Abwehrfermente. 111 


Dabei braucht man aber die großen Ziele und die vorhandenen 
Theorien gar nicht aus den Augen zu verlieren. An ein hoffnungs- 
loses „ıgnorabım us“ sollte niemand denken! Der ernste Forscher 
soll heute in bezug auf Theorien hemmen und kritisieren und zu 
weit gehende Schlüsse einschränken. Besonders in dieser Zeit der 
Reklame! Ab und zu ist es ja auch wieder gut, wenn einer einmal 
eine gewagte Hypothese ausspricht, wir können ja nicht ohne Ar- 
beitshypothesen auskommen, aber man soll sie nicht dogmatisieren 
und vor allem nicht wieder ın die Fehler der Schule verfallen, ın 
der wir groß geworden sind, die das „L’univers est explique“ als 
Wahlspruch hatte. 


Emil Abderhalden: Abwehrfermente. 


Das Auftreten blutfremder Substrate und Fermente im tierischen Organismus unter 
experimentellen, physiologischen und pathologischen Bedingungen. 4. Aufi. Berlin 
1914, Springer. 404 + XV S., 55 Textfiguren und 4 Tafeln. 

Die erste Auflage dieses Buches ıst vor 2 Jahren erschienen 
und unter ihrem damaligen Titel „Schutzfermente* an diesem Ort 
von A. Fodor, einem Mitarbeiter des Verf., besprochen worden. 
Die Grundgedanken A.'s, die ıhn zu seinen Untersuchungen führten 
und die er durch diese bestätigt fand, sind dort klar wiedergegeben 
worden (Biol. Centralbl., 33. Bd., S. 105). 

Nach genau 2 Jahren ist die 4. Auflage erschienen, der Um- 
fang des Buches ist mehr als verdoppelt, das Verzeichnis der nach 
der 1. Auflage erschienenen Arbeiten, die das neu eröffnete Feld 
beackern, umfasst allein 335 Nummern und ist nach des Verfassers 
Angabe nicht einmal ganz vollständig. Es ist das wohl ein buch- 
händlerischer und anregender Erfolg, wie er im Gebiet der reinen 
Wissenschaft (die medizinischen Heilmittel beiseite gelassen) noch 
nicht da war. Dieser äußere Erfolg beruht gewiss zu sehr großem 
Teil darauf, dass die neuen Theorien und Methoden, wenn auch 
keine therapeutische, so doch diagnostische Anwendbarkeit ın der 
praktischen Medizin in Aussicht stellten. 

Fragen wir nun, welche Fortschritte durch diese enısige Tätig- 
keit erreicht sind, so finden wir die Theorien des Verfassers un- 
verändert; auch die Namensänderung, die damit begründet wird, 
dass die Bezeichnung als „Abwehrfermente“ nicht die Behauptung 
enthalte, dass die neu, gegen blutfremde Stoffe gerichteten Fer- 
mente jedesmal einen wirklichen Schutz darstellten, ist nicht wesent- 
lich. Eine Fortbildung seiner Anschauungen nach den vielfachen, 
großenteils klinischen Untersuchungen ist aber die Vorstellung, dass 
ganz spezifische Fermente gegen, sonst noch gar nicht definierte, 
Eiweißstoffe der einzelnen Organe und Zellformen auftreten; nach 
den Tierexperimenten, auf die sich die 1. Auflage hauptsächlich 
stützte, schienen die „Schutzfermente* gerade nicht so spezifisch 
zu sein wie die Antikörper, die uns die Immunitätsforschung bis 
dahın kennen gelehrt hatte, und bei denen sich wohl die Art- 


419% Abderhalden, Abwehrfermente. 


spezifität, aber nur ausnahmsweise Organspezifität nachweisen ließ. 
Eine befriedigende Aufklärung für dies verschiedene Ergebnis der 
ersten und der neueren Untersuchungen finden wir nicht und so 
scheint uns, trotz der ungeheuren darauf verwendeten Mühe, das 
ganze Forschungsgebiet noch ganz im Bereich der Hypothesen zu 
liegen. A. betont selbst die Widersprüche zwischen den Ergeb- 
nissen verschiedener Untersucher und die sehr zahlreichen Fehler- 
quellen der Methoden und dass, infolge ungenügender Beherrschung 
derselben oder ungenügender Veröffentlichung, „der allergrößte Teil 
dieser Forschungen nicht vollwertig“ sei. Er glaubt aber diejenigen 
als zuverlässig ansehen zu dürfen, die in Übereinstimmung mit den 
Untersuchungen in seinem eigenen Institut, die Zuverlässigkeit der 
Methode ergeben, insbesondere zur Diagnose der Schwangerschaft 
durch den Nachweis von Ferment im zirkulierenden Blut, das Pla- 
zentareiweiß abbaut. Andere von ıhm unabhängige Forscher, und 
zwar auch solche, die einen wohlbegründeten-Ruf als gewissen- 
hafte physiologische Chemiker besitzen, waren aber nicht imstande, 
auf diesem als Prüfstein dienenden Gebiet, überhaupt nur verwert- 
bare Ergebnisse zu erzielen. Dem Referenten erscheint daher die 
Zuverlässigkeit der A.’schen Methoden und damit die Grundlage 
seiner Lehre noch nicht sicher erwiesen. Auch die Ausführung, 
dass er zu den gleichen Ergebnissen mit zwei, voneinander unab- 
hängigen Methoden (der Dialysier-Ninhydrinprobe und der „optischen 
Methode“) gelangt sei, erbringt diesen Beweis nicht. Denn einmal 
gibt er selbst zu, dass diese beiden Verfahren gar nicht auf durch- 
aus gleiche Fermente sich beziehen. (einmal wird die Überführung 
durch Kochen koagulierten Eiweißes in dialysable Abbaustoffe nach- 
gewiesen, das andere Mal eine Änderung des Drehungsvermögens 
an wässerigen Lösungen alkohollöslicher Peptone, also schon stark 
hydrolytisch abgebauter Eiweißstoffe), andererseits sind beide Ver- 
fahren gleich heikel und sehr vielen Fehlerquellen ausgesetzt, drittens 
ist die „optische Methode“ nur erst selten und fast gar nicht außer- 
halb des Instituts des Verfassers angewendet worden. Erscheinen 
so die Grundlagen der Lehre durchaus nicht ganz gesichert, so 
fällt um so mehr auf, welche neue weittragende Folgerungen, frei- 
lich immer in hypothetischer Form, der Verfasser auf ihr aufbaut. 
Die zweite Hälfte des Buches ist ausschließlich der Beschrei- 
bung des Untersuchungsverfahrens und seiner Fehlerquellen ge- 
widmet. Hier sind auch, neben den zweı genannten, noch einige 
Verfahren beschrieben, die in besonderen Fällen oder zur weiteren 
Kritik der älteren gebraucht werden sollen, die aber, nach des Ver- 
fassers eigener Meinung, noch nicht zur völligen Zuverlässigkeit 
durchgebildet worden sind. Jedenfalls wırd jeder, der sich mit 
diesem ebenso interessanten wie schwierigen Forschungsgebiet be- 
fassen will, diese neueste Auflage des Buches zum Führer wählen 
müssen. W. 
Verlag von Be Thie me in Tas Anlonden 15. — DEE der kgl. bayer. 
Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen. 


Biologisches Gentralblatt. 


Begründet von J. Rosenthal. 


In Vertretung geleitet durch 
Prof. Dr. Werner Rosenthal 


Priv.-Doz. für Bakteriologie und Immunitätslehre in Göttingen. 


Herausgegeben von 


DEI K. Goebel und Dr. R. Hertwig 


Professor der Botanik Professor der Zoologie 
in München. 


Verlag von Georg Thieme in Leipzig. 








r 


Der Abonnementspreis für 12 Hefte beträgt 20 Mark jährlich. 
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. 
Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik 
an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, 
vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München, 
alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Werner Rosenthal, z.Z. Nürnberg, Roonstr. 13, 
einsenden zu wollen. 


Bd. XXXY. 20. März 1915. x 8. 

















Inhalt: Wasmann, Uber Ameisenkolonien mit Mendel’scher Mischung. — Nachtsheim, Entstehen 
auch aus befruchteten Bieneneiern Drohnen? — Polimanti, Physiologische Untersuchungen 
über das pulsierende Gefäß von Bombyx mori L. — Fischer, Berichtigungen zu O. Proch- 
now’s analytischer Methode bei den Temperaturexperimenten mit Schmetterlingen. — 
Schneider, Die rechnenden Pferde — Sedgwick und Wilson, Einführung in die allge- 
meine Biologie. 





Über Ameisenkolonien mit Mendel’scher Mischung''). 
(Zugleich 208. Beitrag zur Kenntnis der Myrmekophilen.) 
Von E. Wasmann S. J. (Valkenburg, Holland). 


Schon 1910 (Biol. Centralbl. XXX, Nr. 13, S. 457) habe ich 
darauf aufmerksam gemacht, dass unter den fünf verschiedenen 
Erklärungsversuchen für die bisher bekannten anormal gemischten 
Kolonien aus Rassen der rufa-Gruppe (rufa-truncicola, pratensis- 
truneiecola, rufa-pratensis) auch die Kreuzungshypothese berück- 
sichtigt werden muss, um zu einem allseitigen Verständnis der sehr 
mannigfaltigen tatsächlichen Befunde zu gelangen. Beispiele für 
die übrigen Erklärungen durch primäre oder sekundäre Allome- 
trose in ihren verschiedenen Formen der Allianz- und Adoptions- 
kolonien etc. wurden dort bereits angeführt. Bei Besprechung der 
Kreuzungshypothese wurde bemerkt, dass wegen der früheren Er- 


1) Eine vollständigere Behandlung dieses Themas wird gegeben werden im 
II. Bande des im Druck befindlichen Buches „Das Gesellschaftsleben der Ameisen. 
Das Zusammenleben von Ameisen verschiedener Arten und von Ameisen und Ter- 
miten. Gesammelte Beiträge zur sozialen Symbiose bei den Ameisen“. 2, Aufl., 
Münster i. W. 1915. 


XXXV. 8 


114 Wasmann, Über Ameisenkolonien mit Mendel’scher Mischung. 


scheinungszeit der geflügelten Geschlechter von rufa und pratensis 
gegenüber jenen von trumncicola die Kreuzungsmöglichkeit zwischen 
den beiden ersteren Rassen eine weit größere ist als zwischen ihnen 
und Zruncicola, und dass hieraus auch die größere Häufigkeit der 
rufo-pratensis-Kolonien im Vergleich zu den rufo-truncicola- und 
den truncicolo-pratensis-Kolonien ganz zwanglos sich erklären lasse. 
Ich fügte ferner damals schon bei: „Da nach den Mendel’schen 
Gesetzen der Rassenhybriden in der zweiten Hybridengeneration 
eine Spaltung der elterlichen?) Merkmale eintritt, könnten die 
aus Kreuzung von rufa und truncicola oder truncicola und pratensis 
stammenden Kolonien sogar Arbeiterinnen beider Formen scharf 
getrennt enthalten, ohne dass wir deshalb genötigt wären, auf 
die Anwesenheit von Königinnen beider Rassen, also auf Allome- 
trose, ın jener Kolonie zu schließen.“ 


1. Ein solches Beispiel bietet die in jener Arbeit von 1910 
(S. 459) provisorisch in Klammern erwähnte pratensis-truneicola- 
Kolonie bei Luxemburg, über welche die Beobachtungen und die 
genauen Untersuchungen der Nestbewohner noch nicht abgeschlossen 
waren. Ich glaubte sie damals für eine stark geschwächte pratensis- 
Kolonie halten zu sollen, in welcher nachträglich auch eine Königin 
der Bastardform truncicolo-pratensis Aufnahme gefunden hatte. 
Diese Erklärung musste ich jedoch seither bei näherer Prüfung der 
tatsächlichen Verhältnisse, die hier für die Mendel’sche Hypothese 
ohne Zuhilfenahme einer Allometrose sprechen, wesentlich ändern, 
wie sich aus dem folgenden Berichte ergibt. 

Die gemischte Kolonie wurde am 12. April 1910 auf dem Süd- 
abhang von Schötter-Marial bei Luxemburg-Stadt von mir und 
meinem Kollegen H. Klene S. J. entdeckt und als truncicola- 
Kolonie Nr. 19°) in mein stenographisches Tagebuch eingetragen. 
Leider war sie Ende Juni (während meiner Abwesenheit in Lipp- 
springe) vollständig ausgewandert und wurde nicht wiedergefunden. 
Die Kämpfe mit einer benachbarten starken Polyergus-Kolonie 
(Nr. 7%), mit rufibarbis und glebaria als Sklaven) hatten sie wahr- 
scheinlich vertrieben. 

Jene pratensis-truncicola-Kolonie hatte ihr Nest unter einem 
großen Stein und war verhältnismäßig schwach; ein Haufenbau 
über dem Steine war nicht vorhanden, woraus zu schließen ist, 
dass die Kolonie noch relativ jung war. Die Gesamtzahl der Ar- 


2) Richtiger muss es heißen der „großelterlichen Merkmale,“ da es ja um die 
F?-Generation sich handelt, und die elterlichen Unterschiede in der F’!-Generation 
manchmal gar nicht zur phänotypischen Erscheinung kommen. 

3) Im III. Teil der ‚Ameisen und Ameisengäste von Luxemburg“ (Arch. 
trimestr. Inst. Grand-Ducal IV., fasc. 3 u. 4, 1909) schließt die Statistik der trun- 
ceicola-Kolonien bei Luxemburg-Stadt mit Nr. 16 (S. 32). 

4) Ebenfalls im III. Teil der „Ameisen v. L.“ noch nicht enthalten, 


Wasmann, Über Ameisenkolonien mit Mendel’scher Mischung. 415 


beiterinnen, die ich während meiner Besuche in diesem Neste 
sah, betrug höchstens 250. Unter diesen waren etwa '/, reine 
truncicola (von 5-8 mm), */, reine pratensis (von 4,5—8 mm); Über- 
gänge zwischen beiden Rassen waren bloß spärlich und in schwachem 
Grade vorhanden, indem nur einige wenige trumeicola (von 5—6 mm) 
auf Kopf und Rücken einen Anflug von grauschwarzer pratensis- 
Färbung zeigten’). Entflügelte Weibchen fand ich bei mehreren 
aufeinander folgenden Untersuchungen des Nestes im ganzen 12. 
Es waren sämtlich pratensis-Königinnen von verschiedener 
Größe (8,5 —10 mm), aber mit weniger mattem Rücken und Hinter- 
leıb als die Normalform, durch stärkeren Glanz (besonders des 
Hinterleibes) und schwächere Pubescenz einen deutlichen r«fa-Ein- 
schlag verratend aber nicht so stark glänzend wie rufa! —, 
während die Färbung ganz den dunklen pratensis-Charakter hatte, 
sowohl am Rumpf wie an den Extremitäten; nur ein Individuum 
mit ein wenig helleren, teilweise braunroten Beinen war darunter ®). 
Meine anfängliche Annahme, dass auch eine echte, hellgefärbte 
truncicola-Königin im Neste sich befinde, musste ich bei wieder- 
holter sorgfältiger Untersuchung des Nestes als irrtümlich aufgeben. 
Auch eine als solche phänotypisch erkennbare Bastardkönigin trun- 
cicolo-pratensis war nicht zu finden. 

Wie ist die sonderbare Mischung dieser Kolonie und der schein- 
bare Widerspruch zwischen dem phänotypischen Charakter der 
Weibchen und der Arbeiterinnen in derselben zu erklären? Meines 
Erachtens haben wir hier einen interessanten Fall Mendel’scher 
Kreuzung vor uns, der folgendermaßen zu deuten ist: 

Die zahlreichen entflügellen Weibchen im Neste gehörten 
wahrscheinlich der ersten Tochtergeneration (F!), einer Kreu- 
zung zwischen einem trumneicola-g und einem pratensis-9 an und 
folgten daher dem „Uniformitätsgesetz“, indem sie sämtlich phäno- 
typisch untereinander gleich waren. Zugleich zeigten sie „totale 
Dominanz“ der dunklen pratensis-Färbung über die „völlig rezessive* 
helle truncicola-Färbung (Dominanz von Schwarz über Rot), ver- 
bunden mit einem scheinbar neuen, in Wirklichkeit aber atavistischen 
Einschlag”) von rufa-Skulptur. Ein Teil der im April 1910 vor- 





5) Individuen mit angedunkeltem Rücken findet man übrigens unter den mitt- 
leren und kleineren Arbeiterinnen auch in reinen, ungemischten Kolonien von trun- 
cicola. 

6) 6 Königinnen und mehrere Dutzend Arbeiterinnen aus dieser Kolonie be- 
finden sich in meiner Sammlung. Der Färbungsgegensatz zwischen den hellroten 
Arbeiterinnen von truncicola und den fast schwarzen von pratensis ist sehr auf- 
fallend. 

7) Solche atavistische Rückschläge sind in der ersten Filialgeneration von 
Rassenkreuzungen im Pflanzen- wie im Tierreich bekanntlich oft beobachtet, z. B. 
das Wiederauftreten der Wildfärbung bei Kreuzung von andersfarbigen Mäuserassen. 
Siehe die Werke von Bateson, Baur, Goldschmidt, Haecker u.s.w. Diese 


8* 


116 Wasmann, Über Ameisenkolonien mit Mendel’scher Mischung. 


gefundenen pratensis-Arbeiterinnen — vielleicht die Hälfte derselben 
oder ?/,. der gesamten Arbeiterzahl — gehörte wahrscheinlich eben- 
falls der F!-Generation an; auch bei ihnen dominierte daher die 
dunkle pratensis-Färbung total über die helle truncicola-Färbung, 
d.h. es waren keine truneicola unter ihnen. Ein eventueller Skulptur- 
einschlag von rufa konnte bei den Arbeiterinnen®) ohnehin nicht 
so deutlich sichtbar werden wie bei den Weibchen. 

Aus der Paarung von in jenem Neste erzogenen Männchen 
der F'-Generation mit Weibchen der nämlichen Generation?) ging 
dann 1909 durch Inzucht die zweite Tochtergeneration (F?) 
hervor, in welcher nach dem „Spaltungsgesetz“ die Komponenten 
des großelterlichen Eigenschaftspaares in den verschiedenen Gruppen 
der Enkel getrennt zutage treten. Nach dem Spaltungsgesetz 
bei Monohybriden haben wir hier wegen der Dominanz von pra- 
tensis über truncicola das phänotypische Verhältnis von 3:1 zu er- 
warten, d.h. auf eine truncicola-Arbeiterın kamen drei pratensis- 
Arbeiterinnen!®). Für die Richtigkeit dieser Erklärung spricht auch 
der Umstand, dass unter den truneicola-Arbeiterinnen trotz ihrer 
geringen Zahl sich relativ mehr große Individuen befanden als 
unter den pratensis, wo die mittleren und kleinen weit überwogen; 
die größten Arbeiterinnen sind aber als der jüngeren Generation 
angehörig zu betrachten, da bei Formica die Größe der Arbeiterinnen 
von der ersten Generation an zunimmt!!). Die Gesamtzahl der 
Arbeiterinnen beider Generationen F! und F? musste daher aus */, 
pratensis und !/, truncicola sich zusammensetzen, wie es die Be- 
funde von 1910 zeigten. Leider konnte wegen des Verschwindens 
der Kolonie dıe Entwickelung der Ende April zahlreich vorhandenen 
Eierklumpen nicht verfolgt werden. Unter den frisch entwickelten 


„Hybridatavismen“ sind nach Abel die einzigen bisher experimentell bestätigten 
Entwickelungsrückschläge. Vgl. die Diskussion über das Thema .‚Atavismus“ in 
den Verh. d. Zool. Bot. Gesellsch. Wien vom 26. Febr. und 12. März 1913 (Verh. 
1914, Heft 1 u. 2). 

8) Einige der betreffenden kleinen bis mittelgroßen (5—6,5 mm langen) pra- 
tensis jener Kolonie zeigen allerdings eine schwächere, rufa-ähnlichere Behaarung 
als die übrigen, namentlich als die größeren Exemplare aus demselben Neste (in 
meiner Sammlung). 

9) Wahrscheinlich waren nicht alle die zahlreichen entflügelten Weibchen von 
1910 befruchtet, sondern nur eines oder zwei. Sonst hätte die Zahl der Arbeiterinnen 
eine größere sein müssen; auch war der Hinterleib der meisten Arbeiterinnen nur 
schmal, besonders der kleineren. — Die Fortpflanzung durch Inzucht (Paarung in 
oder nahe bei dem Neste) kommt bei rufa und pratensts nicht selten vor. 

10) Beide Rassen sind relativ (im Vergleich zu rufa) stark behaart. Bei 
truncicola sind die abstehenden Haare gelb, bei pratensis grau. 

11) Es kommt hierbei nicht so sehr auf das Alter der Königin an wie auf 
jenes der Kolonie. Eine junge Königin erzeugt in einer bereits einigermaßen er- 
starkten Kolonie schon in der ersten Generation größere Arbeiterinnen, weil die Er- 
nährungsbedingungen der Larven günstigere sind. 


Wasmann, Über Ameisenkolonien mit Mendel’scher Mischung. 417 


Ameisen hätten sich die Prozentverhältnisse von pratensis und 
truncicola genau feststellen lassen. 


2. Es ist dies wohl der erste Versuch, die Mendel’schen 
Gesetze auch auf die Rassenkreuzung bei Ameisen anzuwenden. 
Trotz der großen Schwierigkeiten, die hier der Beobachtung ent- 
gegenstehen, dürften doch weitere Forschungen die Richtigkeit der 
Mendel’schen Theorie auch auf diesem Gebiete bestätigen. Manche 
der bisher für Allianzkolonien gehaltenen, aus Arbeiterinnen ver- 
schiedener Rassen derselben Art gemischten Kolonien von Formica, 
Dorymyrmex, Pogonomyrmex, Messor u. s. w. werden sich bei näherer 
Prüfung günstiger erweisen für eine Erklärung durch die Kreuzungs- 
hypothese. Auf einige in der Literatur verzeichnete Fälle möchte 
ich hier noch kurz aufmerksam machen. 

Forel!?) erwähnt eine volkreiche gemischte Kolonie von fruncicola 
mit pratensis, die er am 30. April 1875 beı München fand. Die 
Arbeiterinnen umfassten außer einer großen Zahl reiner truncicola 
und reiner pratensis auch eine beträchtliche Menge (un bon nombre) 
von Übergängen zwischen beiden. Nähere Prozentverhältnisse sind 
leider nicht angegeben. Geflügelte Geschlechter waren um jene 
Jahreszeit nıcht vorhanden, und das Nest wurde nicht näher auf 
die Königinnen untersucht. Ich vermute, dass es sich hier um eine 
Kolonie handelte, deren Königin der F!-Generation aus einer Kreu- 
zung zwischen pratensis-Z und trunecicola-9 angehörte und durch 
Inzucht befruchtet war. Es wird dies durch die verschiedene 
Mischung jener Kolonie im Vergleich zu der von mir oben er- 
wähnten vom April 1910 nahe gelegt. Je nachdem in der P-Gene- 
ration das Männchen fZruneicola und das Weibchen pratensis ist 
oder umgekehrt, lässt sich wohl auch hier wie z. B. bei den Kreu- 
zungen zwischen Goldhahn und Silberhenne (nach den Versuchen 
von Hagedoorn®’)) ein verschiedenes Spaltungsresultat erwarten. 
Für die Annahme einer Allometrose spricht die Mischung jener 
Forel’schen Kolonie nicht, da es zu unwahrscheinlich ist, dass eine 
reine truncicola-Königin mit einer reinen pratensis-Königin und mit 
einer Königin der „Var. truncicolo-pratensis“ sich hier zusammen- 
gefunden haben sollte. Es sei übrigens bemerkt, dass letztere 
„Varietät“ wohl überhaupt nur als eine Hybridform aufgefasst 
werden kann ebenso wie die „Var. rufo-truncicola* und die „Var. 
cronicoloides For.“ der F. truncicola. Wahrscheinlich gilt dasselbe 
auch für die sehr häufige „Var. rufo-pratensis“ von F. pratensis und 
auch für manche der als eigene „Varietäten“ oder sogar „hassen“ 
aufgestellten zwischen F. fusca und rufibarbis stehenden Formen. 


12) Etudes myrm&col. en 1875, p. 27 (59) (Bull. Soc. Vaud. Sc. Nat. XIV). 
13) Zitiert bei Baur, Einführung in die experimentelle Vererbungslehre, 
8. 150. 


118 Wasmann. Über Ameisenkolonien mit Mendel’scher Mischung. 


Ein anderes Beispiel einer sehr wahrscheinlich Mendel’schen 
Kreuzung bietet eine aus rufa und truneicola gemischte Kolonie, 
die ich am 25. April 1889 bei dem Dorfe Panheel (bei Roermond, 
Holl. Limburg) fand'#). Die ziemlich volkreiche Kolonie, deren 
Haufenbau um einen alten Strunk angelegt war, bestand aus unge- 
fähr !/, (25%) truneicola-Arbeiterinnen und ?°/, (759) rufa, mit ganz 
allmählichen Übergängen zwischen beiden; letztere bildeten beiläufig 
25% der Gesamtbevölkerung. Die größten Individuen waren aus- 
schließlich reine tramnezcola; unter den mittleren waren einige ebenfalls 
reine Zrumeicola, ferner zahlreiche Übergänge von der truncicola- 
Färbung zur rufa-Färbung und endlich reine rufa; die kleinen Ar- 
beiterinnen hatten ausschließlich nur r«fa-Färbung (Kopf oben ganz 
braun, Vorder- und Mittelrücken teilweise). Aber auch letztere 
zeigten (ebenso wie die übrigen rufa dieser Kolonie) in den zahl- 
reichen, aber nur sehr kurzen, gelben Börstchen des Hinterleibs 
einen Kleinen Einschlag von tr manner Behaarung (nach den Exem- 
plaren in meiner Sammlung). Geflügelte Geschlechter waren in 
dieser Jahreszeit nicht vorhanden'’). Eine Königin wurde wegen 
des festen Strunkes nicht gefunden. Dass hier, wie ich bereits 
1591 aussprach, ein Kreuzungsprodukt zwischen truncicola und 
rufa vorlag, dürfte ziemlich sicher sein. Die Königin dieser Kolonie 
gehörte wahrscheinlich der F!-Generation an, und die Spaltung er- 
folgte in der von ıhr abstammenden F?-Generation im Verhältnis 
von: 1 truneicola: 1 rufo-truneicola: 2 rufa, also nach dem Spal- 
tungsgesetz der Monohybriden. Theoretisch müsste das Verhältnis 
eigentlich lauten: 1 truncieola: 2 rufo-truncieola: 1 rufa. Aber bei 
partieller Dominanz von rufa über truneicola wird unter den rufo- 
truncicola der rufa-Charakter überwiegen, wodurch das obige phäno- 
typische Verhältnis herauskommen würde. 

Merkwürdig ist, dass diese Kolonie im September des näm- 
lichen Jahres nur noch 5% Arbeiterinnen der reinen trumeicola- 
Färbung aufwies gegen 25%, im Frühjahr. Die im September durch 
Aussieben des Nesthaufens gefundenen Gäste waren die nämlichen 
wie bei F! rufa: Dinarda Märkeli Ksw., Thiasophila angulata Er., 
Notothecta flavipes Grav., N. anceps Er., Oxypoda haemorrhoa 
Sahlbg., Stenus aterrimus Er. und Formicoxenus nitidulus N.yl. 


14) Die zusammengesetzten Nester und gemischten Kolonien der Ameisen, 
1. Aufl, 1891, S. 173 (Die 2. Aufl. ist im I. Bande von ‚Das Gesellschaftsleben 
der Ameisen‘ als Teil I mit derselben Paginierung enthalten, Münster i. W. 1915.) 

15) In reinen rufa-Kolonien sind sie Ende April öfters schon zur Paarung 
fertig. Am 29. April 1890 sah ich bei Exaten bereits mehrere geflügelte Männchen 
und Weibchen und ziemlich viele entflügelte Weibchen von rufa auf Wegen umher- 
laufen. 1893 fand bereits am 17. und 18. April ein Paarungsflug von rufa statt. 
Die geflügelten Weibchen wurden jedoch nur auf Wegen laufend, nicht fliegend, 
angetroffen. 


Wasmann, Über Ameisenkolonien mit Mendel’scher Mischung. 119 


Eine ähnliche Zusammensetzung wie der Herbstbefund obiger 
Kolonie zeigte auch eine rufo-truncicola-Kolonie, die ich bei Deren- 
bach im Luxemburger Ösling am 23. Mai 1906 fand!‘). Das Nest 
war in die Schieferplatten einer Mauer gebaut und über demselben 
erhob sich ein Haufen von rufa-Bauart. Unter den ca. 5000 Ar- 
beiterinnen waren etwa 5%, von reiner truncicola-Färbung, und 
zwar ausschließlich große Individuen; unter den übrigen großen 
Arbeiterinnen hatte ein Teil Übergänge zur rufa-Färbung; die 
mittleren und kleinen waren ausschließlich rufa, aber auch hier 
(wie ım vorigen Falle von 1889) zeigte sich durch die gelben 
Börstehen namentlich der letzten Hinterleibssegmente ein leichter 
Einschlag von truncicola-Behaarung. Die Königin konnte wegen 
der festen Steinplatten der Mauer nicht gefunden werden. Ge- 
flügelte Geschlechter waren im Haufen nicht zu sehen. An der 
nämlichen Stelle hatte sich im August 1904 eine reine truncicola- 
Kolonie befunden, die jetzt durch die rufo-truncicola-Kolonie ersetzt 
war. Ich neigte deshalb 1910 (Biol. Centralbl. XXX, S. 458) zur 
Annahme, dass in jener truncicola-Kolonie nachträglich eine Königin 
von rufa oder von einer Bastardform rufo-truncicola aufgenommen 
worden sei. Gegenwärtig scheint mir jedoch, dass die Mischung 
jener Kolonie sich ohne Allometrose einfacher erklären lässt, durch 
die Kreuzungshypothese allein. Wenn die ursprüngliche Königin 
der Kolonie ein Bastardweibchen der F!-Generation aus einer Kreu- 
zung zwischen rufa und truncicola war, dann trat wegen des Uni- 
formitätsgesetzes (bei Dominanz von truncieola über rufa) ın der 
von ihr direkt abstammenden Generation noch keine Spaltung ein, 
sondern dieselbe hatte das Aussehen reiner truncicola (1904). Erst 
beim Auftreten der F?-Generation (durch Paarung eines Weibchens 
der F!-Generation mit einem Männchen derselben Kolonie) erfolgte 
die Spaltung in truncicola, rufa und Übergangsformen. Allerdings 
müssten wir dann wegen des starken Überwiegens der rufa 1906 
für die F?-Generation einen „Dominanzwechsel“ annehmen. 

Forel!’) erwähnt eine aus der schwarzen und der gelben 
Varietät von Dorymyrmex pyramicus Rog. gemischte Kolonie aus 
Faisons in Nord-Karolina, welche mehrere, einige Meter voneinander 
entfernte Nester bewohnte, in denen die Arbeiterinnen sämtlich 
aus schwarzen pyramicus und gelben pyramicus flavus bestanden, 
und zwar ohne Übergänge zwischen beiden Färbungen. In einem 
der Nester, das er aufgrub, fanden sich sowohl Männchen und 


16) Siehe „Ameisen und Ameisengäste von Luxemburg“ III, S. 20. Meine 
Begleiter P. H. Schmitz und V. Ferrant unterstützten mich bei der Unter- 
suchung des Nestes. 

17) Exeursion myrmecologique dans L’Amerique du Nord (Ann. Soc. Ent. Belg. 
1899), p. 422, und: Ebauche sur les moeurs des Fourmis de l’Amer. du Nord 
(Rivista d. Sc, biol. II, n. 3, 1900), p. 5 Sep. 


120 Wasmann, Über Ameisenkolonien mit Mendel’scher Mischung. 


Weibchen von pyramicus als auch Männchen von pyramicus flavus. 
Forel nahm daher hier eine Allianzkolonie an, entstanden 
durch eine Verbindung von befruchteten Weibchen beider Varie- 
täten. Es kann aber auch ebensogut eine Bastardkolonie ge- 
wesen sein, deren Königin der F!-Generation aus einer Kreuzung 
beider Varietäten angehörte und durch Inzucht befruchtet war; in der 
von ihr abstammenden F?-Generation trat dann die Spaltung der 
Färbungscharaktere in die schwarze und gelbe Varietät wieder ein. 

Wheeler!‘) fand bei Aguas Calientes in Mexiko im Dezember 
1900 einen großen Nestkegel der „Ackerbauameise“ Pogonomyrmex 
barbatus Sm., dessen Bewohnerschaft aus der typischen barbatus- 
Form mit schwarzem Kopf und Thorax und aus der ganz roten 
Var. molifaciens Buck]. zu ungefähr gleichen Teilen gemischt war, 
und zwar ohne Übergänge zwischen beiden Formen. Ein tieferes 
Aufgraben des Nestes war wegen des harten Bodens nicht mög- 
lich. Aber Wheeler glaubte, diese gemischte Kolonie in ähnlicher 
Weise wie die obenerwähnte von pyramicus niger und flavus für 
eine Allianzkolonie halten zu müssen, die aus der Verbindung 
zweier oder mehrerer Königinnen der beiden Varietäten entstand. 
Auch ich teilte früher diese Ansicht!°). Heute scheint mir jedoch, 
dass der Befund Wheeler’s ebensogut oder noch besser erklärlich 
ist, wenn wir annehmen, dass es um die F?-Generation einer 
Bastardkolonie sich handelte, deren Königin der F'!-Gene- 
ration aus einer Kreuzung zwischen beiden Varietäten angehört 
hatte. Die Mischung der Kolonie zu „ungefähr gleichen Teilen“ 
aus Arbeiterinnen beider Färbungen stimmt allerdings nicht mit 
dem einfachen Mendel’schen Spaltungsgesetz bei Monohybriden. 
Es fehlt jedoch eine nähere Kontrolle der wirklichen Mischungs- 
verhältnisse, und zudem gibt es auch Mendelfälle komplizierterer 
Art (mit Faktorenabstoßung ete.), wo das phänotypische Zahlen- 
resultat 1:1 ist?°). 

Moggridge?!) berichtet, dass er beim Öffnen eines großen 
Messor-Nestes bei Cannes in Südfrankreich die Kolonie zu ungefähr 
gleichen Teilen zusammengesetzt fand aus Ameisen, “which in colour 
and appearance might be said to represent the three forms structor, 
barbara and the redheaded variety of the latter. There were also 
a few ants with pale yellowish brown heads (Mentone and Cannes)”. 
Diese Angabe klingt zwar stark mendelistisch, dürfte aber in ihrer 
Deutung große Vorsicht erfordern. Die Arbeiterinnen mit blass 


18) The compound and mixed nests of American Ants 1901, Part. II, p. 723 
(American Naturalist XXXV, Nr. 417). 

19) Neues über die zusammengesetzten Nester und gemischten Kolonien der 
Ameisen. 1901-1902, S.22—23, Sep. (Allgem. Zeitschr. f. Entomol. Bd. VI-VIH). 

20) Siehe z. B. Baur, a.a. ©. S. 150. 

21) Harvesting ants and trap-door spiders. London 1873, p. 64. 


Wasmann, Über Ameisenkolonien mit Mendel’scher Mischung. om 
gelbbraunem Kopf, von denen ausdrücklich bemerkt wird, dass sie 
nicht bloß in diesem Neste, sondern auch anderswo sich fanden 
(Mentone und Cannes), scheiden offenbar aus als unausgefärbte 
Individuen. Wenn die übrigen Arbeiterinnen jener Kolonie wirk- 
lich aus den drei Formen: Messor structor, barbarus und der Varietät 
des letzteren mit hell blutrotem Kopfe zusammengesetzt war, so 
haben wir vielleicht die F?-Generation einer Mendel’schen Kreuzung 
zwischen barbarus und structor vor uns; Näheres lässt sich darüber 
nicht sagen. 

[Ich fand im März und April 1912 bei Gardone und an anderen 
Punkten der Umgebung des Gardasees zahlreiche Kolonien von 
Messor barbarus structor??) Var. tyrrhenica Em., aber nur sehr 
wenige von Messor barbarus barbarus Var. nigra Andre. Eine 
der letzteren Kolonien (31./3.) zeigte eine leichte Beimengung von 
Strukturelementen des structor. Die Bildung des Epinotums und 
der Fühlerbasis sowie die tiefschwarze, glänzende Färbung entsprach 
barbarus niger, aber bei den mittleren und großen Arbeiterinnen 
war der Kopf trotz des Glanzes viel deutlicher und dichter gestreift 
als bei der reinen barbarus-niger-Form derselben Gegend. Wenn 
bei jener Kolonie auch vielleicht ein Kreuzungsprodukt zwischen bar- 
barus und structor vorlag, so lässt es sich doch nicht in Zusammen- 
hang mit den Mendel’schen Gesetzen bringen.] 


3. Diese der Ameisenliteratur entnommenen Andeutungen über 
Kolonien mit Mendel’scher Mischung werden hoffentlich dazu beı- 
tragen, dass die Myrmekologen ihre Aufmerksamkeit nicht bloß auf 
die aus verschiedenen Arten, sondern auch auf die aus verschie- 
denen Rassen oder Varietäten zusammengesetzten Kolonien 
richten und bei Erklärung der letzteren die Kreuzungshypothese 
und das Verhältnis der Befunde zu den Mendel’schen Gesetzen 
mehr berücksichtigen als bisher. Am günstigsten für diesen Zweck 
sind jene Kolonien, die aus Rassen von extrem kontrastierender 
Färbung wie Formica truneicola und pratensis gebildet sind, zumal 
hier auch die Übergangsformen zwischen beiden Rassen von den rein- 
rassigen Individuen sich leichter unterscheiden lassen. Die tatsäch- 
lichen Mischungsverhältnisse der Arbeiterschaft des Nestes 
müssen auf ihre prozentuale Zusammensetzung möglichst genau ge- 
prüft werden, namentlich unter den frisch entwickelten Indi- 
viduen. Dasselbe gilt auch für die geflügelten Geschlechter, 
wenn solche vorhanden sind. Ferner muss sorgfältig untersucht 
werden, welche Königinnen (bezw. welche alte, entflügelte Weib- 
chen) vorhanden sind. Aus dem Vergleichen dieser drei Kompo- 


22) In Emery’s Fassung als Rasse von barbarus ausgedrückt. Vgl. dessen: 
Beiträge zur Monographie der Formieiden des paläarkt. Faunengebietes III. S. 437 ff. 
(Deutsch. Ent. Zeitschr. 1908). 


122 Wasmann, Über Ameisenkolonien mit Mendel’scher Mischung. 


nenten untereinander können sich dann die Anhaltspunkte zur Be- 
urteilung eines Mendel-Falls ergeben. Unter den Arbeiterinnen 
können sich neben jenen der F?-Generation, wo die Spaltung der 
großelterlichen Allelomorphen zutage tritt, auch noch solche der 
uniformen F'-Generation finden. Unter den Königinnen können, 
wenn mehrere Jahre nacheinander Inzucht im Neste stattgefunden 
hat, solche der P-Generation (von welcher die Kreuzung ausging) 
neben solchen der F!-Generation und der F?-Generation ete. neben- 
einander vorfinden. Wenn man also in einem solchen Neste bei- 
spielsweise eine reine pratensis-Königin, eine reine truncicola-Königin 
und eine (F!-)Königin von pratensis-Färbung mit einem (atavistischen) 
Einschlag von r«fa-Skulptur entdeckt, so darf man daraus noch 
nicht ohne weiteres auf Allometrose schließen, da es sich ja um 
Weibchen ein und derselben hybriden Generationsreihe 
handeln kann. Dadurch wird selbstverständlich auch die Aufklärung 
der Spaltungsverhältnisse in der tatsächlich vorliegenden Arbeiter- 
schaft einer solchen Kolonie bedeutend erschwert. Weil die Spal- 
tung der Charaktere erst in der F?-Generation beginnt, kann die 
Beobachtung Mendel’scher Fälle ın freier Natur überhaupt nur 
beı Kolonien einsetzen, deren Arbeiterschaft dieses Stadium erreicht 
hat. Hierdurch wird abermals die Deutung der Genesis der be- 
treffenden Kreuzungsresultate erheblich schwieriger, weil man die 
Vorgeschichte der Kolonie nicht kennt. 

Nur selten werden die Anhaltspunkte zur Entscheidung der 
Frage, ob eine Mendel’sche Spaltung vorliegt oder nicht, so 
günstig sein wiein der eingangs von mir beschriebenen Kolonie praten- 
sis-Iruncicola von Luxemburg 1910. Da hier unter den zahlreichen tat- 
sächlich vorgefundenen entflügelten Weibchen im Neste weder eine 
truncieola-Königin, noch eine reine pratensis-Königin, noch eine 
Zwischenform zwischen beiden, sondern lauter Weibchen von pratensis- 
Färbung mit einem Einschlag von rufa-Skulptur waren, während 
die Arbeiterschaft in einem Verhältnis von 4:1 aus scharf geschie- 
denen pratensis und truncicola bestand, war es hier ausgeschlossen, 
die Mischung der Kolonie durch Allometrose zu erklären, sei es 
nun auf dem Wege der Allianz zwischen den ursprünglichen Königinnen 
(primäre Allometrose) oder auf dem Wege der nachträglichen Adop- 
tion einer trumcieola-Königin in dem pratensis-Neste (sekundäre Allo- 
metrose). Es blieb also nur die Mendel’sche Erklärung übrig, 
weil durch die phänotypische Verschiedenheit der entflügelten Weib- 
chen von den Arbeiterinnen ein deutlicher Gegensatz zwischen einer 
hybriden F'-Generation und F?-Generation im Mendel’schen Sinne 
ausgedrückt war. Dabei bleiben allerdings die oben gegebenen 
Details der Genesis dieses Falles noch hypothetisch?°), da weder 


23) Die Königin der P-Generation war nach meiner Voraussetzung ein reines 
pratensis-Weibchen, das von einem truncicola-Männchen befruchtet worden war. 


Wasmann, Über Ameisenkolonien mit Mendel’scher Mischung. 123 


die Vorgeschichte jener Kolonie vor April 1910 noch die weitere 
Entwickelung derselben im Sommer aus den vorhandenen Eier- 
klumpen beobachtet werden konnte. 

Manche Vererbungsforscher werden es befremdlich finden, dass 
ich nicht den Vorschlag mache, auf dem viel sichereren experi- 
mentellen Wege die Mendel’schen Gesetze der Kreuzung zwischen 
Ameisenrassen zu untersuchen. Prof. R. Goldschmidt-München 
sprach mir auf der Versammlung deutscher Naturforscher in 
Münster i. W. im September 1912 seine Wünsche in dieser Rich- 
tung aus. Ich machte ihn auf die Schwierigkeiten aufmerksam, 
die der praktischen Verwirklichung dieses Vorschlages entgegen- 
stehen. Für Myrmekologen, die mit der Lebensweise und nament- 
lich der Fortpflanzungsweise der Ameisen und ihrem diesbezüglichen 
Verhalten in künstlichen Beobachtungsnestern vertraut sind, brauche 
ich dies kaum zu bemerken. Einen eine ganze Reihe von Punkten 
umfassenden Plan zu einer experimentellen Kreuzung zwischen 
pratensis und truncicola habe ich zwar längst skizziert. Da sich 
hierbei jedoch die praktische Wahrscheinlichkeit des Gelingens der- 
selben als quasi Null herausstellte, sehe ich von einer Veröffent- 
lichung desselben lieber ab. 


4. Anhang. Über das relative Alter unserer rufa- 
Rassen, mit Berücksichtigung ıhrer Gäste. 

Um die Verschiedenheit der Resultate besser verständlich zu 
machen, die bei Kreuzungen zwischen pratensis und truncicola einer- 
seits und zwischen rıfa und truneicola andererseits sich ergeben, 
sei darauf aufmerksam gemacht, dass rufa die älteste und weitver- 
breitetste unserer drei europäischen rufa-Rassen ıst?*), und dass 
wir pratensis und truneicola als nach verschiedenen Richtungen von 
ihr biologisch divergierende jüngere Zweige aufzufassen haben, wie 
das umstehende Schema andeutet. 

Rufa ıst dem Leben im arktischen Wald durch ihren hohen 
Haufenbau am besten angepasst; pratensis hat sich deın Leben am 
offenen Waldrand und auf Wiesen durch ihren tieferen und 
flacheren, der Austrocknung besser widerstehenden Haufenbau an- 
gepasst; truncicola endlich, die als jüngste der drei Rassen anzu- 
sehen ist, hat sich noch mehr vom Waldleben emanzipiert; ihr Nest 


Wegen der großen Zahl der pratensis-Arbeiterinnen schrieb ich einen Teil derselben 
der F'-Generation zu, welcher auch die tatsächlich vorgefundenen entflügelten 
Weibchen angehörten. Die P-Königin fand ich dagegen nicht. Entweder war sie 
schon gestorben oder sie ist mir unter den 12 pratensis-farbigen Weibchen ent- 
gangen. Nur 6 derselben wurden zur Untersuchung mitgenommen, 6 im Neste 
gelassen. Unter diesen kann auch ein Weibchen mit matterem Hinterleib ge- 
wesen sein, das ich wegen der Geringfügigkeit des Skulpturunterschiedes übersah. 

24) Siehe hierüber auch „‚Über den Ursprung des sozialen Parasitismus‘“ u. s, w. 
(Biolog. Centralbl. 1909, Nr. 19—22, 2. Kapitel). 


124 Wasmann, Über Ameisenkolonien mit Mendel’scher Mischung. 


ist häufig unter Steinen und gleicht auch durch den kleineren, aus 
feinerem Material bestehenden Haufen mehr demjenigen von san- 
guinea als von rufa und pratensis. In ihrer Koloniegründung ist 
sie vom fakultativen zum obligatorischen temporären sozialen Para- 
sitismus übergegangen, indem ihre Weibchen regelmäßig durch 
fremde Hilfsameisen (fusca) sich adoptieren lassen, während rufa 
und pratensis meist Arbeiterinnen der eigenen Art und Rasse, bezw. 
der eigenen Kolonie (Zweigkoloniebildung) hierzu benutzen. 


rufa. 
bi A x 
N \ 


ee N 


pratensis. \ 


N 
truncicola. 

Aus dem im obigen Schema angedeuteten Verhältnis, in welchem 
truncicola zu rufa und pratensis steht, erklärt sich wahrscheinlich 
der atavistische Einschlag von rufa-Skulptur ın der F!-Generation 
bei einer Kreuzung zwischen truncicola und pratensis sowie die 
Dominanz der pratensis-Färbung über die truncieola-Färbung in der 
F!- und F?-Generation einer solchen Kolonie (s. o. S. 115ff.). 

Von besonderem Interesse für die stammesgeschichtlichen Be- 
ziehungen von F. truncicola zu rufa und pratensis sind ihre Gäste. 
Diese liefern ein wertvolles biologisches Dokument für ihren phylo- 
genetischen Zusammenhang mit jenen Rassen und für ihr relatives 
Alter. Dieses Thema erfordert eigentlich auf Grund meines reichen 
Sammlungsmaterials namentlich bezüglich der bisher am besten er- 
forschten myrmekophilen Koleopteren eine eigene umfangreiche 
Arbeit und kann hier nur kurz skizziert werden. 

Rufa hat weitaus die meisten Gastarten, pratensis etwas weniger, 
Iruncicola am allerwenigsten, und zwar haben die beiden letz- 
teren nur solche gesetzmäßige Gäste, die entweder auch 
bei rufa vorkommen oder von rufa-Gästen direkt abzu- 
leiten sind”). So fehlen z. B. unter den gesetzmäßigen pratensis- 
Gästen zwei der größeren myrmekophilen Staphyliniden, Dinarda 

25) Die durch ihre dunklere Färbung von Thiasophila angulata Er. ab- 
weichende Thias. pexca Motsch. kommt nicht bloß bei pratensis vor, sondern 
auch bei rufa neben der ersteren (Valkenburg). 


Wasmann, Über Ameisenkolonien mit Mendel’scher Mischung. 195 


Märkeli und Q@uedius brevis, obwohl sie ın den rufa-Nestern der- 
selben Gegend häufig sind. Truncicola scheint ihre Gäste überhaupt 
nur aus rufa- oder pratensis-Nestern der betreffenden Gegend zu 
erhalten, die zu ihr übergehen, und sie hat je nach dem Alter ihrer 
Niederlassung daselbst teils nur auffallend wenige Gäste (z. B. bei 
Luxemburg), teils eine größere Anzahl (z. B. bei Lippspringe i. W.). 
Bei rufa und pratensis dagegen ist die „Gastgarnitur“ ihrer Nester 
in den verschiedensten Gegenden ihres Verbreitungsbezirkes eine 
viel konstantere und gleichmäßigere. 

Eine ausgesprochene Differenzierung zwischen den Gästen 
von rufa, pratensis und truneicola findet sich nur bei den größten 
ihrer Symphilen, nämlich bei den Staphyliniden der Gattung Ate- 
meles?°). At. pubicollis Bris. hat als Larvenwirt F. rufa und ist 
über das ganze Verbreitungsgebiet der Wirtsameise, wenngleich 
sporadischer als die übrigen vufa-Gäste, verbreitet. Die Entstehung 
dieser Anpassung ist daher als eine relativ alte anzusehen im Ver- 
gleich zu den folgenden. At. pratensoides Wasm., der den pubi- 
collis bei F. pratensis vertritt, ist zwar morphologisch als „eigene 
Art“ von pubicollis abgegrenzt, kommt aber nur äußerst selten vor 
trotz der großen Häufigkeit des Wirtes; er ist bisher überhaupt 
nur in einem pratensis-Neste bei Luxemburg 1903 gefunden worden. 
Er ist wahrscheinlich durch eine relativ rezente, lokal begrenzte 
Anpassung von pubicollis an F. pratensis hervorgegangen. At. pubi- 
collis subsp. truncicoloides Wasm., der den pubicollis bei truncicola 
vertritt, ist nur als Rasse von ihm abgegrenzt und im Vergleich 
zum Verbreitungsgebiet der Wirtsameise äußerst selten (Lipp- 
springe 1. W. und Niederranna in Niederösterreich). Seine An- 
passung an truncicola ıst auf einen relativ rezenten, lokal be- 
grenzten Übergang von pubicollis zur Lebensweise bei truncicola 
zurückzuführen ?”). 

Unter den myrmekophilen Acarinen hat Ztruneicola von pra- 
tensis an manchen Orten den Loelaps (Hypoaspis) laevis Mich. er- 
halten, der bei pratensis allgemein häufig ist, bei rufa dagegen fehlt 
und daselbst durch den panmyrmekophilen Zoelaps (Hypoaspis) 
myrmecophilus Berl. ersetzt ist. 

Besonders auffallend ist, dass sämtliche gesetzmäßigen trunci- 
cola-Gäste aus rufa-(oder pratensis-)Nestern der betreffenden Gegend 
stammen, kein einziger dagegen aus sanguinea-Nestern, wenngleich 
letztere ebendort zahlreich sind. Dies ist um so auffallender, weil 


26) Vgl. Die Anpassungscharaktere der Atemeles (Extr. d. I. Congr. Intern, 
d’Entomologie Bruxelles, 1910, p. 265—272). 
27) Vgl. auch: Beispiele rezenter Artenbildung bei Ameisengästen und Ter- 


mitengästen (Festschr. Rosenthal, 1906, S.43—58 und Biolog. Centralbl. XXVI, 
Nr. 17—18). 


126 Wasmann, Über Ameisenkolonien mit Mendel’scher Mischung. 


der Nestbau von truncicola weit mehr jenem von sanguinea gleicht 
als jenem von rufa oder pratensis! Da die myrmekophilen In- 
sekten auf ihrer Wanderung von einem Neste zum andern durch 
den Geruchssinn geleitet werden, ist jene Erscheinung wohl nur 
daraus zu erklären, dass die umherstreifenden rufa-Gäste vom 
truncicola-Geruch angezogen werden wegen der zwischen beiden 
Wirtsrassen bestehenden nahen Verwandtschaft, während für die 
sanguinea-Gäste der truncicola-Geruch indifferent bleibt. 

Unter den sanguwinea-Gästen ıst nur Lomechusa strumosa an 
einigen Orten von ihrer normalen Wirtsameise auch gelegentlich 
zu F.rufa bezw. zu F\ pratensis übergegangen. Für ihr Vorkommen 
bei F. truncicola liegen überhaupt keine zuverlässigen Funde vor, 
obwohl der Nestbau dieser Ameise demjenigen ihres normalen 
Wirtes am ähnlichsten ist. Die an F! sanguinea angepasste Dinarda 
dentata Grav., die als die älteste unserer zweifarbigen Dinarda- 
Rassen zu betrachten ist, wird bei rufa durch D. Märkeli ver- 
treten®®); D. dentata ist nur in einzelnen Überläufern sehr selten 
bei rufa gefunden worden trotz ihrer großen Häufigkeit bei san- 
guinea. Hetaerius ferrugineus ist ein gemeinschaftlicher Gast sämt- 
licher einheimischer Formica-Arten, mit besonderer Vorliebe für 
F. fusca, und kommt bei sangwinea weit häufiger vor als bei rufa 
und pratensis; bei truncicola habe ich ıhn überhaupt noch nie ge- 
funden. Übrigens scheidet er wegen seiner Neigung zur Panmyrme- 
kophilie ohnehin aus unserer obigen Betrachtung aus. 

Diese Andeutungen dürften zur Genüge zeigen, dass uns die 
Myrmekophilenkunde auch über die phylogenetischen Beziehungen 
zwischen manchen Ameisenarten und Rassen wertvolle Aufschlüsse 
zu geben vermag. 

Zum Schluss noch eine berichtigende Bemerkung. Es ist mir 
niemals eingefallen, unsere heutige Formica sanguinea von unserer 
heutigen F. truneicola oder von irgendeiner heutigen Art oder 
Rasse der rufa-Gruppe abzuleiten. Solche Anachronismen möge 
man mir deshalb auch nicht zuschreiben. Was ich in meiner Ar- 
beit von 1909 (Über den Ursprung des sozialen Parasitismus etc.) 
zu zeigen suchte und wohl auch gezeigt habe, ist, dass wir in der 
biologischen Phylogenese von F. sanguinea ein rufa-ähnliches 
(bezw. ein truncicola-ähnliches) Stadium anzunehmen haben. 


28) Die bei F. truneicola von mir gefundenen Dinarda sind kaum als eigene 
Varietät von Märkeli zu trennen, indem die Oberseite des Hinterleibes (entsprechend 
der stärkeren Behaarung von truneicola im Vergleich zu rufa) ein wenig dichter 
und länger behaart ist als bei Märkeli und meist auch die ersten Hinterleibsringe 
etwas heller (rötlich) gefärbt sind. Aber die Unterschiede sind sehr gering und 
nicht einmal konstant, so dass sie schwerlich eine systematische Abtrennung der 
bei truncicola lebenden Form von der bei rufa lebenden rechtfertigen. 


Nachtsheim, Entstehen auch aus befruchteten Bieneneiern Drohnen? 197 


Nachsehrift. 


In vorliegender Arbeit wurde angenommen, daß die hier er- 
wähnten gemischten Kolonien von truncicola mit pratensis und von 
truncicola mit rufa dem Spaltungsgesetz der Mendel’schen Mono- 
hybriden folgen. Es wurde dabei hauptsächlich auf die leicht 
sichtbaren Färbungscharaktere Bezug genommen, auf die Skulptur- 
und Behaarungsverhältnisse nur nebenbei, zumal die Details der 
letzteren nur unter der Lupe wahrnehmbar sınd und daher keine 
Prozentverhältnisse für dieselben bei der Beobachtung der Kolonien 
in freier Natur sich aufstellen lassen. Eine mikroskopische Nachprüfung 
der Skulptur und Behaarung der Arbeiterinnen ın den beiden Kolonien 
truncicola-rufa (Derenbach 1906) und truncicola-pratensis (Luxem- 
burg 1910) machte es mir jedoch sehr wahrscheinlich, dass die Be- 
haarung und Skulptur unabhängig von der Färbung mendeln, ja 
vielleicht sogar wieder unabhängig voneinander. Die Mischungs- 
verhältnisse dieser Kolonien wären infolgedessen nach den Spal- 
tungsgesetzen der Di- bezw. der Trihybriden zu beurteilen. Siehe 
meine spätere Arbeit: Luxemburger Ameisenkolonien mit 
Mendel’scher Mischung (Monatsberichte der Gesellsch. Luxem- 
burger Naturfreunde 1915). 


Entstehen auch aus befruchteten Bieneneiern Drohnen? 

Eine Kritik der Anschauungen OÖ. Dickel’s über die Ge- 

schlechtsbestimmung bei den Hymenopteren, insbeson- 
dere bei der Honigbiene. 


Von Hans Nachtsheim, Freiburg i. Br. 


Wieder einmal wird der Versuch gemacht, die Dzierzon’sche 
Theorie zu stürzen. In den beiden letzten Nummern des vorigen 
Jahrganges dieser Zeitschrift veröffentlicht Otto Dickel einen 
längeren Aufsatz, betitelt „Zur Geschlechtsbestimmungsfrage bei 
den Hymenopteren, insbesondere bei der Honigbiene“. Er meint, 
dass seine Darlegungen „der Auffassung einer syngamen Geschlechts- 
bestimmung bei der Biene, bei der sie ja als am gesichertsten gilt, 
den Boden vollständig entziehen.“ Wenn ich auch nicht glaube, 
dass ein wirklicher Kenner der Biologie der Hymenopteren und 
speziell der Honigbiene sich infolge der Dickel’schen Ausführungen 
veranlasst sehen wird, seine Ansichten über die Dzierzon’sche 
Lehre einer Revision zu unterziehen, so wird, da Dickel kein 
schlechter Anwalt seiner Sache ist, vielleicht doch manch einer, 
der mit den Verhältnissen weniger vertraut ist, sagen: „Die Fort- 
pflanzungsverhältnisse bei der Honigbiene — wie bei den Hyme- 
nopteren überhaupt — scheinen doch trotz der zahlreichen Unter- 
suchungen und trotz der jahrzehntelangen Diskussionen noch 


428  Nachtsheim, Entstehen auch aus befruchteten Bieneneiern Drohnen ? 


keineswegs geklärt zu sein.“ Schon aus diesem Grunde dürfen die 
Dickel’schen Behauptungen nicht unbeantwortet bleiben. Gibt es 
wirklich, wie Dickel behauptet, Tatsachen, die beweisen, „dass 
das Entstehen von Drohnen aus befruchteten Eiern keine seltene 
Ausnahme, sondern zu gewissen Jahreszeiten und unter gewissen 
physiologischen Zuständen die Regel bildet?“ Wir wollen nicht 
dem Grundsatze huldigen: die Tatsachen stimmen nicht zu der 
Theorie — um so schlimmer für die Tatsachen! „Wir müssen 
uns an das halten, was wissenschaftlich sicher festgestellt ist, mag 
es der Theorie auch noch so unbequem sein“, schreibt Dickel. 
Sehr richtig, schade nur, dass Dickel nicht recht weiß, was es 
eigentlich heisst, etwas „wissenschaftlich sicher“ feststellen. 
Dickel hat — dieses Resultat der folgenden Ausführungen sei 
hier schon ım voraus mitgeteilt — auch nicht den geringsten wissen- 
schaftlichen Beweis für die Richtigkeit seiner „Sekrettheorie“ er- 
bracht, die Dzierzon’sche Lehre besteht auch weiter ebenso zu 
Recht wie zuvor. „Dickel begeht immer wieder den gleichen 
Denkfehler: die bloße Möglichkeit einer Deutung der Beobach- 
tungen anderer Autoren im Sinne seiner Lehre einem unmittelbaren 
Beweise selbst gleichzusetzen.“ Dieses von Bresslau (1908 b)!) 
stammende Urteil über Ferdinand Dickel hat, wie wir sehen 
werden, für Dickel jun. die gleiche Gültigkeit. 


Die Dickel’sche „Sekrettheorie“. 


Ehe wir dazu übergehen, die „Beweise“ Dickel’s einer kri- 
tischen Betrachtung zu unterziehen, sei seine „Sekrettheorie“* kurz 
skizziert. Die „verachtete epigame Geschlechtsbestimmungsweise“ 
will Diekel durch seine Darlegungen wieder „ın den Vordergrund 
des Interesses rücken helfen“?). Es ist nach Dickel zwar richtig, 


1) S. das Literaturverzeichnis am Schluss. 

2) Dickel scheint sowohl die Theorie der syngamen wie auch die der pro- 
gamen Geschlechtsbestimmung allgemein abtun zu wollen. „Die Lehre von der 
progamen Geschlechtsbestimmungsweise“, schreibt er, „hat durch die Untersuchungen 
Shearer’s (1911) einen starken Stoß erlitten... Bewahrheiten sich Shearer’s 
Angaben, dann ist das jetzt schon sehr rissige Fundament jener Auffassung voll- 
kommen zerstört.“ Hätten sich die Angaben Shearer’s über die Eibildung und 
Befruchtung bei Dinophilus bestätigen lassen, so wäre das ein eigenartiger Fall 
syngamer, nicht aber epigamer Geschlechtsbestimmung gewesen. Shearer hat 
aber, wie ich bereits kurz dargelegt habe (1914 a), seine Befunde größtenteils falsch 
gedeutet; in meiner im Laufe des Jahres erscheinenden Arbeit über die Geschlechts- 
bestimmung bei Dinophilus — da ich bei Kriegsausbruch meine Experimente vor- 
zeitig abbrechen musste, verzögert sich leider der Abschluss der Arbeit sehr — 
werde ich den ausführlichen Beweis dafür erbringen. Bei Dinophilus ist das Ge- 
schlecht bereits im unbefruchteten Ei unabänderlich festgelegt. Sicherlich aber 
haben wir hier ebenso einen erst sekundär erworbenen Modus der Geschlechts- 
bestimmung vor uns wie bei Bonellia, bei der nach den Untersuchungen Baltzer’s 
(1914) die Larve geschlechtlich noch indifferent ist. 


Nachtsheim, Entstehen auch aus befruchteten Bieneneiern Drohnen? 129 


„dass aus unbefruchteten Eiern nur Männchen entstehen, richtig 
ist auch, dass die zu gewissen Jahreszeiten in Drohnenzellen abge- 
setzten Eier der normalen, begatteten Königin unbefruchtet sind. 
Falsch aber ist die Behauptung, dass sich Drohnen ausschließlich 
aus unbefruchteten Eiern entwickeln. Vielmehr ist es Regel, dass 
zu gewissen Jahreszeiten und unter gewissen physiologischen Stock- 
zuständen auch die Drohnen ihre Entstehung aus befruchteten Eiern 
nehmen.“ Nicht die Befruchtung bestimmt das Geschlecht, sondern 
die Geschlechtsbestimmung ist Sache der Arbeiterinnen. Jedes be- 
fruchtete Ei ist sexuell noch indifferent, ja selbst die Arbeiter- 
larven sind nach Dickel noch „intermediäre Formen“, aus denen 
die Arbeiterinnen jede der drei Formen des Bienenstaates erziehen 
können. Es ist die Qualität der Nahrung, die „den ausschlag- 
gebenden Faktor bildet, deren Verschiedenheit durch Zufuhr ver- 
schiedenartiger Sekrete bedingt ist“. Vergleichen wir die Sekret- 
theorie OÖ. Dickel’s mit den phantasievollen Vorstellungen F. Dickel’s 
über die Fortpflanzungsverhältnisse im Bienenstaat, so kommen wir 
zwar zu dem Resultat, dass an der Theorie O. Dickel’s wenig 
Neues ıst — es soll der „gute Kern“ der Theorie F. Dickel’s 
sein — aber seine heutigen Anschauungen bedeuten doch immerhin 
insofern einen Fortschritt, als er das Entstehen von Drohnen aus 
unbefruchteten Eiern ın der ungestörten normalen Bienenkolonie 
wenigstens für „gewisse Jahreszeiten“ zugibt. 


Die „Möglichkeit“ der Entstehung von Drohnen aus befruchteten Eiern. 


In seinen einleitenden Bemerkungen schreibt Dickel, dass 
„schon früher aus den Reihen überzeugter Anhänger dieser Lehre 
Stimmen laut geworden sind, die die Möglichkeit einer gelegent- 
lichen Entstehung von Drohnen aus befruchteten Eiern zugeben“. 
Diese Stimmen mehrten sich. Es haben in der Tat selbst die 
eifrigsten Verfechter der Dzierzon’schen Lehre (s. z. B. v. Buttel- 
Reepen, 1911) immer darauf hingewiesen, dass wohl gelegent- 
lich auch einmal ein befruchtetes Ei eine Drohne liefern kann. 
Auch die Autoren, welche das Geschlechtsbestimmungsproblem bei 
den Hymenopteren auf Grund zytologischer Untersuchungen erörtert 
haben (z. B. Schleip, 1912; Armbruster, 1913) heben allgemein 
hervor, dass eine gelegentliche Entstehung von Hymenopteren- 
männchen aus befruchteten Eiern sich theoretisch sehr wohl erklären 
lässt, ebenso wie eine gelegentliche Entstehung von Weibchen aus 
unbefruchteten Eiern bei den sozialen Hymenopteren. Ich habe 
ausgeführt (1913), dass es ein Charakteristikum der Hymenopteren- 
männchen ist, dass sie nur ein Uhromosomensortiment besitzen, 
während die Weibchen der Hymenopteren zwei aufweisen, also die 
diploide Chromosomenzahl. Nun ist es aber sehr wohl denkbar 
— schon Schleip (1912) hat hierauf hingewiesen —, dass aus 

XXXV. 9 


130  Nachtsheim, Entstehen auch aus befruchteten Bieneneiern Drohnen ? 


irgendwelchen Gründen einmal die vom Spermakern stammenden 
Chromosomen ihre normale Funktion nicht auszuüben vermögen. 
Der sich entwickelnde Embryo besäße dann zwar beide Chromo- 
somensortimente, aber nur ein „aktives“ Sortiment, das befruchtete 
Ei würde ein Männchen liefern. Doch es wäre nicht einmal nötig 
anzunehmen, dass alle Chromosomen des einen Sortimentes funk- 
tionsunfähig sind, es müsste ein Defekt des Chromosoms bezw. der 
Chromosomen, die Träger der Erbfaktoren für das Geschlecht sind, 
. genügen, um die Entstehung eines Weibchens aus dem befruchteten 
Ei unmöglich zu machen. Die Entstehung eines Weibchens aus 
einem unbefruchteten Bienenei ließe sich mit der Annahme erklären, 
dass ın dem betreffenden Eı die Reduktionsteilung unterblieben 
ist. Das Weibchen entstände ähnlich, wie die aus unbefruchteten 
Eiern sich entwickelnden Weibchen der Blatt- und Gallwespen. 
Ich brauche wohl kaum noch besonders zu betonen, dass also nach 
unserer Auffassung die Entstehung einer Drohne aus einem befruch- 
teten bezw. einer Arbeiterin oder Königin aus einem unbefruchteten 
Bienenei ein pathologischer Vorgang ist. Der eine wie der andere 
Fall dürfte außerordentlich selten sein. Eine Beobachtung, die für 
eine Entstehung einer weiblichen Biene aus einem unbefruchteten 
Ei spräche, ist auch bisher noch nicht gemacht worden°®). Für die 
gelegentliche Entstehung von Drohnen aus befruchteten Eiern lassen 
sich ‚einige Beobachtungen anführen, aber beweisend sind diese Be- 
obachtungen durchaus nicht, denn sie lassen — wir werden im 
folgenden hierauf noch zurückkommen — auch sehr verschiedene 
andere Deutungen zu. 


Drohnen in Arbeiterinnenzellen. 


Der erste „Beweis“ Dickel’s, dass Drohnen „recht häufig“ 
auch aus befruchteten Eiern entstehen, ist die unter verschiedenen 
Verhältnissen zu beobachtende Tatsache, dass auch aus Arbeiterinnen- 
zellen Drohnen hervorgehen können. Ich will zunächst schildern, 
welche Erklärung der Anhänger der Dzierzon’schen Lehre dieser 
Tatsache gibt und dann damit die Dickel’sche Ansicht vergleichen. 

Schon des öfteren ist beobachtet worden, dass junge, eben be- 
gattete Königinnen anfangs die Arbeiterinnenzellen mit Drohnen- 
eiern besetzen, um allmählich zu einer völlig normalen Eiablage 
überzugehen. Ein vorübergehender Defekt an der Muskulatur des 
Samenblasenganges kann die Ursache sein, dass die Spermapumpe 
zunächst nicht funktioniert. Es ist auch möglich, dass sich hier 
der Instinkt, die in Arbeiterinnenzellen abzusetzenden Eier zu be- 


3) Es ist für die Art der Beweisführung Dickel’s charakteristisch, dass ihm 
das Fehlen einer solchen Beobachtung genügt, um kategorisch zu erklären: „Es ist 
ganz unmöglich (von mir gesperrt. N.), dass sich ein unbefruchtetes Bienenei 
zu einer Arbeitsbiene oder Königin entwickelt.“ 





Nachtsheim, Entstehen auch aus befruchteten Bieneneiern Drohnen? 131 


fruchten, gewissermaßen verspätet einstellt. So ziemlich in jedem 
Bienenstocke aber kann man ab und zu einzelne Arbeiterinnenzellen 
finden, die mit Drohnenlarven besetzt sind, oder auch umgekehrt 
Drohnenzellen, die Arbeiterinnen enthalten. In diesen Fällen liegt 
wohl kein Defekt an der Spermapumpe vor, sondern wir haben 
hier eine der mannigfachen „Instinktsirrungen“ vor uns, wie wir 
sie ım Bienenstaate nicht selten beobachten können. Instinkts- 
irrungen dieser Art können bei verschiedenen Königinnen sehr ver- 
schieden häufig vorkommen. Während die einen sich nur selten 
„irren“, belegen andere ständig einzelne oder gar zahlreiche Zellen mit 
der falschen Eisorte. v. Buttel-Reepen (1904a) erwähnt mehrere 
solche Fälle. Ein Bienenzüchter berichtet nach v. Buttel-Reepen 
sogar, dass eine junge Königin „ihrer Mutter in dieser Unart nach- 
artete*. Natürlich kann es gelegentlich auch vorkommen, dass bei 
der Ablage eines Eies in eine Arbeiterinnenzelle die Spermapumpe 
in Funktion tritt, dass aber die Spermatozoen die Mikropyle des 
Eies nicht erreichen oder gar nicht bis ın den Eileiter gelangen, 
so dass das Eı „gegen den Willen“ der Königin unbefruchtet ab- 
gelegt wird. Zumal bei älteren Königinnen, deren Samenvorrat zur 
Neige geht, wird dieser Fall eintreten, und zwar allmählich immer 
häufiger, die Drohnen überwiegen schließlich die Arbeiterinnen, 
und zuletzt ist die Königin nur noch zur Erzeugung von Drohnen 
fähig. v. Buttel-Reepen, der in seiner soeben erschienenen Bio- 
logie (1915) einige der obigen Erscheinungen bespricht, bemerkt 
dazu: „Vorstehende Tatsachen sind insbesondere sehr beachtens- 
wert für solche, die ohne eingehende Kenntnis der Biologie der 
Honigbiene über Geschlechtsbestimmungsfragen, Parthenogenesis 
u.s. w. arbeiten wollen, da durch die Nichtbeachtung solcher Vor- 
kommnisse zahlreiche Irrtümer entstehen können.“ 

Dickel kennt freilich diese Tatsachen sehr genau, ja er benutzt 
gerade diese Tatsachen zum Teil als „Beweis“ für seine Theorie. 
Was zunächst einmal die Beobachtung anbetrifft, dass frisch be- 
gattete Königinnen bisweilen anfangs nur Drohnen erzeugen, ob- 
wohl sie ıhre Eier in Arbeiterinnenzellen absetzen, so bezeichnet 
Dickel die Erklärung, dass hier der Geschlechtsapparat einen vor- 
übergehenden Defekt aufweist, als „weder anatomisch noch biologisch 
haltbar“. Die Eier dieser Königinnen sind nach Dickel befruchtet, 
aber in diesem Falle sind es nicht die Arbeiterinnen, die aus den 
befruchteten Eiern Drohnen entstehen lassen, sondern die Ursache 
liegt in den Eiern selbst. Dickel behauptet, dass „mit einer ge- 
wissen Regelmäßigkeit der geschilderte abnorme Fall eintritt, wenn 
die Königin durch ungünstige Witterungsverhältnisse am Begattungs- 
flug längere Zeit verhindert worden war“. Die ersten Eier, welche 
die betreffende Königin ablegt, sollen infolgedessen überreif ge- 
worden sein, und „Eier im Zustande der Ovarialüberreife zeigen 

9% 


152 Nachtsheim, Entstehen auch aus befruchteten Bieneneiern Drohnen ? 


bei den Bienen die Tendenz, sich zu Männchen zu entwickeln“. Die 
Wege, die Dickel zur Entstehung von Drohnen führen lässt, sind 
also recht mannigfach! Alle unbefruchteten Eier ergeben Drohnen, 
ebenso alle befruchteten überreifen Eier, und aus jedem anderen 
Bienenei vermögen die Arbeiterinnen vermittels ihrer Sekrete eine 
Drohne zu erziehen. Wir werden weiter unten die Haltlosigkeit 
der Dickel’schen Theorie der „Überreife“ in einem besonderen 
Abschnitte dartun, hier sei nur hervorgehoben, dass die Angabe 
Dickel’s, der geschilderte abnorme Fall trete unter den obigen 
Verhältnissen „mit einer gewissen Regelmäßigkeit“ auf, 
nichts weiter als eine kühne Behauptung ist, für die er auch nicht 
die Spur eines Beweises zu erbringen vermöchte. 

Dass die gelegentliche Entstehung einer Drohne in einer Ar- 
beiterinnenzelle auf eine Instinktsirrung der Königin zurückzu- 
führen ist, diese Erklärung glaubt Dickel ebenfalls ohne weiteres 
ablehnen zu können. Es sei eine „recht sonderbare Interpretation“, 
wenn Petrunkewitsch (1901) und ich (1913) sagten, die Bienen- 
königin „irre“ sich bisweilen. Da ich nicht direkt von einer In- 
stinktsirrung gesprochen, sondern mich damit begnügt habe, das 
Wort „irren“ ın Anführungszeichen zu setzen, hat Dickel den Sınn 
meiner Worte offenbar gar nicht verstanden. Er ist natürlich davon 
überzeugt, dass diese Drohnen in Arbeiterinnenzellen aus befruch- 
teten Eiern sich entwickelt haben und „beweist“ seine Ansicht 
durch Mitteilung einer Reihe von Beobachtungen, die verschiedene 
Bienenzüchter gemacht haben. Auch die übrigen „Beweise“ Dickel’s 
für seine Theorie gründen sich fast ausschließlich auf Beobachtungen 
von Imkern. Man kann speziell ın dem vorliegenden Falle gegen 
ein solches Verfahren nicht scharf genug protestieren! Niemand 
wird dıe großen Verdienste verkennen, die sich Männer wie Dzier- 
zon, v. Berlepsch um die Erweiterung unserer Kenntnisse des 
Bienenlebens erworben haben. Aber wie bereits zu Dzierzon’s 
Zeiten von kritiklosen Dilettanten -—- meist Gegnern Dzierzon’s — 
„die unrichtigsten, abenteuerlichsten und abgeschmacktesten Be- 
hauptungen über die Verteilung der Geschlechtsfunktionen, über 
Begattung, Befruchtung, Eierlegen der Bienen u. s. w. in vollem 
Ernste als ausgemachte Wahrheiten hingestellt wurden“ (v. Sıe- 
bold, 1856), so sind auch heute manche Imker einem wahren 
„Spekulationswahnsinn“ verfallen, um einen Ausdruck Zander’s 
(1911) zu gebrauchen. Das Verfahren Dicke!’s ist um so mehr 
zu beanstanden, als die von ihm angeführten Beobachtungen die 
gleichen sind, die sein Vater ın seinen zahllosen Artikeln als „Be- 
weise“ für seine Theorie gebracht hat. Seit dem Jahre 1900 ist aber 
immer und immer wieder darauf aufmerksam gemacht worden, dass 
diese „Beweise“ keine Beweise sind, dass in den Experimenten die 
oft sehr zahlreichen Fehlerquellen gar nicht oder nicht genügend 


Nachtsheim, Entstehen auch aus befruchteten Bieneneiern Drohnen ? 133 


berücksichtigt worden sind. Und jetzt, nachdem der Kampf 15 Jahre 
gedauert hat, wagt es O. Dickel, anstatt auch nur ein einziges 
eigenes Experiment mit genauem Protokoll vorzulegen, zu be- 
haupten, dass „Fehlerquellen in diesen Versuchen unmöglich nach- 
gewiesen werden können“! Es dürfte ein fruchtloses Bemühen 
sein, Dickel sen. und jun. davon zu überzeugen, dass die von 
ihnen angeführten Experimente und Beobachtungen keinen wissen- 
schaftlichen Wert haben, um aber die Art und Weise ©. Dickel’s, 
etwas zu „beweisen“, noch weiter zu charakterisieren, möge auf 
einige von diesen Experimenten noch näher eingegangen werden. 

Der Lehrer der Bienenzucht Meyer, Gadernheim, berichtet 
Dickel, „besaß ein starkes Volk mit prächtiger Königin. Aus 
rationellen Gründen unterdrückte er, gegen seine sonstige Gewohn- 
heit, jede Drohnenzellenanlage. Bis Mitte April gelang ıhm das, 
Alle Waben zeigten lückenlosen Arbeiterbau mit entsprechender 
Brut. ‚Bei genauer Besichtigung zeigten sich in verschiedenen 
Ecken doch wieder Drohnenzellen, die schleunigst entfernt wurden.‘ 
Schon nach einiger Zeit trat mitten in der Arbeiterbrut vereinzelte 
Drohnenbrut auf, die in den folgenden Tagen in so beunruhigen- 
dem Maße zunahm, dass er beschloss, die Königin zu töten. Mit- 
leid mit dem prächtigen Tier ließ ihn aber von seinem Vorhaben 
absehen. Er hing vielmehr dem Volke zwei Drohnenwaben ein ‚in 
der Erwägung, dass einem richtigen Volk im Sommer auch Drohnen- 
brut gehört.‘ Als er nach einiger Zeit das Volk wieder revidierte, 
waren beide Drohnenwaben mit regelrechter Drohnenbrut besetzt, 
während alle Arbeiterwaben wieder das ursprüngliche Bild, nämlich 
tadellos geschlossene Arbeiterbrut zeigten.“ 

Wer mit der Biologie der Bienen vertraut ist, wird das Ver- 
halten der Königin nicht merkwürdig finden. Es ist ein schon des 
öfteren wiederholtes Experiment, ein Volk im Herbste auf lauter 
Drohnenbau zu setzen. Die Königin legt dann nach einigem Zögern 
in die Drohnenzellen befruchtete Eier ab, es entstehen in den 
Drohnenzellen Arbeiterinnen. Der Trieb, Drohnen zu erzeugen, ist 
um diese Jahreszeit normalerweise nicht mehr vorhanden, es „ver- 
sagen“, um mit R. Hertwig (1904) zu sprechen, „in einer solchen 
Zwangslage die normalen Reflexe oder Instinkte“. Der Versuch 
des Bienenzüchters Meyer stellt das entgegengesetzte Experiment 
dar. In einem starken Volke wird mit beginnendem Frühling, wenn 
die Tracht- und Witterungsverhältnisse günstig sind, der Trieb, 
Drohnen zu erzeugen, immer mächtiger. Nicht nur bauen die Ar- 
beiterinnen, wo es nur eben möglich ist, Drohnenzellen, falls keine 
Drohnenwaben vorhanden sind, sondern die Königin sucht auch im 
ganzen Stocke nach solchen, um ihren Trieb, „Drohneneier“ abzu- 
legen, zu befriedigen (s. Nachtsheim, 1914b). Entfernt man die 
Drohnenzellen immer wieder, so bringt man auch hier die Königin 


134 Nachtsheim, Entstehen auch aus befruchteten Bieneneiern Drohnen’? 


in eine Zwangslage, sie setzt „Drohneneier“ in die Arbeiterinnen- 
zellen ab. 

Und Dickel’s Erklärung? Da die Bienen „in Arbeiterzellen 
zur Entwickelung kamen, also (von mir gesperrt. N.) sicher be- 
fruchtet waren“, ıst das Entstehen von Drohnen der Fähigkeit der 
Arbeitsbienen, „aus Arbeiterlarven Drohnen zu erziehen“, zu ver- 
danken. Noch einige ähnliche Fälle, wo „ausdrücklich (von mir 
gesperrt. N.) betont wird, dass die entstandenen Drohnen nur be- 
fruchteten Eiern entstammen konnten“, führt Dickel an und schließt 
dann diesen Abschnitt mit folgender Behauptung: „Haben wir so- 
mit eine Reihe von Tatsachen kennen gelernt, die beweisen, dass 
Drohnen nicht unbedingt aus unbefruchteten Eiern entstehen müssen, 
vielmehr recht häufig auch aus befruchteten Eiern hervorgehen, so 
dürfen wir wohl ohne Gefahr eines Fehlschlusses die eingangs er- 
wähnte biologische Erscheinung dahin deuten, dass sich die Königin 
bei ıhrer Eiablage nicht ‚geirrt‘ hat, dass vielmehr auch in diesen 
Fällen, die bald seltener, bald recht häufig vorkommen, aus be- 
fruchteten Eiern Drohnen hervorgegangen sind... Nicht bei der 
Königin, sondern bei den Arbeitsbienen ist der ‚Irrtum‘ zu suchen.“ 
„Mit solchen Bemerkungen wie diese letzten gibt man aber nıchts 
Wissenschaftliches, wie Dr. Dickel jetzt auch wohl empfinden 
wird. Die Wissenschaft fordert einwandfreie Tatsachen und 
es wäre besser, nur auf solchem Boden zu arbeiten. Hoffentlich 
geschieht solches in Zukunft!“ Diesen Vorwurf, den v. Buttel- 
Reepen OÖ. Dickel bereits vor 11 Jahren (1904b) machen musste, 
hat dieser leider ganz unbeachtet gelassen, sonst wäre mir diese 
Kritik erspart geblieben. 


Können die Arbeiterinnen aus Arbeiterinnenlarven Drohnen erziehen ? 


Eine zweite Gruppe von Beobachtungen soll beweisen, dass 
die Arbeiterinnen aus Arbeiterinnenlarven Drohnen zu erziehen ver- 
mögen. Abgesehen von einem stammen auch diese Experimente 
alle von Imkern, das eine aber rührt von Bresslau (1908b) her, 
der eine Zeitlang für Diekel sen. eingetreten ist, schließlich aber 
auch seine Ansichten bekämpft hat. Lassen wir Bresslau zunächst 
selbst sprechen: „Am 18. März 1905 wurde aus einem kleinen normalen 
Volke D, das nur auf einer von 6 Arbeiterwaben ein etwa hand- 
tellergroßes Brutnest besaß, die Königin und etwa die Hälfte der 
Bienen entnommen und in einen Versuchskasten E auf dem Neben- 
stande umlogiert. Nach 10 Tagen wurden in dem jetzt weisellosen 
Volk D, dem die Brutwabe belassen worden war, inmitten der 
z. T. nach Arbeiterart gedeckelten, z. T. noch ungedeckelten Brut 
neben 5 Weiselzellen 6 hochgedeckelte, also Drohnenlarven ent- 
haltende Zellen beobachtet. Später kamen noch mehrere hinzu, 
am 9. April habe ich notiert: ın Stock D zahlreiche junge Drohnen. 


Nachtsheim, Entstehen auch aus befruchteten Bieneneiern Drohnen? 135 


Da bis dahin seit dem Beginne des Experiments nur 28 Tage, also 
der Zeitraum, der ungefähr der normalen Entwickelungsdauer von 
Drohnen entspricht, verflossen waren, so können diese Drohnen nur 
aus der am 18. März in den Arbeiterzellen des anscheinend nor- 
malen Völkchens vorhanden gewesenen Brut, nicht aber, wie man 
sonst vielleicht annehmen könnte, aus den Eiern drohnenbrütig ge- 
wordener Arbeiterinnen hervorgegangen sein. Die Königin, von der 
diese Eier abgelegt worden waren, hatte inzwischen im Kasten E 
regelrechte Arbeiterbrut abgesetzt und erwies sich auch späterhin 
als durchaus normal.“ Dieses Resultat scheint in der Tat zunächst 
sehr zugunsten Dickel’s zu sprechen. Aber hören wir, was Bress- 
lau weiter sagt: „Trotz wiederholter mehrjähriger Bemühungen ist 
es mir aber nicht gelungen, den Versuch noch einmal mit ähn- 
lichem Ergebnis zu wiederholen. Ich bin daher nicht in der Lage, 
nach dem nur einmaligen positiven Ausfall dieses Versuches 
Dickel’s Deutung dieser Experimente ohne weiteres akzeptieren 
zu können. Denn bei der Singularität des Ergebnisses sind auch 
noch eine Anzahl anderer Erklärungsmöglichkeiten denkbar und 
jedenfalls nicht auszuschließen.“ Bresslau äußert sich nicht näher 
über diese Erklärungsmöglichkeiten, dass solche gegeben sind, er- 
scheint auch mir sicher. Eine Erklärung wäre z. B. diese: Die 
Königin verhielt sich nicht ganz normal bei der Eiablage, sie legte 
außer befruchteten Eiern auch unbefruchtete in Arbeiterinnenzellen. 
In dem weisellosen Volke (D) wurden die aus diesen Eiern ent- 
stehenden Drohnenlarven gepflegt, in dem Völkchen mit Königin (E) 
hingegen war der Trieb, Drohnen aufzuziehen, jedenfalls nicht vor- 
handen, die jungen Drohnenlarven wurden von den Arbeiterinnen 
immer wieder entfernt und konnten so von Bresslau nicht beob- 
achtet werden. Dass Drohnen und Drohnenlarven zu gewissen 
Zeiten im Bienenstock nicht geduldet werden, ist ja eine allbe- 
kannte Tatsache. Eine Beobachtung, die ich vor einigen Jahren 
gemacht habe (1914b), scheint mir dafür zu sprechen, dass die Ar- 
beiterinnen die verschiedenen Eier nicht zu unterscheiden ver- 
mögen, wohl aber selbst die kleinsten Drohnenlarven von den 
Arbeiterinnenlarven; erst diese wurden entfernt. Es gibt, wie ge- 
sagt, noch einige andere Möglichkeiten, das Resultat des Bress- 
lau’schen Experiments zu erklären. Es möge dieser Hinweis ge- 
nügen. Soviel geht jedenfalls schon aus dem Gesagten hervor, dass 
bei Experimenten mit Bienen sehr zahlreiche Faktoren zu berück- 
sichtigen sind, und dass nur Experimente mit ganz genauem Protokoll 
Wert für uns haben. Nur in solchen Fällen lässt sich entscheiden, 
ob wirklich die Fehlerquellen nach Möglichkeit ausgeschieden, ob 
also die aus dem Experiment gezogenen Schlüsse berechtigt sind. 
Dickel führt einige Beispiele dafür an, dass in weisellos ge- 
wordenen Völkern bisweilen in nachträglich zu Drohnenzellen um- 


136 Nachtsheim, Entstehen auch aus befruchteten Bieneneiern Drohnen? 


gebauten Arbeiterinnenzellen Drohnen entstehen, verschweigt aber 
ganz die sicher auch ihm bekannte Tatsache, dass häufig in weisellos 
gewordenen Völkern, die nur bestiftete Arbeiterinnenzellen besitzen, 
die Arbeiterinnen vergeblich den Versuch machen, aus den „Ar- 
beiterinneneiern“ Drohnen zu erziehen. Im ersten Falle waren 
einige unbefruchtete Eier in die Arbeiterinnenzellen abgesetzt 
worden, im zweiten Falle nicht, und deshalb bemühten sich die 
Arbeiterinnen hier vergeblich, Arbeiterbrut ın Drohnenbrut zu ver- 
wandeln. So sagt der Anhänger der Dzierzon’schen Lehre. 
Dickel sagt, die Eier waren in Arbeiterzellen abgesetzt worden, 
also sicher befruchet, das Geschlecht haben die Arbeiter durch ihre 
Sekrete bestimmt. Weshalb ist es aber dann den Arbeitern nur 
gerade in den von Dickel zitierten Fällen möglich gewesen, aus 
Arbeitereiern oder -larven Drohnen zu erziehen, weshalb fehlt ihnen 
sonst diese Möglichkeit? Auf diese Frage vermag uns Dickel 
keine Antwort zu geben. v. Buttel-Reepen (1901), der einige 
in einem weisellosen Volke in nachträglich zu Drohnenzellen umge- 
bauten Arbeiterinnenzellen zur Entwickelung gekommene Bienen 
untersuchte, stellte fest, dass es typische Arbeiterinnen waren. Das 
wahrscheinlich veränderte Futter — bezw. das andere Sekret, wie 
Dickel will — hatte keinen Einfluss auf das Geschlecht ausgeübt. 

Schon mehrmals sind Königinnen beobachtet worden, die un- 
fähig waren, Drohneneier abzulegen. Aus allen ın die Drohnen- 
zellen abgesetzten Eiern gingen Arbeiterinnen hervor, obwohl der 
Trieb, Drohnen zu erzeugen und aufzuziehen, bei Königin und Ar- 
beiterinnen vorhanden war. Grobben (1895) z. B. beschreibt einen 
solchen Fall. Er spricht die Vermutung aus, dass eine „Nerven- 
schwäche“ die Ursache der Erscheinung war. Die Königin hatte 
die Spermapumpe „nicht in ihrer Gewalt und konnte bei der Ei- 
ablage einen Zufluss von Sperma nicht hemmen.“ Auch diese Fälle, 
die er ebenfalls mit seiner „Sekrettheorie“ nicht zu erklären ver- 
mag, erwähnt Dickel nicht. 

Doch ist die Frage, ob die Arbeiterinnenlarven „intermediäre 
Formen“ sind und eine Beeinflussung der Larven für das Geschlecht 
von Bedeutung ist, überhaupt noch diskutabel? Ich glaube mit 
Zander (1914, 1915) und v. Buttel-Reepen (1915) diese Frage 
verneinen zu müssen. Schon Petrunkewitsch (1903) hat darauf 
hingewiesen, dass sich das Geschlecht eines Bienenembryos vor dem 
Ausschlüpfen bereits deutlich als männlich oder weiblich zu er- 
kennen gibt. Bei dem weiblichen Embryo (aus der Arbeiterinnen- 
zelle) ıst die Zahl der Geschlechtszellen wesentlich geringer als bei 
dem gleich alten männlichen (aus der Drohnenzelle). Da diese 
Arbeit Petrunkewitsch’s sich in manchen Punkten als unzuver- 
lässig erwiesen hat, ist es um so erfreulicher, dass in jüngster Zeit 
Zander (1914, 1915) die nachembryonale Entwicklung der Ge- 


Nachtsheim, Entstehen auch aus befruchteten Bieneneiern Drohnen? 137 


schlechtsorgane bei Königin, Drohne und Arbeiterin eingehend 
studiert hat und zu ähnlichen Resultaten wie Petrunkewitsch 
gekommen ist. „Die von frühester Jugend an scharf geprägten 
Geschlechtsmerkmale der Königin und Drohne“, sagt Zander in 
seiner demnächst erscheinenden Arbeit (1915)*), „gestatten ein 
sicheres Urteil über den sexuellen Charakter der Arbeiterin. Wie 
schon Koshevnikov betonte und Herr Meier (der Mitarbeiter 
Zander’s. N.) jetzt über jeden Zweifel erhoben hat, besitzt die 
Arbeitsbiene am Beginne ihres Larvenlebens bereits dıe vollkommene 
Organisation einer Königin. Bei keinem Teile ihres primitiven Ge- 
schlechtsapparates kann darüber auch nur der leiseste Zweifel be- 
stehen. Die Ausbildung der Imaginalscheiben, der Verlauf der 
Genitalstränge und der Bau der Genitaldrüsen sind von frühester 
Jugend an typisch weiblich“. Auch bei den solitären Bienen ist 
das Geschlecht bereits sehr frühzeitig zu erkennen (s. Armbruster, 
1913). Die vorläufige Mitteilung Zander’s (1914) dürfte Dickel 
bei der Niederschrift seines Artikels noch nicht bekannt gewesen 
sein, die Feststellungen Petrunkewitsch’s und vor allem Arm- 
bruster’s kannte er jedenfalls. Trotzdem erwähnt er sie mit 
keinem Worte und behauptet, durch seine Darlegungen den Be- 
weis erbracht zu haben, „dass die Arbeiterlarven ıntermediäre Formen 
darstellen“! 


Die Übertragungsexperimente. 


„Eine sehr entscheidende Rolle bei der Beurteilung unserer 
Frage“, so beginnt Dickel seinen nächsten „Beweis“, „spielen 
die Übertragungsversuche. Hier ist allerdings große Vorsicht ge- 
boten, denn nirgends fließen die Fehlerquellen so reichlich wie bei 
diesen Versuchen. Ich werde mich daher auf zwei, jeder Kritik 
standhaltende Beispiele beschränken. Nach einigen allgemeinen 
Bemerkungen folgen die beiden Experimente, ebenfalls von Imkern 
ausgeführt. 1904 schrieb ©. Dickel noch von den gleichen Ex- 
perimenten, die er persönlich zusammen mit seinem Vater 
gemacht hatte: „Wenngleich es mir natürlich nicht möglich ist, mit 
aller Bestimmtheit zu behaupten, dass jede Fehlerquelle vermieden, 
jeder Irrtum völlig ausgeschlossen ist — das wird man überhaupt 
nur bei einem Bruchteile aller physiologischen Experimente tun 
können — so kann ich doch die Versicherung abgeben, dass Dickel 
stets mit größter Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit vorgegangen ist.“ 
Heute heisst es von den beiden aus dem Jahre 1898 stammenden 
Experimenten der Gesinnungsgenossen seines Vaters: „Fehlerquellen 
können in diesen Versuchen unmöglich nachgewiesen werden.“ Um 
so viel unkritischer ist OÖ. Dickel inzwischen geworden! 





4) Herr Prof. Zander hatte die Freundlichkeit, mir diese Stelle aus seinem 
Manuskript zur Verfügung zu stellen. 


138 Nachtsheim, Entstehen auch aus befruchteten Bieneneiern Drohnen ? 


Betrachten wir kurz die von Dickel zitierten Experimente 
und sehen wir, ob hier wirklich „Fehlerquellen unmöglich nach- 
gewiesen werden können“! In beiden Experimenten wurden ım 
Juli (am 13. bezw. 21. Juli) in Drohnenzellen abgesetzte Eier in 
Weisel- bezw. Arbeiterinnenzellen übertragen und die Waben mit 
diesen Eiern weisellosen Völkern beigegeben. In beiden Fällen 
zogen die Arbeiterinnen aus den angeblichen „Drohneneiern* 
Königinnen. Ich bin ganz mit Dickel einverstanden, wenn er 
sagt, dass zur Erklärung dieser Experimente „die Angaben über 
die Zeit der Eiablage uns eine Handhabe bieten“. „In beiden 
Fällen“, sagt er weiter, „wurden die Bier im Monate Juli ın 
Drohnenzellen abgesetzt, zu einer Zeit also, zu der normaler- 
weise Drohnen nicht mehr entstehen (von mir gesperrt. N.), 
oder um mit dem Imker zu sprechen, der Drohnentrieb erloschen 
ist. Da um diese Zeit, wie der Versuch Heck’s beweist, die Eier 
in der Regel befruchtet sind, auch wenn sie in Drohnen- 
zellen abgelegt werden (von mir gesperrt. N.), so wird es sehr 
wahrscheinlich gemacht, dass die begattete Königin während der 
Schwarmzeit in Drohnenzellen ausschließlich unbefruchtete Eier, mit 
dem Abflauen des Triebes nach Erzeugung von Geschlechtstieren 
mehr und mehr befruchtete, unter Umständen ausschließlich be- 
fruchtete Eier absetzt.“ Diesen Folgerungen Dickel’s stimme ich, 
wie gesagt, vollkommen zu. Aber was berechtigt Dickel anzu- 
nehmen, dass die von Heck aus Drohnenzellen in Weiselzellen 
übertragenen Eier in ihren ursprünglichen Zellen Drohnen ergeben 
hätten? Dickel sagt selbst, dass in dem betreffenden Volke der 
„Drohnentrieb“ erloschen war. In einem Volke aber, ın dem der 
Drohnentrieb erloschen ist, bestiftet die Königin normalerweise die 
Drohnenzellen überhaupt nicht. Sie bestiftet sie nur dann, wenn 
ihr andere Zellen nicht zur Verfügung stehen, oder wenn man eine 
Drohnenwabe mitten in das Brutnest hängt, da leere Waben dort 
nicht geduldet werden. Diese Eier sind allerdings in der Regel 
befruchtet, aber es entstehen dann aus diesen befruchteten Eiern 
— vergl. das oben besprochene Experiment — auch keine Drohnen 
sondern Arbeiterinnen. Ich habe bereits an anderer Stelle (1914b) 
darauf hingewiesen, dass es sehr wohl möglich ist, selbst im August 
noch wirkliche „Drohneneier“, d. h. unbefruchtete Eier, in Drohnen- 
zellen zu erhalten, nämlich dann, wenn man das Erlöschen des 
Drohnentriebes durch geeignete Mittel verhindert bezw. hinaus- 
schiebt. Ich habe in den Monaten April, Mai, Juni, Juli und August 
des Jahres 1911 viele Hunderte von Eiern aus Drohnenzellen fixiert. 
Ich habe kein befruchtetes Eı darunter gefunden. 


Die Kreuzungsexperimente. 
Was die Kreuzungsexperimente mit verschiedenen Bienenrassen 
anbetrifft, die von Dickel ebenfalls als „Beweis“ für seine Theorie 


Nachtsheim, Entstehen auch aus befruchteten Bieneneiern Drohnen? 139 


angeführt werden, so verweise ich auf meine früheren Ausführungen 
(1913). Hier möchte ich nur die Angaben Dickel’s über Cuenot’s 
Schlussfolgerungen aus seinen Experimenten richtigstellen und zu- 
gleich zeigen, in welch unverantwortlicher Weise Dickel die An- 
sichten anderer Autoren entstellt. Cu&not (1909) untersuchte die 
Nachkommen einer schwarzen Bienenkönigin, die von einer gelben 
Drohne begattet worden war. Die weiblichen Nachkommen hatten 
alle Hybridencharakter, die ungefähr 300 untersuchten Drohnen 
aber waren fast alle schwarz wie die Mutter. Nur zwei wiesen 
ein breites gelbes Band auf dem ersten Hinterleibsring auf. Wie 
ist das Auftreten dieser beiden Drohnen zu erklären? Cuenot 
selbst äußert verschiedene Vermutungen. „Ces deux mäles a bandes 
peuvent &tre des hybrides, des varıants ou des &migrants de ruches 
lointaines; hypothese la plus vraısemblable serait celle des vari- 
ants.“ Ich habe dem hinzugefügt, dass die Angaben Cuenot’s auch 
nicht ausschließen, dass die beiden Drohnen von einer eierlegenden 
Arbeiterin, also einem Hybriden, stammten. Wie sich unsere An- 
gaben im Munde Dickel’s umgestalten, zeigt folgender Satz: 
„Cuenot konnte sich ıhr Auftreten nicht erklären, wogegen Nachts- 
heim die Behauptung aufstellt: „dass die beiden Drohnen von einer 
eierlegenden Arbeiterin, also von einem Hybriden abstammten.* 
Während es an dieser Stelle (S. 742) heisst, Cu&@not habe sich 
das Auftreten der beiden Drohnen nicht erklären können, schreibt 
Dickel auf S. 720, Cuenot sei „auf Grund von Vererbungserschei- 
nungen bei Kreuzungen der französischen und italienischen Rasse“ 
zu der Anschauung „gezwungen“, dass gelegentlich auch aus be- 
fruchteten Eiern Drohnen entstehen. Cuenot schließt seine Ab- 
handlung mit den Worten: „Somme toute, le resultat que j’ai 
obtenu, bien que passıble de critiques, parle contre l’opinion de 
Dickel et de Kuckuck, et confirme la theorie de Dzierzon.“ 
Die von mir ausgesprochene Vermutung kritisiert Diekel mit 
folgenden Worten: „Also nur um diesen Fall ins Dzierzon’sche 
Schema zu zwängen, greift er zu einer Erklärung, die mit dem 
scheinbar (von mir gesperrt. N.) nie durchbrochenen Gesetze 
unvereinbar ist, dass in Gegenwart einer normalen Königin Arbeits- 
bienen niemals zur Eiablage schreiten.“ Im Gegensatze hierzu liest 
man auf S. 774, dass bei der deutschen Rasse „der Streit um die 
sogen. Drohnenmütterchen nie zu Ende gekommen ist“; die dies- 
bezüglichen Angaben der Autoren seien „sicherlich nicht völlig aus 


der Luft gegriffen“. Meine Vermutung — um mehr handelt es 
sich ja nicht — ist also doch wohl auch nach Dickel nicht ganz 


und gar unberechtigt. 
Gibt es „überreife“ Bieneneier ’? 
Ich habe bereits Dickel’s Theorie der „Überreife“ erwähnt. 
Königinnen, die einige Zeit am Begattungsausfluge verhindert wurden, 


140 Nachtsheim, Entstehen auch aus befruchteten Bieneneiern Drohnen ? 


sollen zunächst nur Drohnen erzeugen, da ihre Eier „überreif“ ge- 
worden sind, und „Eier im Zustande der Ovarialüberreife zeigen 
bei den Bienen die Tendenz, sich zu Männchen zu entwickeln, die 
bei langer Einwirkung der sie bedingenden Faktoren sich bis zur 
ausschließlichen Produktion von Drohnen steigern kann.“ Beob- 
achtungen Huber’s (1814) bilden für Dickel den Anlass zu dieser 
Behauptung. Eine Königin, die längere Zeit am Begattungsausfluge 
gehindert worden war, schließlich aber doch noch den Hochzeitsflug 
ausführte, erzeugte ausschließlich Drohnen, obwohl sie nach Huber 
„mit den unzweideutigen Zeichen der Befruchtung“ zurückgekehrt 
war. Dickel genügt diese Angabe Huber’s als Beweis dafür, dass 
die von dieser Königin abgesetzten Eier befruchtet waren, und für 
ihn „bleibt nur die Annahme, dass in der Verzögerung des Be- 
gattungsfluges, mit anderen Worten in der Überreife der Ovarialeier 
die Ursache zu suchen ist“ (S. 744). Vergleichen wir hiermit, was 
Dickel auf S. 790f. sagt: „Auch Autoren, die durchaus auf dem 
Boden der Dzierzon’schen Lehre stehen, haben darauf hingewiesen, 
dass Jdie Eier erst unter dem Einflusse der Begattung voll ausreifen. 
Es besteht die, allerdings wenig beachtete Tatsache, dass unbe- 
gattete Königinnen viel weniger fruchtbar sind wie begattete, dass 
sie nach Absetzen einer verhältnismäßig geringen Zahl von Eiern 
ihre Tätigkeit beschließen ... Unter dem Einfluss der stattgehabten 
Kopula geht mit dem Legetier eine so starke Veränderung vor sich, 
dass es nach 24-—36 Stunden kaum wieder zu erkennen ist.“ Diese 
Angaben Dickel’s sind vollkommen richtig. Ich habe junge, noch 
nicht begattete Königinnen untersucht. Ihre Eierstöcke sind winzig 
im Vergleich zu denen einer jungen Königin auch nur kurze Zeit 
nach der Begattung. Während hier die Ovarien den größten Teil 
des ganzen Hinterleibes ausfüllen und die Eiröhren reife Eier in 
großer Zahl enthalten, lehren Schnitte durch das Ovar einer unbe- 
gatteten Königin, dass bei dieser selbst die ältesten Eier noch nicht 
in die Wachstumsperiode eingetreten sind. Wohl sind die Nähr- 
kammern und die Eikammern im unteren Teile der Eiröhren be- 
reits deutlich abgegrenzt, aber die Eizellen übertreffen dıe Nähr- 
zellen erst wenig an Größe, und auf diesem Stadium, das schon 
von der Puppe erreicht wird, bleiben die Ovarien zunächst stehen. 
Erst die Begattung ist für die Eier der Anreiz zur Weiterentwicke- 
lung. Unterbleibt die Begattung, so erfolgt erst nach längerer Zeit 
die Weiterentwickelung der Eier, aber auch dann reift nur, wie 
ja auch Dickel hervorhebt, eine verhältnismäßig geringe Zahl von 
Eiern’). Wenn Dickel also die Feststellung R. Hertwig’s, dass bei 


5) Nicht nur bei der Honigbiene hat die Begattung einen solch außerordent- 
lichen Einfluss auf die Entwickelung des weiblichen Keimstockes. Unbegattete 
Schmetterlingsweibchen verhalten sich ganz ähnlich wie die unbegattete Bienen- 


Nachtsheim, Entstehen auch aus befruchteten Bieneneiern Drohnen? 141 


Fröschen Überreife der Eier männchenbestimmend wirkt, verallge- 
meinern will, so vergisst er ganz, dass bei der Honigbiene die Vor- 
bedingungen für ein Überreifwerden der Bier gar nicht gegeben sind. 
Und selbst wenn man zugeben wollte, es könnte das längere Verweilen 
der jungen Eizellen auf dem genannten Stadium bei der Honigbiene 
den gleichen Effekt haben wie das längere Verweilen der Eier ım 
Uterus bei den Fröschen, so wäre gar nicht einzusehen, weshalb 
in dem von Huber mitgeteilten Falle sich die späteren Eier, die 
bei der begatteten Königin ständig aus Ovogonien erzeugt werden, 
genau so verhielten wie die ersten. 


Die Zwitterbienen. 


Auch die Zwitterbienen sollen überreifen Eiern entstammen, 
Eiern, „die eine je nach dem Grade der Überreife stärkere oder 
schwächere Tendenz zur Bildung des männlichen Geschlechts be- 
saßen.“ Ich glaube, auf eine weitere Diskussion der Dickel’schen 
Theorie der Überreife verzichten zu können. 


Wir haben hiermit alle „Beweise“ Dickel’s für das „recht 
häufige“ Entstehen von Drohnen aus befruchteten Eiern einer 
Kritik unterzogen. Das nächste Kapitel des Dickel’schen Auf- 
satzes betitelt sich: „Was ist die Ursache der geschlechtlichen 
Differenzierung der indifferenten Formen?“ Wir können uns nach 
den bisherigen Ausführungen ein Eingehen auf dieses Kapitel ver- 
sagen. Neben einer Reihe von Unrichtigkeiten enthält es — das 
sei hier nicht unerwähnt gelassen — einen interessanten Versuch 
OÖ. Dickel’s. Er zeigt, „dass der Futterbrei, der ın Königin-, 
Drohnen- und Arbeiterzellen abgesetzt wird, spezifisch verschieden 
voneinander ist.“ Diese Feststellung ist nicht neu, aber der Weg, 
auf dem Dickel zu seinem Resultat kommt, ist noch nicht be- 
gangen worden. 

Dickel behandelt dann weiter die Frage: „Gilt die Dzier- 
zon’sche Theorie für andere Hymenopteren?“ Er beantwortet 
natürlich die Frage im negativen Sinne. Ich kann mir ein Eingehen 
auf dieses Kapitel um so eher ersparen, als Kollege Armbruster 
demnächst Dickel eine Antwort auf seine Behauptungen geben 
und zugleich neue Beweise für die Richtigkeit der Dzierzon’schen 
Lehre erbringen wird. 

Auf Grund des Gesagten komme ich zu folgenden Resultaten: 

Die Ausführungen Otto Dickel’s sind nicht geeignet, 
die Richtigkeit der Dzierzon’schen Lehre auch nur irgend- 


königin (s. z. B. die Experimente Klatt’s, 1913). Auch bei Dinophilus ist das 
Verhalten des begatteten Weibchens sehr verschieden von dem des unbegattet ge- 
bliebenen (s. Nachtsheim, 1914a). 


149 Nachtsheim, Entstehen auch aus befruchteten Bieneneiern Drohnen ? 


wie in Zweifel zu ziehen. Es wird auch von den An- 
hängern der Dzierzon’schen Lehre die Möglichkeit einer 
gelegentlichen Entstehung von Drohnen aus befruch- 
teten Eiern zugegeben, aber es liegt bisher kein wissen- 
schaftlicher Beweis für eine solche Entstehung einer 
Drohne vor, geschweige denn dafür, dass zu gewissen 
Jahreszeiten Drohnen recht häufig aus befruchteten Eiern 
sich entwickeln. Dickel’s Behauptung, dass die Arbeiter- 
larven intermediäre Formen darstellen, ist nicht ein- 
mal mehr diskutabel. Auch die übrigen Behauptungen 
sind nicht mehr als zum Teil sehr kühne Spekulationen, 
denen jegliche exakte Grundlage fehlt. 


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Bd. I 


Physiologische Untersuchungen über das pulsierende 
Gefäfs von Bombyx mori L. 


Von Osvaldo Polimanti. 
(Aus dem Physiologischen Institut der Universität Perugia.) 


I. Der Einfluss der Temperatur auf den Rhythmus des 
pulsierenden Gefäßes. 


Untersuchungen über den Einfluss der Temperatur auf die Zahl 
der Pulsationen des pulsierenden Gefäßes der Insekten stammen 
vonNewport!), der bei Anthophora retusa beobachtete, dass, wenn 
das Tier 1—2 Stunden lang den Sonnenstrahlen ausgesetzt wurde, 
die Zahl dieser Pulsationen von 100 auf 140 stieg. Yersin?) sah, 
dass die Pulsationen des dorsalen Gefäßes einiger Insekten (Motten, 
Grillen) einen fast das Doppelte betragenden Unterschied zeigten, 
wenn die Außentemperatur warm war, im Vergleich mit der bei 
kalter Temperatur beobachteten Zahl. 

Dogiel°) studierte zuerst systematisch den Einfluss der Tem- 
peratur (0—38° C.) auf das Herz der Larve von Corethra plumi- 


1) Newport. Artikel „Insecta“ in Cyclopaedia of anatomy and physiology 
by Tood. Vol. VIII, p. 981, London 1839. 

2) Yersin, A. Zitiert von M. Girard. Traite &l&mentaire d’entomologie. 
T. I, p. 21, Paris 1873. 

3) Dogiel. Anatomie und Physiologie des Herzens von Corethra plumicornis. 
Memoires Acad&mie de St. Pötersbourg VII, 1877 (p. 16, Extrait). 


144 Polimanti, Physiologische Untersuchungen etc. 


cornis und beobachtete, dass eine Erniedrigung der Temperatur 
seinen Pulsationsrhythmus verlangsamt, während eine Erhöhung 
derselben ihn beschleunigt. Aus diesen Versuchen schließt er, dass 
das Herz dieser Larve sich der Temperatur gegenüber wie das Herz 
der Vertebraten verhält. 

In einer Reihe von Untersuchungen, die ich*) über das Herz 
eines Schaltieres (Maja verrucosa M. Edw.) ausgeführt habe, stu- 
dierte ich auch den Einfluss der Temperatur auf den Pulsations- 
rhythmus des Tieres und wollte sehen, ob das Gesetz von Arrhe- 
nius und van’t Hoff anwendbar wäre, nach welchem die 
chemischen Reaktionen infolge jeder Temperaturzunahme von 10° 


um das Doppelte oder Dreifache zunehmen: al — 0410: 

In dieser Arbeit berechnete ich eben auf Grund dieses Gesetzes 
die Resultate, die Plateau?) erhalten hatte, als er die Pulsschwan- 
kungen des dorsalen Gefäßes eines Käfers (Oryctes nasicornis) stu- 
dierte, und ich fand genau: Q10 = 1,46. Dieses selbe Gesetz 
wandte ich auf den Atmungsrhythmus bei Fischen®) und auf den 
Rhythmus des embryonalen Herzens von Fischen’) an und fand, 
dass es auch hier innerhalb gewisser Grenzen gilt. In diesen meinen 
Abhandlungen findet sich die vollständige Literatur über die An- 
wendung dieses Gesetzes von Arrhenius und van’t Hoff auf die 
Lebenserscheinungen, weshalb ich an dieser Stelle nicht wiederhole, 
was die verschiedenen Biologen über diese Frage veröffentlicht haben. 

Ich hielt es für interessant, systematische Untersuchungen an- 
zustellen über den Einfluss, den die Temperatur auf den Rhythmus 
des pulsierenden Gefäßes der Larve eines Insektes (Bombyx mori L.) 
ausübt, eines Gefäßes, mit dessen anatomischem Bau sich in jüngster 
Zeit E. Verson°) mit großem Erfolg beschäftigt hat; gleichzeitig 
wollte ich untersuchen, inwieweit auch in diesem Falle das oben 
erwähnte Gesetz von Arrhenius und van’t Hoff anwendbar sei. 
Wie wir schon gesehen haben, liegen von derartigen Untersuchungen 
nur die von Plateau über Oryctes nasicornis vor, deren Resultate 


4) OÖ. Polimanti. Beiträge zur Physiologie von Maja verrucosa M. Edw. 
— I. Herz. Archiv f. Anatomie und Physiologie (physiologische Abteilung), 1913, 
p. 117—204, Fig. 71 im Text. 

5) F. Plateau. Recherches physiologiques sur le cur des crustaces deca- 
podes. Archives de Biologie, 1880, T. I, p. 595—695, Pl. 2 (XXVI—XXVI). 

6) OÖ. Polimanti. Einfluss niedriger Temperaturen auf Pigmentierung und 
Atmung von Apogon rex mullorum C. Bp. Centralblatt f. Physiologie, Bd. XXV, 
1912, p. 1209—1213. 

7) O. Polimanti. Influence des agents physiques, concentration, temperature 
sur l’activitG du ceur embryonnaire des poissons. Journal de physiologie et de 
pathologie gen£rale, 1911, p. 797—808. 

8) E. Verson. Sul vaso pulsante della sericaria. Atti del R. Istituto Veneto 
di Scienze, Lettere ed Arti T. LVII, parte II, anno 1907—1908. Estratto p. 33, 2 tav. 


Fischer, Berichtigungen zu O. Prochnow’s analytischer Methode etc. 145 


eben von mir nach der Formel dieses Gesetzes berechnet wurden. 
Diese meine Versuche machte ich an Larven von Bombyx mori, 
die sich im letzten Lebensalter befanden (Länge 7—7,5 em). Die 
Larven wurden derart ın Maulbeerblätter enthaltende Gefäße ge- 
bracht, dass sie immer Nahrung fanden; diese Gefäße waren doppel- 
wandig, so dass ich mittels eines Stromes von warmem Wasser 
sehr leicht bewirken konnte, dass die Temperatur des inneren Ge- 
fäßes varıierte. Die Larven wurden Temperaturen von 15 —20— 
25--30—35—40°C. ausgesetzt; es wurden 20 Reihen von Versuchen 
ausgeführt und in jeder Reihe wurden 25 Larven beobachtet, die 
nacheinander Temperaturen von 15—40°Ü. ausgesetzt wurden. Die 
Temperatur wurde immer um je 5° ©. erhöht und die Larven ver- 
blieben mindestens 30 Minuten lang in einer jeden von diesen ge- 
steigerten Temperaturen, nämlich so lange, bis die Zahl der bei allen 
Larven beobachteten Pulsschläge gleichmäßig geworden war. 

Die erhaltenen Resultate bringe ich ın Gestalt einer Tabelle: 


Zahl der Pul- Wert von 


sationen des pul- ne Kt+10 Bemerkungen 
sierenden Gefäßes gw=— IX, 


15 34 Indem Maße, wie die Tem- 





Temperatur 
(in Celsiusgraden) 


20 40 1.588 peratur von 15 auf 35° C. 
25 54 I steigt, fressen die Larven 
£ 1,625 E * t 
30 65 1388 mit größerer Gier. 
35 75 1,200 Bei 40° C. fressen die 
40 90 Larven nicht mehr und sind 
Mittelwert 1,450 sehr unruhig. 


Mithin ist dieser Wert von Q10 = 1,45, für das dorsale Gefäß 
der Larve von Bombyx mori bei Temperaturen zwischen 15 und 
40°C. fast gleich dem von Plateau gefundenen und von mir für 
das dorsale Gefäß eines anderen Insektes, des Käfers Oryetes nasicornis, 
für Temperaturen zwischen 24 und 34° C. berechneten (Q 10 = 1,46). 

Wir können also schließen, dass innerhalb gewisser Grenzen 
das Gesetz von Arrhenius und van’t Hoff auch für den Puls- 
rhythmus des dorsalen Gefäßes der Insekten, sowohl im Larven- 
zustand als bei dem erwachsenen Tiere, ın Geltung steht. Zu be- 
merken ist auch der Umstand, dass, wenn die Temperatur (von 
25—40°C.) gesteigert wird, der Wert von Q10 stufenweise allmäh- 
lıch abnimmt, während er zwischen 15 und 30°C. allmählich leicht 
zunimmt. 


Berichtigungen zu O. Prochnow’s analytischer Methode 
bei den Temperaturexperimenten mit Schmetterlingen. 
Von Dr. med. E. Fischer in Zürich. 

In Nummer 5 (20. Mai 1914) dieser Zeitschrift ist von OÖ. Proch- 
now eine kurze Abhandlung: „Die analytische Methode bei 
der Gewinnung der Temperatur-Aberrationen der 

XXXV. 10 


446 Fischer, Berichtigungen zu O. Prochnow’s analytischer Methode etc. 


Schmetterlinge“ gebracht worden. Obgleich darin mit beson- 
derer Hervorhebung eine, wenn auch späte, Bestätigung meiner 
bereits vor nahezu 20 Jahren aufgestellten und durch die experi- 
mentellen Erfolge seit 1898 als richtig erwiesenen Theorie gebracht 
wird, so musste ich doch beim Durchlesen eine Anzahl Rand- 
bemerkungen und Fragezeichen anbringen, deren Bedeutung ich 
hier als Ergänzungen und Berichtigungen des Prochnow’schen 
Aufsatzes darlegen möchte. 

Der Verfasser führt zunächst p. 302/03 an, dass alle Experi- 
mentatoren dieses Gebietes sich bisher der von den ersten auf 
diesem Felde tätigen Forschern veröffentlichten Methoden bedient 
hätten; dieses Verfahren sei, soweit es insbesondere die Bestim- 
mung des kritischen Stadiums betreffe, nicht ausreichend genau und 
damit stehe das in der Regel nicht günstige Ergebnis der Versuche 
in Beziehung, indem sich meist neben einigen aberrativ veränderten 
Stücken eine Menge von Übergangsformen und gar nicht veränderten 
Faltern ergaben. 

In diesen Umständen sieht der Verfasser die Notwendigkeit 
einer verbesserten, analytischen Methode begründet, wie eine solche 
in seinem Sinne zur Bestimmung des kritischen oder sensiblen 
Stadiums der Schmetterlingspuppen bisher noch nicht angewendet 
worden ist. 

Im Anschlusse hieran möchte ich auf eine mir BObW ende er- 
scheinende Unterscheidung aufmerksam machen. 

Seit der Wiederaufnahme der Dorfmeister- Weismann’schen 
Temperaturexperimente war man naturgemäß bestrebt, diese Me- 
thode nach Erfordernis und Möglichkeit zu verbessern. Da aber 
nur mit mäßig von der normalen Temperatur abweichenden Kälte- 
und Wärmegraden experimentiert wurde, indem bei den sogen. 
Kälteexperimenten ca. + 1 bis 4 8° C., bei den Wärmeexperi- 
menten +35 bis + 38° C. in Anwendung kamen, schien jene un- 
gefähre Bestimmung des kritischen Stadiums, nach welchen die 
Puppen ziemlich frisch, d. h. im Alter von mehreren Stunden zur 
Exposition gelangten, annähernd auszureichen. Da von den ge- 
nannten Temperaturen eine Schädigung nicht gerade zu befürchten 
war, wurden die Puppen zumeist auch ziemlich frisch und somit 
noch früh genug, d. h. vor Ablauf des kritischen Stadiums ver- 
wendet. 

Anders verhielt es sich dagegen, als 1895 von mir jene neu- 
artigen Experimente eingeführt wurden, bei denen Temperaturen 
unter dem Nullpunkte (—4 bis —20° C.) mit intermittierenden 
Expositionen zur Einwirkung gebracht wurden, wobei alsdann ganz 
extrem veränderte Formen, sogen. Aberrationen auftraten, die, 
entsprechend der von mir 1894 aufgestellten Hemmungstheorie in 
gleicher Weise auch durch sehr hohe Wärmegrade (+ 40 bis + 45° C.) 


Fischer, Berichtigungen zu O. Prochnow’s ‚ analytischer Methode ete. 147 


erzeugt werden konnten. Bei diesen Frost- und Hitzeexperi- 
menten, auf die sich ©. Prochnow in seinen Ausführungen be- 
zieht, ergaben die Puppen im allgemeinen zunächst nicht besonders 
hohe Prozente an Aberrationen, z. T. starben die Puppen auch ab. 

Vielleicht lag der Grund davon schon im experimentellen Ver- 
fahren selber, z. B. in der Art der Expositionen, da hier, im Gegen- 
satze zu den Kälte- und Wärmeexperimenten, nicht mit 3—4 Wochen 
lange dauernder und konstanter Einwirkung verfahren wurde, sondern 
nur einige Tage hindurch täglich etwa einmal je eine bis einige 
Stunden die Puppen unter dem Nullpunkte gehalten wurden. Immer- 
hin erhielt ich damals 8—-25%, trotz Verwendung einer geringen 
Puppenzahl. 

In der Verfolgung dieser Versuche beobachtete ich auch weiter- 
hin ein starkes Schwanken der Prozente und es galt daher, die 
Ursache dieses Schwankens ausfindig zu machen. Der Natur dieser 
Experimente entsprechend musste zunächst tastend nach dem rich- 
tigen Maße der verschiedenen, dabei einwirkenden Umstände wie 
Temperaturgrad, Dauer und Zahl der Expositionen und der Zwischen- 
pausen gesucht werden. Es hatte sich mir hieraus bald ergeben, 
dass das Schwanken der Prozente in einer Verschiedenheit im 
Alter der verwendeten Puppen gelegen sein müsse und dass somit 
hier eine viel genauere und engere Umgrenzung des sensiblen Sta- 
diums nötig sei, um einerseits die Puppen nicht durch zu frühe Ver- 
wendung zu schädigen, andererseits nicht durch zu späte Exposition 
das kritische Stadium zu verpassen. Eine Anzahl Kontrollversuche 
ergab bald die Richtigkeit dieser Annahme und zeigte, dass bei 
exaktem Experimentieren 60— 80%, und sogar 100 %, Aber- 
rationen bei verschiedenen Puppenserien und verschie- 
denen Arten erreicht werden konnten. Inzwischen war 
Standfuß, der von 1896 an solche Frost- und Hitzeexperimente 
ausführte, zu einem ganz anderen, gegenteiligen Resultate ge- 
langt, indem er trotz Verwendung einer sehr großen Puppenzahl 
stets nur etwa 2%, aberrativer Falter erreichte. Dieses Ergebnis 
verleitete ihn zu dem Fehlschlusse, dass die Entstehung der Aber- 
rationen auf einer rein individuellen Veranlagung (individuellen 
Variabilität) beruhe, die eben nur etwa 2%, der Puppen eigentüm- 
lich sei und durch die extremen Temperaturgrade alsdann ausgelöst 
werden könne. Aus diesem Grunde verblieb Standfuß auch 
weiterhin beim Massenexperiment, in der Meinung, dass nur mit 
der Zahl der Puppen die absolute Zahl der Aberrationen zunehmen 
könne; es ist dieser Irrtum ganz besonders auch in seinem 1897 
vorgenommenen Vererbungsversuche mit urticae- Aberrationen so- 
wohl in der verwendeten Puppenzahl als in dem prozentualen Er- 
gebnis zum Ausdruck gekommen. — In den Standfuß’schen Ver- 
suchen war offenbar gerade die Verwendung großer Puppenmengen, 


10* 


148 Fischer, Berichtigungen zu O. Prochnow’s analytischer Methode etc. 


die der Experimentator für einen besonderen Vorteil und Vorzug 
hielt, die Ursache der geringen Prozente, weil dabei eine aus- 
reichend genaue Bestimmung des sensiblen Stadiums nicht möglich 
war. Auch hatte offenbar die Befürchtung, dass die Puppen die 
tiefen Kälte- und hohen Hitzegrade im frischen Zustande nicht er- 
tragen würden, dazu geführt, sie erst in etwas vorgerücktem Alter 
zu verwenden; damit war aber das sensible Stadium, das bei 

Sommertemperatur ohnehin rasch vorübergeht, bereits abgelaufen 

und die Puppen konnten trotz extremer Temperatureinwirkung 

keine Aberrationen mehr ergeben. 

Gemäß meinen Beobachtungen hatte ich große Puppenserien 
sogar im Anfang nie angewandt und war nach den oben mitge- 
teilten Feststellungen sehr bald zu ganz kleinen Serien übergegangen, 
weil nur so ein richtiges, exaktes Verfahren, insbesondere eine ge- 
naue Bestimmung der kritischen Phase und eine gleichmäßige Be- 
einflussung sämtlicher Puppen durch die Temperatur möglich war. 
Über die Untersuchungen, die ich über diese Frage 1898 anstellte 
und über ıhre sehr günstigen Ergebnisse habe ich ım XIII. Jahr- 
gange der Societas entomologica Nr. 22 und 23 (1899) berichtet 
(„Experimentelle kritische Untersuchungen über das prozentuale 
Auftreten der durch tiefe Kälte erzeugten Vanessen-Aberrationen‘“) 
und ließ 1901 ın Nr. 7 und 8 der gleichen Zeitschrift eine zweite 
Publikation folgen, die sich außer mit der Frage nach den höchst- 
möglichen Prozenten auch mit dem Mindestmaße der Expositions- 
dauer und der Hitzegrade befasste. Als sicher feststehend hatte 
sich damals das Resultat ergeben: 

1. dass es tatsächlich möglich ist, sämtliche Puppen zur An- 
nahme des aberrativen Kleides zu zwingen, also 100%, zu er- 
reichen; 

2. dass es eine nur einigen wenigen Individuen zukommende 

aberrative Schwankungsfähigkeit nicht gibt, sondern dass diese 

Anlage jeder Puppe eigen ist. 

3. dass somit geringe Prozente nicht auf individueller Disposition 
der Puppen, sondern in einem experimentellen Fehler 
beruhen müssen und 
4. dass sämtliche Puppen bei genau gleicher experimenteller 

Behandlung auch durchweg in gleicher Weise sich verändern, 

also Aberrationen ergeben, die sich in der gleichen Ent- 

wickelungsrichtung bewegen. 

Ein Vergleich dieser vor 15 Jahren sicher gestellten Tatsachen 
mit den neulich von ©. Prochnow bekannt gegebenen lässt eine 
bemerkenswerte Übereinstimmung erkennen. 

Was nun die zur Bestimmung des kritischen Stadiums 
von mir seinerzeit gewählte Methode betrifft, so hatte ich sie nach 
zwei, sich gegenseitig ergänzenden Richtungen hin vorgenommen, 


Fischer, Berichtigungen zu O. Prochnow’s analytischer Methode etc. 149 


nach einem bestimmten Grade der Abnahme des Haut- 
glanzes und, nach dem Härtegrad der Chitinhaut der Puppe. 
Ich hatte auf diesem Wege feststellen können, dass die Puppe dann 
eine genügende Widerstandsfähigkeit gegen die extreme Temperatur 
und zugleich eine noch ausreichende Sensibilität für dieselbe be- 
sitzt, wenn der feuchte Hautglanz auf den Flügelscheiden eben ver- 
schwunden, auf der dazwischen gelegenen Rüsselscheide aber noch 
vorhanden ist. 

Da diese Abnahme des Glanzes natürlich mit einer zunehmen- 
den Erhärtung der Chitinhaut einhergeht, so zog ich auch den 
Härtegrad der Hinterleibsringe, also den Grad der Nachgiebigkeit 
gegen einen leichten, mit stumpfer, schräg gestellter Nadel ausge- 
übten Druck zur Beurteilung heran. 

Die positiven Erfolge der nach dieser Bestimmung vorge- 
nommenen Frostexperimente ergeben sodann, dass diese zwei Zu- 
stände, d.h. ein bestimmter Grad der Härte und des Glanzverlustes 
mit dem Höhepunkt des sensiblen Stadiums und der ausreichenden 
Resistenz gegen Frostgrade zeitlich zusammenfallen. In jenen 
beiden Zuständen der Chitinhaut war somit ein Indikator für das 
sensible Stadium gefunden. 

Es muss nun allerdings gesagt werden, dass die hier erwähnte 
Art der Bestimmung ein großes Maß persönlicher Erfahrung und 
Übung voraussetzt und dass bei gewissen Arten, wie z. B. denen 
der Gattung Argynnis, die Beurteilung des feuchten Hautglanzes 
schwieriger ist, weil diese überhaupt nie eine matte Oberfläche er- 
halten, sondern mit dem Erhärten einen lackähnlichen Glanz an- 
nehmen, während andererseits der Härtegrad der Ohitinhaut bei 
verschiedenen Arten der Gattung Apatura, Limenitis u. a. ein ver- 
schiedener ist. 

Demgegenüber besitzt nun die Prochnow’sche Methode den 
Vorteil, dass sie diese subjektive Erfahrung, die bei meiner Methode 
eine nicht geringe Rolle spielen wird, durch ein rein physikalisches 
Messverfahren ersetzt. 

Aber dieser Vorzug wird z. T. dadurch wieder vermindert, 
dass nicht nur für jeden Temperaturgrad innerhalb der Tagestempe- 
ratur von etwa 4 17° bis + 25° C., sondern auch für jede Puppen- 
art eine besondere, sehr umständliche Bestimmung der Entwicke- 
lungsgeschwindigkeit nötig ist, wie sie Prochnow p. 306 in einer 
Tabelle für vier Vanessen bereits aufgestellt hat und dass ferner, 
nachdem diese Maße ermittelt sind, der Experimentator genötigt 
ist, beständig auf den Zeitpunkt, in dem sich jede Raupe verpuppt, 
auf die jeweilen herrschende Temperatur, in der sich die Puppe 
vor Beginn des Experimentes befindet un auf den Termin, der 
seit der erfolgten Verpuppung verstrichen ist, Obacht zu geben, 
wenn er das Richtige treffen will, während die Bestimmung des 


150 Fischer, Berichtigungen zu OÖ. Prochnow’s analytischer Methode ete. 


kritischen Stadiums nach meiner Methode von diesen drei Faktoren 
in weitem Maße unabhängig und darum insofern einfacher ist; auch 
gestattet sie, sofern es Zeit und Umstände erfordern, und z.B. die 
erste Exposition verschoben oder Puppen von verschiedenem Alter 
miteinander exponiert werden sollen, durch Verbringen der Puppen 
ın kühlere oder höhere Temperatur den Eintritt und Ablauf des 
kritischen Stadiums zu verzögern bezw. zu beschleunigen, während 
ein solcher Temperaturwechsel bei der analytischen Methode Proch- 
now’s eine umständliche rechnerische Kontrolle erfordern würde. 

Aus den beiden vorausgegangenen Abschnitten ergibt sich so- 
mit, dass das von mir angewandte Verfahren mit seinem Endeffekt 
von 80—100% Aberrationen wohl ebenso leistungsfähig ist wie das 
vonO.Prochnow angegebene und dass die dabei befolgte Methode 
zur möglichst sicheren Umgrenzung des sensiblen Stadiums auch 
als eine wissenschaftliche bezeichnet werden darf. 

Wenn übrigens von solch hohen Prozenten die Rede ist, so 
bezieht sich eine solche Angabe zunächst immer auf die Arten der 
Gattung Vanessa, die von allen bekannten wohl am leichtesten zur 
Aberrationsbildung neigen und mit denen darum von jeher und 
vorherrschend experimentiert zu werden pflegt, und auch die Proch- 
now’schen Angaben beziehen sich, wie aus dem Text seiner Ab- 
handlung zu entnehmen ist, nur auf die Vanessen. Entsprechend 
verhalten sich nach meinen Beobachtungen auch die nächstver- 
wandten Gattungen Polygonia und Pyrameis u.a. Aber hohe und 
höchste Prozente bei allen diesen Gattungen würden meines Er- 
achtens noch nicht zu der Annahme berechtigen, dass die analytische 
Methode auch bei den Arten fernerstehender Gattungen gleich 
gute Resultate ergeben müsse. Abgesehen davon, dass es Arten 
geben kann, bei denen eine sensible Phase wahrscheinlich überhaupt 
nicht vorkommt, bringen auch wirklich „reaktionsfähige“ Arten dem 
Temperaturexperiment andere Eigenschaften entgegen als die Va- 
nessen. Der Unterschied scheint durch ihr Vorleben ım Ei- und 
Raupenstadium bedingt zu sein; denn da die Vanessen ım Ei- und 
Raupenstadium gesellschaftlich, d. h. nesterweise leben, sich also 
unter annähernd gleichen äußeren Einflüssen und zwar zumeist in 
der warmen Jahreszeit entwickeln, bringen auch ihre Puppen durch- 
weg gleiche Beanlagungen mit, wenn sie dem Experiment unter- 
worfen werden und verändern sich, falls für wirklich (nicht bloß 
scheinbar) gleiche Beeinflussung aller Puppen in jeder Hinsicht ge- 
sorgt wird, auch ın gleicher Weise, d. h. es treten sehr hohe Pro- 
zente ganz gleichsinnig und sogar gleich stark veränderter Aber- 
ratıonen auf. So habe ich wiederholt Serien von 50—100 Puppen 
von Vanessa urticae probeweise ım Frost exponiert und aus sämt- 
lichen Puppen stark veränderte Aberrationen von einer fast er- 
müdenden Gleichförmigkeit erhalten. 


Fischer, Berichtigungen zu O. Prochnow’s analytischer Methode etc. 151 


Abweichend davon verhalten sich schon die Argynnis-Arten 
und zwar offenbar zufolge einer anderen Lebensweise; sie über- 
wintern nicht wie die Vanessen im Falterstadium, sondern als 
ganz junge oder halb erwachsene Raupen, leben ganz zerstreut 
und sind individuell verschiedenen klimatischen Einflüssen ausge- 
setzt. Standfuß hat auf Grund negativer Resultate angenommen, 
dass die Argynnis-Arten und überhaupt alle als Raupen über- 
winternden Arten nur durch Hitze, aber niemals durch Frost- 
grade Aberrationen ergeben. Diese Annahme ist indessen als 
unrichtig erwiesen, denn auch die Argynnis-Arten ergeben z. B. 
beim Frostexperiment ebenso gut und ebenso hochgradig veränderte 
Aberrationen wie die Vanessen, ohne dass etwa stärkere Frostgrade 
nötig wären, aber man muss entsprechend ihrer anderen Konsti- 
tution die Frosteinwirkung etwas anders gestalten. 

Einen ganz auffallenden Gegensatz zu allen diesen genannten 
Arten bilden nun aber jene, die (wenigstens in einer Generation) 
im Puppenstadium überwintern und sehr wahrscheinlich wird für 
diese die Prochnow’sche Methode nicht ohne weiteres eine An- 
wendung finden können, denn nach bisher gemachten Erfahrungen 
tritt bei diesen das sensible Stadium nur bei den Puppen der 
Sommergeneration im Anfange, bei den Puppen der Wintergene- 
ration dagegen erst am Ende der Puppenentwickelung auf und 
nach der nach erfolgtem Experiment festgestellten, sehr verschie- 
denen Dauer bis zum Ausschlüpfen des Falters und anderweitigem 
Verhalten muss man schließen, dass entweder die sensible Phase 
je nach Individuum in verschiedenen Altersstadien eintritt, oder 
aber, dass es im Leben dieser Puppen mehr als eine solche gibt. 

Als eine weitere Vereinfachung seiner Methode führt O. Proch- 
now an, dass er nur eine einzige Exposition benötige, um 
selbst die vom Typus am meisten entfernten Aberrationen zu er- 
zielen. Wenn man sich den Gang der Flügelentwickelung ver- 
gegenwärtigt, so kann schon theoretisch abgeleitet werden, dass 
eine einzige Exposition genügt und nicht nur bei Frost-, sondern 
namentlich bei Hitzeexperimenten sind schon vor Jahren von 
C. Frings, mir und anderen sehr kurze einmalige Expositionen 
angewendet und dabei stark veränderte Aberrationen erreicht worden. 
Ich ziehe es aber doch immer vor, 2—3 (selten 4) Expositionen 
vorzunehmen, weil so eine gleichmäßigere und wohl auch kräftigere 
Farbengebung möglich ist. Die Hinter- und Vorderflügel entwickeln 
sıch nämlich, wie zuerst Bemmelen nachgewiesen und Standfuß 
zur Erklärung der oft nicht gleichzeitigen Veränderung derselben 
herangezogen hat, nicht zur gleichen Zeit; die Hinterflügel färben 
sich früher als die Vorderflügel und Kontrollversuche mit extremen 
Temperaturen haben ergeben, dass auch das kritische Stadium der 
Hinterflügel früher eintritt; aber noch bevor es abgelaufen ist, be- 


159 Fischer, Berichtigungen zu O. Prochnow’s analytischer Methode etc. 


ginnt auch dasjenige der Vorderflügel; sie fallen also in einem 
gewissen Zeitpunkte teilweise zusammen, und wird die Puppe in 
diesem Zeitpunkte exponiert, so können Hinter- und Vorderflügel 
gleichzeitig und ausreichend durch diese einmalige Einwirkung ver- 
ändert werden. Aber es will mir scheinen, dass in diesem Falle 
die beiden sensiblen Zustände einander nicht ganz gleichwertig seien 
und wahrscheinlich liegt darın der Grund, weshalb bei den Proch- 
now’schen Versuchen eine „nicht unbedeutende Variabilität von 
störendem Einfluss“ war und nicht in allen Versuchen ein voll- 
prozentiges Resultat erreicht wurde; denn wenn man die sensibeln 
Stadien der Hinter- und Vorderflügel in ıhrem An- und Abschwellen 
als zwei wellenförmige Kurven dargestellt denkt, so würde der ab- 
steigende Schenkel der ersteren Kurve (also für die Hinterflügel) 
etwa in halber Höhe von dem eben ansteigenden der zweiten (also 
für die Vorderflügel) geschnitten werden. Absteigender und auf- 
steigender Schenkel der beiden Kurven werden aber, auf die phy- 
siologischen Prozesse der entsprechenden Flügelpaare bezogen, nicht 
gleichwertig sein; die Hinterflügel werden also von der extremen 
Temperatur in einer etwas anderen Verfassung getroffen als die 
Vorderflügel. Anders verhält es sich aber, wenn zwei Expositionen 
vorgenommen werden, von denen die erste im Höhepunkt des krı- 
tischen Stadiums der Hinterflügel (im Gipfel der ersten Kurve), die 
zweite in dem der Vorderflügel erfolgt, die beide einander eher 
gleichwertig sınd als in dem vorhin angeführten Falle. Eine dritte 
und eventuell vierte Exposition kann dann dazu dienen, den bereits 
erreichten Effekt zu festigen oder zu verstärken. — 

Als Ergebnis seiner Prüfungen hat Prochnow beobachtet, 
dass jede Puppe der untersuchten Arten eine Aberration ergeben 
kann und dass alle Aberrationen einer Art, die aus dem gleichen 
Experiment hervorgehen, in der gleichen Richtung vom Typus 
abweichen, und er schließt daraus: 

1. dass jede Puppe die Anlage zur Aberration in sich trage; 

2. dass daher die Aberrativität eine normale (nicht pathologische) 
Eigenschaft jeder Puppe sei und 

3. dass die Aberrationen als Rückschläge (Atavismen) aufge- 
fasst werden müssen. 

Jede dieser Beobachtungen ' und Schlussfolgerungen ist eine 
volle und fast wörtliche Bestätigung jener Lehrsätze, die ich in 
früheren Publikationen und auch im Spuler’schen Werke („Die 
Schmetterlinge Europas“) aufgestellt habe. Nur die Art, wie 
Prochnow seine Auffassung der Aberrationen als Rückschläge 
begründet, kann ich nicht für richtig halten. 

Dass die Aberrationen nicht bloß individuelle Farbenspiele 
oder gar krankhafte Gebilde sind, ist experimentell und durch ge- 
wisse Normalformen unserer Fauna erwiesen. Ob sie aber Formen 


Schneider, Die rechnenden Pferde. 453 


einer fernen Vergangenheit oder aber der Zukunft sind, ist nicht 
leicht zu bestimmen; vieles spricht immerhin dafür, dass sie pro- 
gressive oder Zukunftsformen sein können. Aber vielleicht sind 
unsere Ansichten über Rückschlag und Zukunftsformen überhaupt 
nicht ganz richtig und bedürfen einer Neugestaltung. Prochnow 
macht wohl selber eine entsprechende Andeutung, wenn er p. 303 
von einem „wenigstens partiell atavistischen Charakter“ spricht. 
Aus dem Umstande aber, dass alle Puppen in der gleichen Rich- 
tung aberrieren, folgt, wie mir scheint, durchaus noch nicht, dass 
die Aberrationen Rückschläge sein müssten. Mit gleicher Be- 
rechtigung könnte man sie auf jene Tatsache hin als reine Re- 
aktionsprodukte im Sinne von Neubildungen auffassen, denn da 
z. B. unter normalen Verhältnissen sämtliche Puppen einer Vanessen- 
art Falter ergeben, die einander zum Verwechseln gleichen, so 
müssen solche Puppen auch gleiche Eigenschaften (ohne individuelle 
Neigung zu Abirrungen) in sich tragen; folglich werden solche 
Puppen auf gleiche experimentelle Behandlung, z. B. mit Frost von 
— 12° C., auch in gleicher Weise reagieren, also in gleicher Rich- 
tung vom Normaltypus abweichen, so dass man diesen Vorgang 
bildlich etwa durch den mathematischen Lehrsatz ausdrücken könnte: 
Gleiches zu Gleichem addiert, gibt Gleiches. Daran wird nichts 
Wesentliches geändert, wenn man die Wirkung der Frost- und 
Hitzegrade als eine die Entwickelung hemmende auffasst. 
Prochnow stellt zwar p. 307 ın Aussicht, dass der Nachweis 
des Rückschlages durch früheren oder späteren Beginn der Tempe- 
ratureinwirkung möglich sein könnte, weil auf diese Weise ein 
älteres bezw. jüngeres phyletisches Zeichnungsstadium bei der onto- 
genetischen Wiederholung festgehalten werden könnte. Es ist 
jedoch wahrscheinlicher, dass hierbei nicht bloß die frühere oder 
spätere Exposition, sondern die Stärke und Dauer der Frost- 
oder Hitzegrade den Ausschlag geben und darum der von Proch- 
now vermutete Entscheid auf diesem Wege nicht möglich ist. 


Die rechnenden Pferde. 
Erwiderung auf ©. Schröder’s Kritik. 
Von K. C. Schneider, Wien. 

Erst vor kurzem erhielt ich — ich wohne, da seit 2 Jahren 
beurlaubt, nicht in Wien — Kenntnis von einem Artikel ©. Schrö- 
der’s, Berlin, im Biolog. Gentralblatt (Nr. 9 des XXXIV. Bandes), 
der dıe rechnenden Pferde behandelt und sich vor allem gegen 
meine in Nr. 3 des XXXIII. Bandes entwickelte Auffassung über 
die Leistungen der Elberfelder Pferde wendet. Anderweitige Ar- 
beiten hielten mich ab, den Angriff sogleich zu beantworten; auch 
kann ich ihm keinen besonderen Wert beilegen und antworte auch 


154 Schneider, Die rechnenden Pferde. 


jetzt nur, weil Schröder mir Ansichten unterschiebt, die ich nicht 
geäußert habe. Der Angriff ıst typisch für die vulgäre Art und 
Weise, wıe man Angaben von Gegnern behandelt. Schröder 
kann meinen Artikel nur ganz flüchtig gelesen haben, jedenfalls 
hat er ihn nicht verstanden; die Polemik wäre andernfalls ganz 
überflüssig gewesen. 

Meine Ansicht lautete dahin, dass die Rechenleistungen der 
Krall’schen Pferde nicht dafür beweisend sind, dass sich die 
Menschen aus den Tieren entwickelt haben. Denn die mathematische 
Veranlagung ist eine apriorische und wird nicht durch Erfahrung 
erworben; auch haben die Pferde nicht das geringste Bestreben, 
sie durch Übung zu vervollkommnen. Nun wendet Schröder mir 
zunächst ein, dass die Pferde ja nicht nur rechnen, sondern auch 
reden sollen. Als wenn ich das nicht selbst gewusst und auf p. 178 
erwähnt hätte! Aber dass Tiere reden können, das habe ich be- 
reits früher anerkannt und in dieser Hinsicht konnten mich die 
Pferde nichts Neues lehren. Die mathematische Veranlagung aber 
bei Tieren hatte ıch bestritten, weil Mathematik mir, auf Grund 
der Lektüre logistischer Schriften, echt logischer Natur zu sein 
schien, was ich jetzt nicht mehr annehme. Ich bestreite nicht ım 
geringsten, dass man die Mathematik weitgehend logisch vertiefen 
kann — sind doch die Metageometrien derart entstanden —, aber 
es kann meiner Meinung nach nicht dein geringsten Zweifel unter- 
liegen, dass es auch einen Formen- und Zahlensinn gibt, die im- 
stande sınd, schwierige Aufgaben einfach durch Anschauung zu 
lösen. Nur so verstehen wir die Fälle abnormen mathematischen 
Talents bei Kindern und Idioten und — eben auch bei den Pferden! 
Denn dass die wirklich rechnen, das ist durch Schröder’s Be- 
hauptungen nicht ım geringsten widerlegt. 

Dies zur Einleitung. Wer mich widerlegen will, der muss vor 
allem zeigen, dass die Mathematik empirischer, nicht apriorischer 
Natur ist. Schröder macht es sich bequem. Er unterschiebt mir 
als Gewährsmann Schopenhauer und da kommt er leicht zurecht. 
Ich habe mich aber in dieser Hinsicht gar nicht auf Schopen- 
hauer berufen, denn dieser verstand von Mathematik vielleicht 
sogar noch weniger als ich. Ich berief mich (p. 172) auf Cou- 
turat, Russel und Royce, also auf echte Mathematiker, und hätte 
auch Hilbert, Voss, Dedekind, Cantor und viele andere 
zitieren können, wenn ich das für nötig gehalten hätte. Es dürfte 
schwer sein, diese Denker zu widerlegen, jedenfalls genügt mir 
ihre Autorität gegenüber Schröder, dessen Einwände herzlich 
schwach sind. So sagt er p. 598: „Schon die Tatsache, welche 
bekannt genug ist, dass verhältnismäßig nur wenige Menschen in 
das Verständnis dieser Wissenschaften (nämlich der höheren Ana- 
lysıs und deren Anwendung auf die Geometrie) einzudringen ver- 


Schneider, Die rechnenden Pferde. 155 


mögen, hätte verhindern sollen, in der Mathematik ein apriorisches 
Vermögen zu sehen.“ Ich folgere aus dieser Tatsache gerade das 
Gegenteil von Schröder. Mathematik setzt eben ein angeborenes 
Spezialtalent voraus, eines, von dem der Mathematiker Pasch ın 
Gießen sagen konnte, es müsste der menschlichen Natur ım Grund 
zuwider laufen (zitiert aus Pringsheim’s Artikel: Wert und. Un- 
wert der Mathematik, in Zukunft Bd. 12, Nr. 34, p. 308). Im Reden 
bringen wir es alle durch Übung weit, im Rechnen versagen offen- 
kundig sehr viele rasch; wie kann man da folgern, es wäre Mathe- 
matik aus dem Empirischen abzuleiten? — Übrigens kenne ich 
Mach’s und anderer Autoren Gründe für eine empiristische Theorie 
der Mathematik, finde durch sie aber die Argumente der oben 
zitierten Denker nicht entwertet. 

Schopenhauer habe ich nicht ın Hinsicht auf die Apriorität 
der Mathematik zitiert, sondern in Hinsicht auf eine besondere an- 
schauliche Evidenz ın dieser. Er redet von einer ratio essendi in 
der Geometrie und Arıthmetik, die er mit Nachdruck von der ratio 
cognoscendi im Logischen unterscheidet und aus der räumlichen 
und zeitlichen Form des Bewusstseins — mit Kant — ableitet. 
Die ratio essendi wird in der Geometrie selbst von Couturat an- 
erkannt und in der Arıthmetik vertritt sie z. B. Voss, der da 
sagt: Es handelt sich ın der Mathematik um die extensiven 
Größen im Sinne von Kant, und der die Ariıthmetik direkt als 

„Wissenschaft von der Zahl“ von der Logik unterscheidet (siehe: 
Über das Wesen der Mathematik, 2. Aufl., 1913). Bei Natorp 
(Die logischen Grundlagen der Naturwissenschaften) und bei Poin- 
car& (Wissenschaft und Methode) findet sich entsprechendes. 
Überall wird anerkannt, dass die Logik zwar für die Entwickelung 
der Mathematik höchste Bedeutung hat, dass dieser aber auch 
eigene Bestandteile zukommen, die sie von der Logik zu unter- 
scheiden gestatten. Eben diese Besonderheiten sind es, an die wir 
anknüpfen müssen, um das Pferdethema zu bewältigen. Das ist 
aber ein Punkt, der mit der Aprioritätsfrage gar nichts zu tun hat. 
Schröder muss meinen Artikel sehr flüchtig gelesen haben, dass 
er mir betreffs Schopenhauer so Inn annes nachsagen konnte. 

Über die Komplexität der Mathematik ea. ich hier ein 
kurzes Wort einflechten. Wir haben an ihr vier Komponenten zu 
unterscheiden. Die erste und sozusagen natürliche Komponente 
ist die Anschaulichkeit der Mathematik. Insofern es sich in ihr 
um extensive Größen, also um Formen (in der Geometrie) und um 
Zahlen (in der Arithmetik) handelt, herrscht Anschaulichkeit in ihr, 
über deren Grenzen sich nicht ohne weiteres bestimmtes aussagen 
lässt. Wenn Schopenhauer meint, dass unsere unmittelbare An- 
schauung der Zahlen nicht weiter als etwa bis Zehn reicht, so 
scheint mir das ebenso unzulänglich, wie wenn Georg Müller, 


156 Schneider, Die rechnenden Pferde. 


Göttingen, in der Umschau (1912) meint, dass die hervorragenden 
rechnerischen Leistungen eines Mathematikers aus dem bloßen 
sinnlichen visuellen Gedächtnis nicht zu erklären sind. Anschauung 
der Zahlen ist etwas ganz anderes als visuelles Gedächtnis und in 
ihrem Gegebensein vermutlich größten Differenzen unterworfen. 


Man untersuche die abnormen Fälle — aber nicht bei methodisch 
vorgehenden Mathematikern — genauer und wird jedenfalls ganz 
unerwartete Aufschlüsse über einen „Zahlensinn“ erhalten. — Die 


zweite Komponente an der Mathematik ist die Logik. Diese hat 
es ım Grunde gar nicht mit Zahlen und Formen zu tun, sondern 
mit den Operationen des Bewusstseins dabei, für die sie grund- 
legende Gesetze als Normen, die auf jeden Fall zu befolgen sind, 
aufstellt. Sie ıst neben dem anschaulichen Teil der gesetzgeberische 
in der Mathematik. -— Die dritte Komponente bedeutet die wissen- 
schaftliche Erforschung des Gegenstandes, die einerseits als Me- 
thodenlehre zu charakterisieren ist, anderseits die Gründe, aus denen 
heraus Mathematik entstanden ist, untersucht. — Die vierte Kom- 
ponente endlich wäre die Anwendung der Zahlen auf die Erfahrung, 
worüber weiteres nicht ausgesagt zu werden braucht. 

Selbstverständlich macht es zurzeit große Schwierigkeiten, die 
einzelnen Komponenten scharf zu unterscheiden, was aber an ihrer 
Existenz zu zweifeln nicht gestattet. Es ist ein wahres Glück, dass 
wir die Elberfelder Pferde haben, die zur genaueren Untersuchung 
des Gebietes drängen. Krall hat in dieser Hinsicht große indirekte 
Verdienste, die sich allmählich mehr und mehr werden bemerkbar 
machen. 

Nun weiter zum Thema. Schröder benutzt die Erfahrungen 
an Kindern, um Krall zu widerlegen. Das ist eine ganz unzuläng- 
liche Beweisführung. Jede neue Erfahrung kann unser Wissen in 
irgendeiner Hinsicht sprengen; weil Menschen fast durchweg nur 
langsam ım Rechnen vordringen, kann doch bei Pferden ein be- 
sonderer Zahlensinn gegeben sein, der sie spielend vorwärts führt. 
Und Kinder sollen „denkend“ rechnen lernen! Das heisst gerade: 
wenn sie einen angeborenen Zahlensinn haben, so dürfen sie ıhn 
doch nicht anwenden, weil sie beim Rechnen zugleich Denken lernen 
sollen. Man hindert sie an dem, was eigentlich das Natürlichste 
ist, und schließt dann auf geringe Veranlagung! Ich habe gar nichts 
gegen die heutige Lehrmethode einzuwenden, denn Denken ist mir 
auch wichtiger als Rechnen. Ferner habe ıch gar nichts dagegen 
gesagt, dass das Rechnen, so wie es in den Schulen betrieben wird, 
ein vorzügliches Mittel der menschlichen Geistesbildung sei, wie 
Schröder auf p. 601 anzudeuten sucht. Ich habe weiterhin nicht 
im geringsten behauptet, dass das Rechnen die Mathematik er- 
schöpfen soll, wie es auf p. 598 heisst. So schlecht ich ın Mathe- 
matik unterrichtet bin, so weiß ich doch auch etwas von höherer 


re 


Schneider, Die rechnenden Pferde. 157 


Analysis und habe den höchsten Respekt vor ihr. Aber wer be- 
weist, dass Differentiationen und Integrationen nur mit Hilfe der 
Logik möglich sind? Und sind etwa die Menschen so rasch zur 
höheren Analysis gekommen? Von der Funktionenlehre, vom 
Koordinatenbegriff, vom Infinitesimal und Integral hatten die Alten 
noch keine Ahnung und waren doch zweifellos tüchtige Mathe- 
matiker. Ich weiß eigentlich nicht, was mir Schröder mit seinen 
diesbezüglichen Ausführungen am Zeuge flicken will. Was ihm 
gerade einfällt und für seinen Begriff passt, daraus macht er eine 
Waffe gegen mich, magihre Anwendung an sich auch ganz sinnlos sein. 

Vor allem freut ihn, was ich über das eventuelle Zählen der 
Bienen bei ıhren Arbeiten, über das Rechnen des Hundes beim 
Sprunge sage, und er benutzt es, mich durch einen Witz abzu- 
führen. Ich fühle mich dadurch nicht geschlagen, denn meiner 
Überzeugung nach spielen sich in der Psyche eines Insekts und 
eines Säugers mehr Prozesse ab als wir jetzt ahnen. Ohne dass 
sie deshalb dächten! Schröder meint (p. 603): Die Aufnahme von 
Einheiten im Rhythmus und das Zählen sind grundverschiedene 
Dinge. Woher weiß er das? Ich möchte doch wissen, wie er einen 
Rhythmus beim Mangel einer formativen (numerativen) Komponente 
des Bewusstseins überhaupt feststellen könnte. Das Messen und 
Zählen spielt beim kleinen Kind schon eine Rolle, wenn es erfasst, 
dass die Umgebung ıhm nicht direkt am Auge klebt, sondern 
distanziert ist; wenn es überhaupt eine Vielheit unterscheidet. 
Logisch bleibt das ganz unbewusst und darum behaupten dann die 
Schulmeister, dass Kindern das Rechnen so schwer falle, wenn sie 
es denkend meistern sollen; aber ın der Anschaulichkeit kann vieles 
bereits bewältigt sein, bevor der Verstand sich ihm zuwendet, es 
entwertet und neue Grundlagen schafft. Warum stellte denn ein 
Helmholtz die Lehre von den unbewussten Schlüssen zur Er- 
klärung der Raumanschauung auf? Weil er zugeben musste, dass 
unbewusst — ich wiederhole nochmals: denkend unbewusst! — 
Hervorragendes geleistet wird bei Abschätzung einer Entfernung. 
Darum ist die mathematische Befähigung eines Hundes nicht ohne 
weiteres abzulehnen, von den Bienen ganz zu geschweigen. Es ist 
billig, Witze darüber zu reißen; besser wäre ein wenig Vertiefung 
in die Probleme. 

Wie wenig überhaupt die Logik bei der Behandlung des Pferde- 
problems strapaziert wird, das zeigt folgende Bemerkung Schrö- 
der’s. Er betont, dass neuerdings viel Stimmen über den offen- 
kundigen Rückgang der Pferde in Hinsicht auf ihre sogen. Leistungen 
berichten, und findet darin einen Gegenbeweis gegen deren Können. 
„Während der Unterricht ... den Menschen zu fortschreitender 
Vertiefung und höherer Leistung auf geistigem Gebiete, immer mehr 
innerem Zwange folgend, treibt, ist das Verhalten der Pferde nie 


158 Schneider, Die rechnenden Pferde. 


über die Mohrrübendressur hinausgegangen“ (p. 609—610). Aber 
wie kann denn der Rückgang der Pferde etwas beweisen, wenn 
man ihnen eigene Fähigkeiten bestreitet und behauptet, dass ihre 
Leistungen nur das Können Krall’s spiegeln? Dann würde höch- 
stens folgern, dass der Lehrer an Fähigkeit zurückgegangen ist, was 
eben an den Tieren zum Ausdruck käme. Nicht sie versagen, 
sondern der, der sich mit ıhnen abgibt. Mir ist gerade dieser 
Rückgang Beweis, dass die Tiere selbständig gearbeitet haben. 
Dass weder unbewusste noch bewusste Hilfen sie nötigten, noch 
das Gedächtnis, das Schröder auch sehr betont, für ıhr Können 
in Betracht kommt. Warum sollten denn Krall und andere Ex- 
perimentatoren nicht mehr so gut rechnen wie früher? Warum 
sollte das Gedächtnis beı jungen Tieren so rasch nachlassen? Der 
eigentliche Grund liegt auf der Hand: das Können der Pferde war 
ihnen, wenn auch möglich, doch nicht naturgemäß, und deshalb 
wurde es allmählich wieder von den natürlichen Trieben übertönt, 
nachdem es eine Zeitlang künstlich aufrecht erhalten worden war. 

Mir ist der ganze Angriff Schröder’s gegen mich eigentlich 
unbegreiflich. Er kann mir nicht den geringsten Widerspruch 
nachweisen und steht ım wesentlichen ganz auf meinem Grund und 
Boden, nämlich auf der Anschauung, dass die Befunde an den 
Pferden für die Entwickelungslehre nichts beweisen. P. 608 sagt 
er: Einem solchen Ansteigen (d. h. einer progressiven Evolution) 
würden die Leistungen der Pferde, wenn sie auf ihrem eigenen 
Denkvermögen beruhten, ganz bestimmt widersprechen.“ Da möchte 
ich schier fragen: Wozu der Lärm? Um so mehr als ich im Grunde 
ja nur darlege, wie man sich die Leistungen der Pferde zu er- 
klären vermag, vorausgesetzt, dass sie wirklich gegeben sind! Wohl 
wahr, ich nehme an, dass sıe wirklich gegeben sınd, da ich sie mir 
eben zu erklären vermag. Aber selbst festgestellt habe ich doch 
gar nichts und dass Krall nicht sich hätte ırren können, kann ich 
auch nicht behaupten. Selbst wenn er sich geirrt hat, kann das 
meine Theorie nicht berühren. Die Möglichkeit, dass höhere Tiere 
rechnen können, würde ıch auch dann noch vertreten, denn an den 
Grundlagen meiner Theorie kann ich nicht zweifeln, weil sie logisch 
entwickelt sind. Ich habe es schon in meinem Artikel betont und 
betone es nochmals, dass ohne grundlegende Hypothesen Wissen- 
schaft überhaupt nicht möglich ist und halte eine Hypothese für 
viel wichtiger als eine Tatsache; denn Tatsachen kann man immer 
finden, Hypothesen liegen aber nicht auf der Straße herum. Und 
hat etwa Schröder nicht eine grundlegende Hypothese, von der 
er bei seinen Erörterungen ausgeht? Auch nach ihm, wie nach 
mir, sollen die Pferde nıcht denken können — wenigstens spricht 
das deutlich aus jeder Zeile seines Artikels, wenn er auch am 
Schlusse sagt: seine Weltanschauung würde an „denkenden“ Tieren 


Schneider, Die rechnenden Pferde. 159 


keinen Schiffbruch leiden. So ist es denn nur die Beurteilung der 
Mathematik, die uns eigentlich trennt. Aber auch da sind die Diffe- 
renzen überbrückbar, ja sie sind vielleicht gar nicht vorhanden, 
sondern beruhen nur auf Missverständnissen. Wenn Schröder 
sich ein wenig mehr Mühe gibt, mich nicht misszuverstehen, so 
werden wir uns ganz gut zusammenfinden. 

Zum Schlusse möchte ich einen Wunsch aussprechen. Man 
möge sich doch nicht solche Blößen geben als es die Art und Weise, 
wie man über Krall’s Vorgehen redet, bedeutet. Ist es nicht 
geradezu empörend, wie dieser doch auf jeden Fall verdienstvolle 
Mann, dessen Glaubwürdigkeit alle, die ıhn kennen, betonen, von 
seinen Gegnern behandelt wird? Sind seine Methoden nicht ein- 
wandfrei, so prüfe man die eigenen, ob sie besser sind. Wie 
Schröder vorgeht, das habe ıch oben charakterisiert; ich finde 
nicht, dass seine logische Behandlung der Themen einwandfrei sei. 
Er wirft unter anderem Krall vor, dass er mit seinen Untersuchungen 
eine vorhandene Anschauung beweisen wollte und findet darin den 
gänzlichen Mangel an wissenschaftlich prüfendem Zweifel beı ihm 
(p. 595—596). Ja, ıst das nicht geradezu ein Nonsens, den er da 
ausspricht? Sind nicht die wahrhaft großen bewundernswerten 
Entdeckungen, z. B. eines Hertz, Paul Ehrlich, Arrhenius u.a. 
allein durch vorweggegebene Hypothesen, die in Experimenten veri- 
fiziert wurden, möglich geworden? Wie ich schon sagte: Hypo- 
thesen sind wichtiger als Tatsachen, denn sie führen unbedingt zu 
Tatsachen, während der umgekehrte Weg nur ein zufälliger ist. 
Wieviel Kritik bei solchen Verifikationen aufgewendet wird, das 
kann der Fernstehende oft nur sehr schwer ermessen. 

Wie stand es bei Abfassung des berüchtigten Protestes gegen 
Krall, den so viel Zoologen unterschrieben? Gingen die etwa 
nicht von einer vorgefassten Meinung aus? Ich anerkenne zwar, 
dass jeder Standpunkt ein Recht auf Selbstverteidigung hat, denn 
in gewisser Hinsicht ist er sicher unangreifbar; aber es wirkt depri- 
mierend, wenn nun ein Gegner gleichsam vogelfrei erklärt und über 
ihn ein Gift ausgespritzt wird, das nur den also Vorgehenden 
schändet. Der Protest war wahrhaftig kein Ruhmesblatt in der 
Geschichte der modernen Zoologie. 

Außerst kritiklos mutet es mich auch an, wenn man Krall immer 
wieder den Vorwurf macht, dass er wissenschaftliche Kommissionen 
zur Untersuchung seiner Pferde ablehne. Die heutigen physio- 
logischen Untersuchungsmethoden des Seelischen können dessen 
Feinheiten absolut nicht gerecht werden; es bedarf eines Kontakts 
von Seele zu Seele, wenn so schwerwiegende Probleme geprüft 
werden sollen. Gerade neuerdings arbeitet die Psychologie des 
Denkens neue Methoden aus, über die Külpe zusammenfassend in 
einem Artikel der internat. Monatsschr. f. Wissenschaft, Kunst und 


160 Sedgwick und Wilson, Einführung in die allgemeine Biologie. 


Technik: Über die moderne Psychologie des Denkens (1912), be- 
richtet. Da lesen wir, wie wenig die alten Methoden sich bewährt 
und wie viel überraschend Neues die moderne Behandlung bereits 
zutage gefördert hat. Man hat das Denken als etwas Selbständiges 
sozusagen überhaupt erst entdeckt. D. h. meiner Ansicht nach 
handelt es sich nıcht um das Denken, sondern um eine besondere 
gnostische Anschauungsweise, auf die ich in meinen tierpsycho- 
logischen Praktikum ausführlich eingegangen bin. Jedenfalls um 
ein psychisches Geschehen handelt es sich, das bis jetzt noch nicht 
genauer gewürdigt wurde, gerade aber auch in Hinsicht auf höhere 
Tiere ın Betracht kommen dürfte. Von ıhm ausgehend sollte man 
sich der mathematischen Veranlagung zuwenden, da wäre vielleicht 
eine neue Einbruchspforte zu gewinnen. Auch an Freud’s psycho- 
analytische Methode und an Ach’s Methoden der Bestimmung 
indeterminierter Handlungen möchte ich erinnern. All diese neuen 
Methoden zeigen, wie heutzutage in der Psychologie alles in Fluss 
ist, und da will man es Krall verübeln, dass er gegen die An- 
wendung unzulänglicher alter Methoden, noch dazu durch Kom- 
missionen, bei seinen Pferden sich ablehnend verhält. Recht hat 
er, tausendmal recht! Und er hat den Trost, dass auch besonnene 
Naturforscher ihm zustimmen. Jedenfalls wird er die Zukunft auf 
seiner Seite haben. 
Spitz a. Donau, 15. Dez. 1914. 


W.T. Sedgwick und E. B. Wilson. Einführung in die 
allgemeine Biologie. 
Autorisierte Übersetzung von R. Thesing. 8. X und 302 S. Leipzig und Berlin 
1913. B. G. Teubner. 

Die Bücher über allgemeine Biologie sind in den letzten Jahren 
sehr zahlreich geworden. Ein jedes derselben zeigt gewisse Be- 
sonderheiten, durch die es sich vor ähnlichen auszeichnet. Aber 
immer häufiger finden wir einen Gang der Darstellung, der meines 
Wissens auf Huxley und Parker zurückzuführen ıst: Nach einer 
grundlegenden Einleitung wird der eigentliche Lehrgang an einem 
bestimmten Lebewesen eingehend erläutert, von welchem spe- 
ziellen Teil aus das Gesamtbild Leben und Charakter erhält. Im 
vorliegenden Werkchen ist es der Regenwurm für die Tiere, das 
Farnkraut für die Pflanzen, welche als Paradigmata dienen. Ihnen 
folgen dann Kapitel über die einzelligen Organısmen, Amoeben, 
Infusorien, Protococeus, Hefen, die Organismen eines Heuaufgusses. 
Zum Schluss werden Anleitungen für Arbeiten ım Laboratorium 
und für Demonstrationen gegeben. 

Die Übersetzung ist gewandt und liest sich gut. Sie wird 
durch eine große Zahl guter Abbildungen bestens unterstützt. P. 








Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Antonstraße 15. — Druck der kgl. bayer. 
Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen. 


Biologisches Oentralblatt 


Begründet von J. Rosenthal. 


In Vertretung geleitet durch 
Prof. Dr. Werner Rosenthal 


Priv.-Doz. für Bakteriologie und Immunitätslehre in Göttingen. 


Herausgegeben von 


Dr. K. Goebel und Dr. R. Hertwig 


Professor der Botanik Professor der Zoologie 
in München. 


Verlag von Georg Thieme in Leipzig. 








Der Abonnementspreis für 12 Hefte beträgt 20 Mark jährlich. 
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. 
Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem &esamtgebiete der Botanik 
an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, 
vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München, 
alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Werner Rosenthal, z.Z. Nürnberg, Roonstr. 13, 
einsenden zu wollen. 


Bd. XXXV. 20. April 1915. N 4. 

















Inhalt: De Vries, Über künstliche Beschleunigung der Wasseraufnahme in Samen durch Druck. 


— Werner, Einige Bemerkungen zu den Salamandra-Experimenten von Sederov und 
Kammerer. — Scheuring, Beobachtungen über den Parasitismus pelagischer Jungfische. — 
Brun, Das ÖOrientierungsproblem im allgemeinen und auf Grund experimenteller For- 
schungen bei den Ameisen. — Wasmann, Das Gesellschaftsleben der Ameisen. Das Zu- 
sammenleben von Ameisen verschiedener Arten und von Ameisen und Termiten. Ge- 
sammelte Beiträge zur sozialen Symbiose bei den Ameisen. 








Über künstliche Beschleunigung der Wasseraufnahme 


in Samen durch Druck. 
Von Hugo de Vries. 


Wie die Samen der meisten anderen Pflanzen, keimen auch 
diejenigen der verschiedenen Arten der Gattung Oenothera beim 
Befeuchten mit Wasser nur teilweise sofort. Manche Körner bleiben 
in der feuchten Erde Wochen oder Monate, nicht wenige sogar 
jahrelang in Ruhe, bevor sie austreiben. Diese verspäteten Körner 
werden als makrobiotische bezeichnet; man kann sie auch einfach 
Trotzer nennen. Der Gehalt der einzelnen Ernten an ihnen schwankt 
je nach Umständen; oft hat man Proben, welche innerhalb weniger 
Tage nahezu vollständig keimen, oft aber auch erhält man auf 
Tausende von Samen nur ganz einzelne Keimpflanzen. 

Bei den mutierenden Arten liegt die Möglichkeit offenbar vor, 
dass diese trotzenden Samen mehr Aussicht auf neue Typen bieten 
als die schnell keimenden. Deshalb schien es mir wichtig, eine 
Methode auszuarbeiten, welche es ermöglichen würde, sämtliche 
oder doch nahezu sämtliche keimfähige Körner innerhalb der ge- 


wöhnlichen Zeitfrist auch wirklich zum Keimen zu bringen. Nur 
xXXXV. 11 


162 De Vries, Über künstliche Beschleunigung der Wasseraufnahme etc. 


in dieser Weise erhält man eine Aussicht, das Mutationsvermögen 
einer gegebenen Art erschöpfend kennen zu lernen und neue Arten 
in dieser Beziehung vollständig beurteilen zu können. Neben O. La- 
marckiana und O. biennis zeigen bis jetzt etwa ein halbes Dutzend 
von Arten aus derselben Gruppe Mutationserscheinungen, und die 
Annahme scheint durchaus berechtigt, dass eine weit größere Zahl 
sich in derselben Weise verhalten wird. 

Die trotzenden Samen bleiben nach der Aussaat im Innern 
trocken; das Wasser des Bodens dringt nicht in sie hinein: Sobald 
solches aber der Fall ıst, fängt die Keimung an, vorausgesetzt, dass 
der Keim noch lebensfähig ıst. Dieses dauert bei den von mir auf- 
bewahrten Samen in der Regel mehrere Jahre; nach 5 Jahren darf 
man noch auf eine ausreichende Keimung rechnen, dann aber nımmt 
der Prozentsatz ziemlich schnell ab. Von der Ernte von 1907 
keimen jetzt noch manche Proben ın ausreichender Weise, manche 
andere aber sind bereits völlig abgestorben. Samen von 1905 
keimen noch in einzelnen Fällen; ältere Samen lohnt es sich über- 
haupt nicht mehr auszusäen. Beal erwähnt einen Versuch, in 
welchem er Samen von einer amerikanischen Form von O. biennis 
in angefeuchtetem Sande in einer Flasche in einer Tiefe von etwa 
einem Meter im Boden eingegraben hat. Nach einem Aufenthalt 
von 25 Jahren fand er noch keimfähige Samen'). 

Pammel und Miss King haben neuerlich das Verhalten dieser 
trotzenden Samen bei Pflanzen aus verschiedenen Familien studiert, 
und die wichtigsten Ergebnisse aus der früheren Literatur zusammen- 
gestellt?). Seit 1901 untersuchen sie die Keimfähigkeit von Un- 
kräutern aus dem Staate Iowa unter den verschiedensten Bedin- 
gungen. Stratifizieren oder Aufbewahren in feuchtem Sande zeigte 
sich im allgemeinen als günstig; namentlich wenn die Samen im 
Winter dem Froste ausgesetzt wurden; manche Arten keimen ohne 
eine solche Vorbereitung, d. h. bei trockenem Aufbewahren, nicht 
oder fast gar nicht, aber nachher sehr kräftig. Die Zunahme der 
Keimkraft, bezw. dıe erforderliche Dauer des Stratifizierens war bei 
verschiedenen Arten sehr großen Schwankungen unterworfen, je 
nach der Härte der äußeren Samenhaut. 

In den Samen der Oenotheren bildet die äußere Samenhaut 
aber nicht die Hartschicht. Das äußere Integument der Samen- 
knospen besteht aus mehreren Zellenschichten, nimmt aber um die 
Mikropyle herum an Dicke zu. Diese Zellen erhärten nicht, sondern 
bilden ein lockeres, pseudoparenchymatisches Gewebe, welches beim 
Reifen austrocknet und zusammenschrumpft. Bei Benetzung be- 


1) Proc. Soc. Prom. Agric. Sci. T. 26, S. 89, 1905. 

2) L. H. Pammel and Charlotte M. King, Delayed Germination, 
Proceedings Iowa Academy of Science Vol. XV, Contributions Botanical Department 
Iowa State College of Agriculture and Mechanie Arts, Nr. 45, S. 20. 





De Vries, Über künstliche Beschleunigung der Wasseraufnahme ete. 163 


feuchtet es sich sofort und in allen Körnern, ohne damit aber not- 
wendigerweise ein Aufquellen des Keimes zu veranlassen. Denn 
die Hartschicht wird hier von dem inneren Integumente gebildet, 
welches nur aus zweı Zellschichten besteht, mit Ausnahme der 
nächsten Umgebung der Mikropyle, welche etwas dicker wird. Beim 
Reifen der Samen färbt sich dieses Integument etwas dunkler gelb 
bis braun, namentlich in seiner innersten Schicht und bereits in 
unreifen Samen bietet diese dem Eindringen von Fixierungsfiüssig- 
keiten bedeutenden Widerstand’). 

Die Dauer der Zeit, während welcher aufbewahrte Samen noch 
am Leben bleiben können, ıst bekanntlich für verschiedene Arten 
eine sehr verschiedene*). Namentlich unter den Leguminosen, dann 
aber unter den Malvaceen und den Labiaten kommen langlebige 
Arten vor. Ferner unter den Cruciferen und den Gräsern, u. S. w. 
Ganz besonders scheint die Erscheinung unter den Unkräutern der 
Kulturfelder verbreitet zu sein. Vielleicht hängt dieses damit zu- 
sammen, dass das Trotzen die betreffenden Arten befähigt, die Jahre 
zu überleben, in denen sie nicht zur Entwickelung oder doch nicht 
zum Hervorbringen reifer Samen gelangen können. Am besten ist 
die ganze Erscheinung wohl für die sogen. kleineren Kleearten (gelb- 
blühende Arten von Trifolium, Arten von Medicago, Melilotus u. s.w.) 
bekannt. Diese keimen oft im ersten Jahre nach der Aussaat gar 
nicht und sind aus diesem Grunde vielfach als Kulturpflanzen un- 
brauchbar. In der Praxis werden sie, namentlich in Schweden, 
vor der Aussaat in größeren Maschinen angefeilt, und diese Behand- 
lung bringt ihre Keimfähigkeit oft auf nahezu 100%, d. h. lässt 
nahezu alle Körner sofort nach der Aussaat keimen. 

Dass die Keime trotzender Samen in feuchter Erde trocken 
bleiben, ergibt sich auch aus der bekannten Tatsache, dass manche 
unter ihnen in diesem Zustande die Hitze des kochenden Wassers 
ertragen können. In meinen Kulturen wird die Erde für die Saat- 
schüsseln bei etwa 95° C. sterilisiert. Dadurch werden auch die 
Unkrautsamen in der Regel getötet, aber Samen von Kleearten 
überleben dieses Sterilisieren nicht gerade selten und keimen dann 
zwischen den Oenotheren. 

Außer durch Anfeilen kann die Hartschicht trotzender Samen 
durch geeignete Behandlung mit verschiedenen chemischen Verbin- 
dungen für Wasser permeabel gemacht werden, und namentlich 
Schwefelsäure wird dazu vielfach benutzt. Ich habe entsprechende 
Versuche mit den Samen der Oenotheren gemacht, aber die lockere 


3) J. M. Geerts, Beiträge zur Kenntnis der Cytologie und der partiellen 
Sterilität von Oenothera Lamurckiana, Amsterdam 1909, S. 31—33. 

4) Vergl. namentlich A. J. Ewart, Proc. Roy. Soc. of Victoria T. 21, Prt. I, 
S.1, 1898. Ewart beobachtete die Keimung von Samen von Malvaceen, Legumi- 
nosen und anderen, welche 55—77 Jahre lang aufbewahrt worden waren. 


LE 


164 De Vries, Über künstliche Beschleunigung der Wasseraufnahme etc. 


äußere Samenhaut erschwert das nachträgliche Auswaschen der 
Säure, und bietet dieser somit die Zeit, um in den Keim einzu- 
dringen und diesen zu töten. 

Außer dieser und anderer gebräuchlicher Methoden habe ich 
verschiedene Mittel versucht, um die Keimkraft der Samen von 
Oenothera zu erhöhen, wie bedeutende Wechslungen in der Tempe- 
ratur des umgebenden Wassers, Einwirkung von Temperaturen in 
der Nähe der Lebensgrenze (40—50° C©. und höher), u. s. w., aber 
ohne damit merkliche Erfolge zu erzielen. 

Dann habe ich mich entschlossen, das Wasser unmittelbar ın 
die Samen hineinzupressen, in der Hoffnung, damit den Keim zu 
erreichen und diesen zum Aufquellen zu bringen. Ich ging dabeı 
von der geläufigen Ansicht aus, dass die quellenden Samen das 
Wasser durch feine Risse ın ihrer Hartschicht, für gewöhnlich also 
in ihrer äußeren Samenhaut aufnehmen. Diese Risse befinden sich 
teils in der Gegend der Mikropyle, teils zerstreut über den ganzen 
Umfang des Kornes. In den Samen der Oenotheren sind sie ım 
inneren Integumente anzunehmen, wie aus der oben gegebenen 
Beschreibung hervorgeht. Diese Risse sollen durch die kutikulari- 
sierten äußeren Schichten der Hartschicht bis in die angrenzen- 
den weicheren Zellhäute oder Zellhautschichten führen. Sind sie 
mit Wasser gefüllt, so ermöglichen sie dessen Eintritt in den Keim, 
und durch das Aufquellen des Keimes werden dann bald einige 
unter ihnen derart erweitert, dass die Aufnahme von Wasser all- 
mählıch erleichtert und beschleunigt wird. 

In den trockenen Samen, muss man aber annehmen, sind diese 
äußerst feinen Rısschen mit Luft erfüllt. Wird nun die Hart- 
schicht befeuchtet, so kann das Wasser in diese Risse nur dadurch 
eindringen, dass es die Luft in ihnen auflöst. Man nımmt nun an, 
dass dieses nur in den weitesten Risschen ausreichend schnell statt- 
finden kann, um die Keimung innerhalb einiger Tage anfangen zu 
lassen, dass aber ın den trotzenden Samen auch die größten Risse 
so eng sind, dass das Wasser nur ganz allmählich vordringen kann, 
und Wochen, Monate oder Jahre braucht, um die tieferen nicht 
kutikularisierten Wände der Risse zu erreichen. Sobald diese aber 
erreicht sind, kann auch dann das Aufquellen des Keimes anfangen. 

Ich habe die Gültigkeit dieser Erklärung nicht durch eine mikro- 
skopische Untersuchung geprüft, sondern einfach aus ihr das Prinzip 
meiner Methode abgeleitet. Und da ich meinen Zweck erreicht 
habe, glaube ich, dass dieser Erfolg wenigstens als ein Beweis für 
die Brauchbarkeit der Vorstellung betrachtet werden darf. 

Presst man Wasser künstlich ın die Risse der Hartschicht 
hinein, so wird man die Luft in ihnen komprimieren und damit ein 
Eindringen bis an die zarteren Teile der Risswände befördern. 
Außerdem aber beschleunigt man das Auflösen der Luft in dem 


De Vries, Über künstliche Beschleunigung der Wasseraufnahme etc. 465 


Wasser und hierdurch muss, nach kürzerer oder längerer Frist, 
eine völlige Ausfüllung der Risse mit Flüssigkeit erreicht werden. 
Ob dieses letztere erforderlich ist, dürfte schwer zu entscheiden 
sein, ist aber für die Praxis der Anwendung meiner Methode offen- 
bar gleichgültig. 

Es handelt sich im wesentlichen darum, wie stark der Druck 
sein muss und wie lange er einwirken muss. Und da die ruhenden 
Samen im Boden nach sehr verschiedenen Zeiten zu trotzen auf- 
hören, darf man annehmen, dass die weitesten Risse — denn nur 
auf diese kommt esan — ın den einzelnen Samen von sehr verschie- 
dener Weite sind. Daraus ergibt sich dann die Erwartung, dass 
auch unter künstlichem Druck die Samen nicht gleichzeitig, sondern 
nach und nach im Innern befeuchtet werden und dass auch bei 
langer Versuchsdauer und sehr hohem Drucke wohl noch einige der 
härtesten Exemplare unberührt bleiben können. Nach meinen bis- 
herigen Erfahrungen ist es leicht, 95%, und mehr der keimfähigen 
Samen rasch zum Austreiben zu bringen und bisweilen erhält man 
auch eine erschöpfende Auslösung der Keimkraft. Zumeist bleiben 
aber wohl 1—2%, und bisweilen mehr Samen unbefeuchtet. In den 
gewöhnlichen Versuchen wird man ohne merklichen Schaden auf deren 
Mitwirkung verzichten können. 

Jetzt komme ich zu der Beschreibung meines Apparates. Dieser 
besteht aus einem gewöhnlichen Autoklaven und einer Luftpumpe, 
wie solche für das Füllen von Automobilreifen benutzt werden. 
Der Autoklav ist ein Dampfsterilisator, der bis zu 10 Atm. Druck 
ertragen kann, für gewöhnlich aber nur bis zu 8 Atm. benutzt 
wird. Das Füllen erfordert nur etwa 5 Minuten. Der lichte 
Durchmesser des Behälters ist 20 cm, und es können in ihm über 
100 Röhrchen mit Samenproben Platz finden. 

Bevor die Samen in den Apparat gelangen, müssen sie soweit 
wie möglich mit Wasser gesättigt werden und muss wenigstens die 
lockere äußere Samenschale der Oenothera-Samen ganz aufgeweicht 
sein, damit das Wasser überall die Hartschicht berühre. Dazu 
werden die Samen in Glasröhrchen mit Wasser geschüttelt und 
während einer Nacht bei 30° C. oder während etwa 24 Stunden 
bei der Zimmertemperatur aufbewahrt. Im Autoklaven habe ich 
sie bis jetzt zumeist 2—3 Tage lang unter einem Druck von 
6—8 Atm. gelassen; sie keimen während dieser Zeit bei niedriger 
Temperatur nicht oder lassen höchstens an ganz einzelnen Körnern 
die weiße Wurzelspitze sichtbar werden. Die Keimkraft der ganzen 
Probe erleidet durch die Behandlung gar keinen Nachteil. 

Sollen die Samen in Keimschüsseln ausgesät werden, um später 
für die Kultur im Garten zu dienen, so müssen sie locker auf die 
Erde gestreut werden. Dazu ist es erforderlich, sie vorher ober- 
flächlich abzutrocknen, was durch sanftes Pressen zwischen zwei 


{66 De Vries, Über künstliche Beschleunigung der Wasseraufnahme etc. 


Tüchern leicht erreicht wird. In dieser Weise habe ich die ganze 
Aussaat für alle meine diesjährigen Kulturen behandelt. 

Beabsichtigt man nur, die Anzahl der keimenden Körner in 
einer gegebenen Probe zu bestimmen, so empfiehlt es sich, die 
Samen nicht auf Erde auszustreuen. Auch das Auslegen auf feuchtes 
Fließpapier ist zumeist ungenügend, um sämtliche Körner keimen 
zu lassen. Am besten ist es, sie in einer kapillaren Wasserschicht 
an einer Glaswand hangen zu lassen. Man kann dazu umgekehrte 
Uhrgläser oder Schälchen benutzen; am bequemsten ist es aber, sie 
ın einer geschlossenen Glasröhre mit sehr wenig Wasser an der 
einen Längsseite der Wand zu verteilen und dann die Röhre hori- 
zontal hinzulegen und so zu drehen, dass dıe Körner an der oberen 
Seite haften. Hier fließt das überflüssige Wasser ab und die Samen 
finden gerade so viel Luft und so viel Feuchtigkeit als zu ihrem 
Wachstum erforderlich ist. Behufs des Auszählens der Keime 
werden sie dann mittels einer spiralig gedrehten Nadel aus der 
Röhre herausgeschoben und auf einer nassen Glasplatte ausgebreitet. 

Das Ankeimen geschieht in denselben Röhrchen wie das Ein- 
pressen des Wassers im Autoklaven, nur werden die Röhren nach 
dem Abgießen und nötigenfalls nach dem Erneuern des Wassers 
mit einem Korke geschlossen. Ich benutze Röhrchen von 10 cm 
Länge und 1,5 cm Weite. Gewöhnlich sind nach 2 Tagen schon 
zahlreiche Würzelchen sichtbar geworden, wenn die Röhrchen im 
Keimschrank bei etwa 30° C. aufbewahrt werden. Nach 2—4 Tagen 
nimmt die Keimung rasch ab, und bewahrt man die Proben während 
längerer Zeit auf, indem man von Zeit zu Zeit die Luft in den 
Röhrchen erneuert, so dauert es bisweilen mehrere Wochen, bis 
die letzten Samen zu keimen anfangen. 

Den Einfluss des Hineinpressens von Wasser kann man in ver- 
schiedener Weise prüfen. Entweder indem man von einer Probe 
die eine Hälfte der Operation unterwirft, die andere aber nicht, 
oder so, dass man in der ganzen Probe zuerst die raschkeimenden 
Samen wachsen lässt. Sobald man dann sieht, dass dieser Prozess 
aufhört oder doch sich ganz erheblich verzögert, presst man das 
Wasser in die noch ruhenden Samen im Autoklaven ein und bringt 
darauf die Röhrchen in den Keimschrank zurück. Fast stets erfolgt 
dann eine rasche Keimung, welche dann nur damit erlischt, dass 
die lebensfähigen Keime alle oder bis auf einige wenige Prozente, 
ihre Würzelchen sichtbar werden lassen. Nach Ablauf von weiteren 
2—4 Tagen öffnet man die noch übrig gebliebenen Körner mit 
einer harten Stahlnadel mit umgebogener Spitze, um die Zahl der 
etwa noch ruhenden Keime und jene der im Samen gestorbenen 
Exemplare zu ermitteln. 

Ich führe jetzt eine Reihe von Beispielen an, um die Einzel- 
heiten des Prozesses näher beschreiben zu können, und beschränke 


De Vries, Über künstliche Beschleunigung der Wasseraufnahme etc. 467 


mich dabei aus leicht ersichtlichen Gründen auf die bereits mehr- 
fach erwähnten Samen der Oenotheren. Für jede einzelne Probe 
dienten fast stets 200 aus einer einzelnen Frucht herausgenommene 
und abgezählte Samen. Es entspricht diese Zahl nahezu dem ge- 
wöhnlichen Gehalte einer Frucht an Samen. 

Oenothera biennis und andere Arten. Die Samen von Oeno- 
thera biennis L., der ın den holländischen Dünen und sonst in 
Europa weitverbreiteten Art, keimen in der Regel rasch und leicht, 
indem bei 30° C. unter guten Bedingungen in den ersten 5 Tagen 
etwa 80—90 %, und mehr Würzelchen hervorgetrieben werden. In 
solchen Fällen lohnt es sich kaum, Wasser in sie hinein zu pumpen. 
Hat man aber die Samen auf spät verpflanzten, ungenügend ge- 
düngten oder aus sonstigen Gründen schwach gebliebenen Exem- 
plaren gesammelt, so ist die Keimkraft oft eine viel geringere. Ich 
wähle als Beispiel ein Exemplar von O. biennis sulfurea, welches 
im Sommer 1914 in meinem Garten wuchs und seine Blüten in 
Pergaminbeuteln geöffnet hatte, somit rein mit sich selbst befruchtet 
worden war’). 

200 Samen wurden im Keimapparat ausgelegt; es keimten bei 
30°C. in 2 Tagen nur 4, darauf in den beiden nächstfolgenden 
Tagen noch 78 Körner. Zusammen also ın 4 Tagen 41%. Eine 
Kontrollprobe wurde zuerst während 2 Tagen m Wasser einem 
Drucke von 6 Atm. bei niedriger Temperatur ausgesetzt und kam 
erst dann in den Keimapparat bei 30°C. Hier keimten innerhalb 
3 Tage 80% der Samen, d.h. fast alle lebensfähigen Körner. 

Durch die Anwendung künstlichen Druckes war somit die Pro- 
duktion von Keimpflanzen in diesem Falle etwa verdoppelt worden. 

In derselben Weise untersuchte ich Oenothera syrticola Bart- 
lett‘), d. h. die schmalblättrige Art unserer Dünen, welche bis 
dahin O. muricata L. genannt wurde und deren doppeltreziproke 
Bastarde mit O. biennis früher von mir beschrieben worden sind”). 
Von einem selbstbefruchteten Exemplare meiner Rasse entnahm ich 
einer Frucht 200 Samen. Es keimten innerhalb von 5 Tagen 30%. 
. Eine zweite Probe setzte ich zuerst während zweier Tage einem Drucke 
von 6 Atm. aus und brachte sie dann unter denselben Bedingungen 
wie die erste zur Keimung. Es brauchte jetzt 3 Tage um 80 9, 


5) Über das Entstehen dieser Varietät durch Mutation aus der leuchtend gelb- 
blühenden Art, vergl. Th. J.Stomps, Parallele Mutationen bei Oenothera biennis L. 
Ber. d. d. botan. Gesellsch. 1914, Bd. 32, S. 179—188, und meinen Aufsatz: The 
Coefficient of Mutation in Oenothera biennis L., in Botanical Gazette, Bd. XVIII, 
Chicago 1915. 

6) H. H. Bartlett, Twelve elementary species of Onagra, in Cybele Colum- 
biana, Vol. I, Nr. I, S. 37, 1914. 

7) Uber doppeltreziproke Bastarde von Oenothera biennis L. und O. muri- 
cata L. Biol. Centralbl. Bd. 31, S. 97—104, 1911, und „Gruppenweise Artbildung‘“, 
Berlin 1913, S. 39—41, 


168 De Vries, Über künstliche Beschleunigung der Wasseraufnahme etc. 


der Würzelchen hervorbrechen zu sehen. Die Keimkraft war somit 
durch die Anwendung des Druckes etwas mehr als verdoppelt und 
nahezu erschöpft worden. 

Noch bedeutender werden die Differenzen, wenn man Arten 
mit schwacher Keimkraft wählt. Eine solche Form erhielt ich von 
Herrn T. D. A. COockerell ın Boulder in Colorado; ich habe sie 
unter dem Namen O. Cockerelli in meiner „Gruppenweisen Art- 
bildung“ beschrieben und abgebildet®). Selbstbefruchtete Samen 
aus den Kulturen meines Gartens keimen gewöhnlich nur spärlich, 
oder erwarten einen sonnigen Tag, bevor sie zu wachsen anfangen. 
Aus einer Frucht erhielt ich im Keimapparat bei 30°C. aus 200 Samen 
innerhalb von 5 Tagen nur 3 Keime. Darauf wurde eine Kontrollprobe 
während zweier Tage in Wasser einem Drucke von 6 Atm. ausgesetzt 
und darauf bei 30°C. ausgelegt. Es keimten nun in 3 Tagen 72%,. 
Fast alle sonstigen Trotzer waren somit durch die angegebene Be- 
handlung zum Keimen gebracht worden. 

Einen vierten Versuch habe ich mit O0. suaveolens Desf. ge- 
macht. Auf diese Art komme ich weiter unten zurück. Ich benutzte 
eine schmalblättrige Varietät aus Coimbra in Portugal. Es keimten, 
unter 200 reinen Samen, ohne Druck ın 5 Tagen nur 5,5 nach 
Anwendung von Druck unter denselben ausm wie in den 
vorigen Versuchen, innerhalb dreier Tage 14. 

Ich fasse jetzt die mitgeteilten Zahlen übersichtlich zusammen. 


Einwirkung eines Druckes von 6 Atm. während zweier Tage, auf 
die Keimkraft. 

















IPORELE _ Kontroll- 
Keimlinge 
| versuche 
Oenothera nach 3 Tagen 
| in % ohne Druck 
IRRE 29 (5 Tage) 
a un m ll Bene nissen ST = — 
O. biennis sulfurea . . | 80 41 
O. syrticola (0. muricata L) | s0 18 
ON CockerEND N | 72 2 
OÖ. sumeodieens . .» 2. | 14 5 
| 


Die Beschleunigung der Keimung durch vorheriges Hinein- 
pressen von Wasser in die Samen ist in allen diesen Versuchen 
eine auffallende. Zahlreiche weitere Versuche, namentlich mit ge- 
kreuzten Samen oder mit den Samen von Bastarden, haben diesen 
Satz seitdem bestätigt. 

Oenothera sp. aus Minnesota. In der Umgegend des Ortes 
North Town Junction bei Minneapolis in Minnesota habe ich 
im September 1904 an verschiedenen Stellen eine bis jetzt unbe- 
schriebene, aber von ihren Verwandten deutlich getrennte Art ge- 


8) Gruppenweise Artbildung. S. 53—54 und 114—115. 


De Vries, Über künstliche Beschleunigung der Wasseraufnahme ete. 169 


sammelt°). Ausihren Samen habe ich eine Rasse abgeleitet und deren 
im Jahre 1914 in meinem Garten gereifte Samen geprüft. Ich ent- 
nahm von vier Pflanzen je eine selbstbefruchtete Frucht, zählte aus 
jeder 200 Samen aus und legte diese zum Keimen bei 30°C. aus. 
Die Keimlinge wurden nach 2 und nach 4 Tagen gezählt und ent- 
fernt. Die übrigen Samen wurden darauf bei Zimmertemperatur wäh- 
rend dreier Tage einem Drucke von 8 Atm. ausgesetzt und wiederum 
zum Keimen ausgelegt. Nach 2 Tagen wurden die neuen Keim- 
linge abgezählt und die ungekeimten Körner mit einer Nadel ge- 
öffnet, um zu erfahren, wie viele unter ihnen etwa leer waren. 

Auf demselben Beete hatte ich einige Blüten auf zwei Indi- 
viduen kastriert und mit dem Pollen meiner O. Lamarckiana belegt. 
Ihre Samen wurden in derselben Weise untersucht. Ich erhielt die 
folgenden Zahlen. 


Samen einer Oenothera aus Minnesota. 
Einfluss künstlichen Druckes auf die Keimkraft (in 9%). 
































I] = 
Vor Anwen- Sn an | Keim- 
dung des er ns | Summe haltige 
Druckes D n Samen 
ruckes 
m 
Nach Tagen: | 2 4 2 
Pflanze A (Selbstbefr.) 60315 3 80,5 92 
tler BE 5 85 e125 42 | 68 87 
ie - On zen 29,5 46,5 84,5 
a, ” 1 2 40 43 92 
” E (gekreuzt mit 0. Lam.) 0 0) 209 I 38 
» F ( ER ” „ 2) ) (0) I: 37,5 38.5 | 95 








In den Samen dieser sechs Pflanzen war die Keimkraft eine 
sehr verschiedene. Nur eine (A) keimte leicht und schnell, auf sie 
hatte die Anwendung des Druckes, wie zu erwarten, keinen wesent- 
lichen Einfluss. In den beiden folgenden (Bund) war die Keim- 
kraft gering: 17—26°%, und die nachträgliche Behandlung hat die 
Anzahl der Keime auf 46,5— 68%, gebracht, also mehr als verdoppelt. 
Die selbstbefruchteten Samen von D und die gekreuzten Samen 
keimten innerhalb der gewöhnlichen Keimesfrist nicht oder nahezu 
nicht, aber nach Anwendung des Druckes zu etwa 25—40%,. Hier 
würde das Sfudium der Nachkommen gänzlich misslungen oder 
doch in sehr unangenehmer Weise beschränkt worden sein, wenn 
die Samen nur in der gewöhnlichen Weise ausgesät worden wären. 
Auch habe ich für meine diesjährige Kultur die Samen dieser 
Pflanzen nur nach Anwendung des Druckes ausgesät. 


9) Siehe die Abbildung in: Gruppenweise Artbildung, Berlin 1913, S. 35, 
Fig. 10. 


470 De Vries, Über künstliche Beschleunigung der Wasseraufnahme etc. 


Oenothera Lamarckiana. Auf drei zweijährigen Pflanzen wurde 
am Hauptstengel jeden dritten Tag eine Blüte in einem kleinen 
Beutel mit dem eigenen Pollen rein befruchtet; die Früchte wurden 
mit Marken bezeichnet und später einzeln geerntet. Nach der Ernte 
wurden aus jeder Frucht womöglich 200 Samen abgezählt und zum 
Keimen ausgelegt. Die gekeimten Samen wurden nach 2 und nach 
4 Tagen gezählt. Dann wurden die übrigen in Wasser unter Druck 
gebracht und zwar für die Pflanze A während 24 Stunden bei 
6 Atm., für B während 48 Stunden bei demselben Druck und für 
Ü 3 Tage lang bei 8 Atm. Darauf wurde wiederum die Anzahl 
der Keimlinge nach 2 und nach 4 Tagen ermittelt. Schließlich 
wurden die nicht gekeimten Samen mit einer Nadel geöffnet und 
die noch vorhandenen, teils noch lebenden aber ruhenden, teils 
toten und zu einem Zellenbrei gewordenen Keime zusammen gezählt. 

Nachdem die Zählungen für die 54 Einzelproben abgelaufen 
waren, wurden für jede Pflanze die Summen und die Mittelzahlen 
berechnet. Die drei Versuche hatten den Zweck, zu ermitteln, ob 
der Prozentsatz der normalen Keime an den Rispen auf verschie- 
dener Höhe, und somit zu verschiedener Jahreszeit und beı ver- 
schiedenem Wetter merkliche Differenzen aufweisen würde. 

Die ersten Blüten öffneten sich am 23. und 26. Juni und am 
2. Juli; die Versuche dauerten bis etwa Mitte August, an jeder 
Rispe haben während dieser Zeit etwa 100 Blüten geblüht. Das 
Wetter war bis zum 23. Juli warm und hell und die Anzahl der 
geöffneten Blüten pro Tag eine verhältnismäßig große; später aber 
war der Himmel meist bewölkt und ging das Aufblühen langsamer 
vor sich. Die Keimungsprozente für die dreitägigen Perioden zeigten 
aber zu diesem Wechsel keine Beziehungen; sie schwankten um die 
Mittelzahlen der ganzen Rispe in unregelmäßiger Weise. Ich habe 
die Resultate in Kurven umgerechnet und diese verglichen mit den 
Kurven für Temperatur und Sonnenschein, welche im Versuchs- 
garten neben den Pflanzen ermittelt worden waren, konnte aber 
keinen Parallelismus nachweisen. 

Da somit die Keimungsprozente auf der ganzen Rispenlänge die- 
selben waren, verzichte ich auf die Mitteilung der Einzelzahlen und 
gebe nur die aus den Summen berechneten Prozentzahlen für die 
drei Rispen. Sie sind ın der nebenstehenden Tabelle zusammengestellt. 

Aus dieser Tabelle ergibt sich, dass die drei untersuchten 
Pflanzen sich im wesentlichen gleich verhielten. Die Keimungs- 
geschwindigkeit war unter den günstigen Bedingungen des Ver- 
suchs in den ersten Tagen eine bedeutende (4,5—15%), fiel dann 
aber rasch auf 1,5—4,5%, herab. Zahlreiche Kontrollversuche haben 
gelehrt, dass diese Abnahme unter sich gleich bleibenden Bedin- 
gungen längere Zeit anzuhalten pflegt bis schließlich in mehreren 
Wochen nur noch ganz einzelne Samen nachkeimen. 


De Vries, Über künstliche Beschleunigung der Wasseraufnahme ete. 171 


Oenothera Lamarckiana. 
Keimungsprozente vor und nach Einwirkung erhöhten Druckes. 











Anzahl der Gekeimt nach Tagen Prihende 

















Pflanze Reina Summe 
Früchte | Samen 2 4 Atm. 6 8 
A 20 3800 4,5 1,5 D. 6 18 4,5 6 34,5 
B 16 3200 8 4,5 D. 6 17 25 5,5 37,5 
C 18 3400 15 3 DES 22 1 5 46 

















Nach den vier ersten Tagen wurden die Samen ın Wasser dem 
oben angegebenen Drucke von 6—8 Atm. ausgesetzt und darauf 
wiederum im Keimschrank zum Keimen bei 30° C. ausgelegt. In 
den beiden ersten Tagen keimten dann 17—22°%,, also viel mehr 
als vor der Einwirkung des Druckes. Darauf fiel der Prozentsatz 
ab, aber die Ursache davon lag in der Erschöpfung der Proben an 
keimfähigen Samen, denn als nach 4 Tagen die nicht gekeimten 
Samen geöffnet wurden, enthielten nur noch 5--6%, einen Keim, 
während die übrigen taub waren. Unter jenen Keimen war etwa 
die Hälfte offenbar noch lebendig, die andere Hälfte aber gestorben 
und einer Fäulnis anheimgefallen, welche sie in ihre einzelnen Zellen 
auflöste. 

Wir sehen somit, dass ohne Druck etwa 6—18%, Samen keimen, 
dass mit Anwendung künstlichen Druckes diese Zahl um 19—23 %, 
erhöht und dadurch auf etwa 50—40%, gebracht wird. Und ferner, 
dass nach dieser Behandlung nur noch ganz wenige Samen (etwa 3 %,) 
fortfahren zu trotzen. 

Die Pflanze C enthielt ın ıhren Samen etwa 46% Keime; A und 
B aber nur 34,5 und 37,5%. Die Ursache dieses Unterschiedes 
liegt in der Kultur, da die beiden letzteren auf ungedüngtem oder 
fast ungedüngtem Boden wuchsen, während C auf einem sehr stark 
gedüngten Beete gepflanzt worden war. Ähnliche Unterschiede 
habe ich sehr oft beobachtet. 

Die Samen von Oenothera Lamarckiana enthalten immer etwa 
zur Hälfte gute Keime, während diejenigen der anderen Hälfte leer 
sind. Diese Erscheinung ist in jüngster Zeit von O. Renner ein- 
gehend studiert worden!”). Er fand, dass die tauben Samen in 
gewöhnlicher Weise befruchtet werden und dass ihr Keim die ersten 
Teilungen durchläuft, dann aber zu wachsen aufhört und schließ- 
lich abstirbt. Die Samenschale entwickelt sich aber in annähernd 
normaler Weise, erreicht etwa dieselbe Größe und anscheinend 
denselben Bau wie diejenige der keimhaltigen Samen. Sie bleibt 


10) O. Renner, Befruchtung und FEmbryobildung bei Ornothera Lamarckiana 
und einigen verwandten Arten. Flora Bd. VII, Heft 2, 1914, 8. 115—150. 


72 De Vries, Über künstliche Beschleunigung der Wasseraufnahme ete. 


aber, soweit meine Erfahrungen reichen, auch im reifen Zustand 
für Wasser viel leichter permeabel. Harte Samen enthalten wohl 
fast stets gute Keime. 

Bei günstiger Kultur fand ich im Sommer 1914 den Gehalt an 
keimhaltigen Samen meist etwa 43—46 %, als Durchschnittszahlen 
aus zahlreichen Versuchen, welche je meist 400 Samen umfassten. 
Bei weniger günstigen Bedingungen fiel dieser Gehalt auf 32—39% 
(etwa 20 Versuche mit je 400 Samen) und im Sommer 1913 war 
er noch bedeutend niedriger gewesen. Dass dabei die Anzahl 
der Renner’schen Keime zunimmt, scheint mir nicht wahrschein- 
lich, da dıe Erscheinung genau mit demjenigen übereinstimmt, was 
man auch bei Arten ohne solche beobachtet!!. Doch habe ich 
diese Frage nicht untersucht. 


Oenothera suaveolens Desf. ist eine Art, welche mit O. La- 
marckiana ın dem Besitze tauber Samen übereinstimmt. Sie wächst 
in Frankreich und in Portugal an zahlreichen Stellen im Freien 
und wurde früher als Synonym von O. grandiflora Ait. betrachtet. 
Als ich aber Samen der ersteren Art im Forste von Fontainebleau 
und von letzterer unweit Castleberry in Alabama gesammelt hatte 
und daraus die Pflanzen nebeneinander ın meinem Versuchsgarten 
blühen ließ, ergab sich, dass diese beiden Arten durchaus verschieden 
sind. Die Samen der Form von Fontainebleau, im Herbste 1914 
in meinem Versuchsgarten nach künstlicher Selbstbefruchtung ge- 
sammelt, enthielten nur 18—29%, guter Keime. Ich untersuchte 
vier Pflanzen, von jeder zwei Früchte und aus jeder Frucht 200 Samen. 

Aus Portugal schickte mir Herr A. Cortezao, jetzt Direktor 
des landwirtschaftlichen Versuchswesens auf den westafrikanischen 
Inseln San Tom& und Prinzipe, Samen einer Unterart von O. sua- 
veolens, welche von ihm unweit Coimbra gesammelt worden waren. 
Ich erzog die Pflanzen daraus im Sommer 1914 und fand, dass die 
Blätter wesentlich schmäler waren als in der französischen Art, 
dass sie sonst aber mit dieser in den Hauptzügen übereinstimmten. 
Die nach reiner Befruchtung geernteten Samen benutzte ich zu dem 
folgenden Versuche. Es wurden aus zwei Früchten je 200 Samen 
abgezählt und zum Keimen ausgelegt. Es keimten bei 30° C. nach 
2 Tagen 14,5%, und in den beiden nächstfolgenden Tagen nur noch 
4%. Darauf wurden die übrigen während dreier Tage in Wasser 
einem Drucke von 8 Atm. ausgesetzt und nachher 6 Tage lang im 
Keimapparat sich selber überlassen. Es keimten jetzt noch 10,5 %. 
Von den übrigen enthielten 4,5%, teils lebensfähige, teils faulende 
Keime, während alle übrigen leer waren. Zusammen also 33,5% 
keimhaltiger und 66,5%, tauber Samen. 


11) Vergl. hierüber den weiter unten beschriebenen Versuch mit einer neuen 
Mutante aus Oenothera Lamarckiana. 


De Vries, Über künstliche Beschleunigung der Wasseraufnahme etc. 173 


L 


Durch das Einpressen des Wassers wurden hier somit etwa ein 
Drittel der vorhandenen Keime, welche sonst wohl ruhend geblieben 
wären, zum Austreiben veranlasst. 

Sollte die erbliche Eigenschaft, welche das Taubwerden von 
mehr als der Hälfte der Samen bedingt, in O0. Lamarckiana und 
O. suaveolens dieselbe sein, so würde man erwarten, dass ıhre 
Bastarde denselben Gehalt an leeren Samen aufweisen würden. Dem 
ist aber nicht so; im Gegenteil sind die gekreuzten Samen eben so 
vollständig keimfähig wie diejenigen von (0. biennis und den übrigen 
oben mit dieser angeführten Arten. Es geht dieses aus den beiden 
folgenden Versuchen hervor. 

Im Sommer 1914 befruchtete ich O0. Lamarckiana aus meiner 
Kultur mit dem Blütenstaub einer der aus Fontainebleau her- 
stammenden Pflanzen und zählte nach der Ernte aus einer Frucht 
200 Samen ab. Es keimten in den 3 ersten Tagen 126, in den 
beiden folgenden noch 54, aber in weiteren 2 Tagen nur noch ein 
einziger Same. Zusammen also 181. Die übrigen 19 wurden nun 
ın Wasser während 3 Tage bei 8 Atm. Druck aufbewahrt. Nach 
dieser Behandlung keimten in 2 Tagen 7, in den beiden folgenden 
Tagen aber keine Samen, während die Untersuchung mit der Nadel 
noch 7 teils lebendige, teils faulende Keime und 5 Samen ohne 
sichtbaren Keim ergab. Im ganzen somit 195 oder 97,5%, keim- 
haltiger Samen. 

In demselben Jahre machte ıch die reziproke Kreuzung: O. sua- 
veolens von Fontainebleau mit ©. Lamarckiana aus meiner Rasse. 
Auf 200 Samen aus einer einzelnen Frucht erhielt ich nach 3 Tagen 
59, in den folgenden beiden Tagen 41, und in den beiden darauf- 
folgenden 18 Keimlinge. Zusammen also 118. Nach dreitägiger 
Einwirkung eines Druckes von 8 Atm. keimten nun in zwei weiteren 
Tagen noch 37 und in den beiden folgenden nur noch ein einziger 
Same, während die Nadelprobe noch 23 Keime aufwies. Zusammen 
also 179 Keime auf 200 Samen oder 89,5%. 

In beiden Versuchen war, trotz einer großen normalen Keim- 
kraft, der Gehalt an keimenden Samen durch Anwendung des 
Druckes wesentlich erhöht worden (um 3,5 und 19%), und damit 
jener an trotzenden Keimen auf einen geringen Rest zurückgebracht. 

Die mikroskopische Untersuchung der heranreifenden Samen 
von O. suaveolens verspricht, in Verbindung mit den oben erwähnten 
Befunden an O. Lamarckiana und den beiden Kreuzungen, wichtige 
Ergebnisse, doch habe ich eine solche noch nicht angefangen. 

Oenothera Lamarckiana mut. rubricalye Gates. Die meisten 
Mutanten von O. Lumarckiana verhalten sich in bezug auf die Keim- 
fähigkeit wie die Mutterart. Es lohnt sich deshalb nicht, hier mehr 
als ein Beispiel anzuführen. Ich wähle dazu die schöne von Gates 
gewonnene OÖ. rubricalye. Sie entstand in seinen Versuchen aus 


474 De Vries, Über künstliche Beschleunigung der Wasseraufnahme ete. 


O. rubrinervis, von der sie sich namentlich durch die dunkelroten 
Blütenkelche unterscheidet!?). Sie stellt nach Gates eine pro- 
gressive Mutation dar. Ich erhielt einige Samen von Herrn Gates 
ım Winter 1913/14 und erzog daraus etwa 25 Pflanzen, welche sämt- 
lich geblüht haben. Aus einer selbstbefruchteten Frucht zählte ich 
200 Samen aus und überließ diese in der üblichen Weise der 
Keimung. 

Die Einrichtung des Versuches war genau dieselbe wie im 
letztbeschriebenen Fall; ich erhielt die folgenden prozentischen 
Zahlen auf 200 Samen. 


Oenothera rubricalyx Gates. 
Einfluss künstlichen Druckes auf die Keimkraft. 























Vor An- Nach An- er: 
wendung des | wendung des Summe "Sa altıge 
Druckes Druckes amen 
Nach Tagen: 2 | 4 o | 
Keimlinge 2124. .r0% 21 il 18,5 40,5 | 47 





Wie man sieht, war der Erfolg ebenso deutlich als sonst. 

Oenothera Lamarckiana mut. nov. Die Eigenschaft von O. La- 
marchkiana, etwa zur Hälfte taube Samen hervorzubringen, geht bei 
den Mutationen nicht immer unverändert auf die neuen Formen 
über. Namentlich fehlt sie bei O. gigas. Ebenso verhalten sich 
einige meiner neuen, noch nicht beschriebenen Mutanten. Mit 
einer von diesen, welche ich vorläufig als B bezeichnen will, habe ich 
einen Versuch über den Einfluss der Kultur auf die Keimkraft der 
Samen gemacht. Die Form ist verwandt mit O. rubrinervis, aber 
nicht so spröde wie diese, blasser ın der Farbe und mit lockeren 
Blütenrispen, und soll später veröffentlicht werden. 

Ich gebe zunächst die erhaltenen Zahlen: 


























Vor An- Nach An- Keimhati 
wendung des | wendung des Summe S Ren 
Druckes Druckes er 
Nach Tagen: 2 4 
A. Normale Kultur 54 10,5 24 88,5 99 
B. 5 ” 15,5 | 19 45 79,5 99 
OÖ. Schwache Pflanze 45 6 25 53,5 SH 
D. 5 > 52 1 0 53 72,5 











12) R. R. Gates, The new Phytologist, Vol. 12, Nr. 8, S. 291, 1913. 


De Vries, Über künstliche Beschleunigung der Wasseraufnahme etc, 175 


Von jeder Pflanze wurden 200 Samen aus je einer Frucht bei 
30°C. zum Keimen ausgelegt, und die Keimlinge nach 2 und nach 
4 Tagen ausgezählt. Darauf wurden die übrigen Samen bei Zimmer- 
temperatur (etwa 15°C.) während dreier Tage in Wasser einem Drucke 
von 8 Atm. ausgesetzt und dann wieder in den Keimapparat zurück- 
gebracht. Als nach weiteren 5 Tagen die Anzahl der neuen Keim- 
linge ermittelt worden war, wurden die übrigen Samen mit einer 
Nadel geöffnet, um zu sehen, wie viele unter ihnen deutliche Keime 
enthielten. 

Die Pflanzen A und B standen in ausreichenden Entfernungen 
auf einem gut gedüngten Boden und wurden gut begossen. Die 
Exemplare C und D standen dicht zusammen auf schlechtem Boden 
und konnten sich nur kümmerlich bewurzeln. Die ersteren wurden 
sehr stark und grün, hatten reich ausgestattete Blütenrispen und 
erreichten eine Höhe von 1 m. Die letzteren blieben schwach und 
dünnstengelig, konnten jede nur etwa 4—6 Blüten zur Ausbildung 
bringen und erreichten nur 60 cm Höhe. Namentlich aber wies in 
ihnen eine auffallend rote Färbung des Laubes und der Kelche auf 
eine kümmerliche Bewurzelung hin. 

Der Einfluss dieses Unterschiedes auf die Keimkraft der Samen 
ist auffallend. Die kräftigen Pflanzen hatten fast gar keine tauben 
Samen, die schwachen etwa 25%. Die ersteren keimten zu 80—88 '/,, 
die letzteren nur zu 53%. Die Ausbildung tauber Samen war also 
in diesem Falle eine Folge der künstlich stark herabgesetzten Lebens- 
bedingungen. Ich habe in jeder der beiden Gruppen noch zwei 
weitere Exemplare untersucht, mit fast genau demselben Erfolg 
(75 und 75%, gegen 97 und 96,5%, keimhaltiger Samen). Man darf 
hieraus und aus zahlreichen analogen Versuchen folgern, dass durch 
mangelhafte Ernährung oder Wasserversorgung u. s. w. ein nicht 
unerheblicher Teil der Samen ohne guten Keim bleiben kann und 
dass solches auch für andere Arten von Oenothera Geltung hat. 

Bei der normalen Kultur war der Einfluss eines künstlichen 
Druckes auf die Keimkraft auffallend, bei den schwachen Pflanzen 
aber unmerklich. 


Zusammenfassei:d sehen wir, dass Samenproben von Oenothera, 
welche unter gewöhnlichen Bedingungen eine ungenügende Anzahl 
von Keimlingen hervorbringen, durch sofortige oder nachträgliche 
Einwirkung eines Druckes von 6-8 Atm. 2—3 Tage lang, zur 
vollen oder nahezu vollen Keimung gebracht werden können. 

Es liegt auf der Hand anzunehmen, dass durch diesen Druck 
das Wasser in sehr feine lufthaltige Risse der Hartschicht hinein- 
gepresst und dass dadurch ein beschleunigtes Aufquellen des Keimes 
ermöglicht wird. 


17 Werner, Einige Bemerkungen zu den Salamandra-Experimenten etc. 


Die Ermittlung des Gehaltes an leeren Samen, gleichgültig, ob 
dieser durch erbliche Ursachen oder durch ungünstige Lebens- 
bedingungen veranlasst wurde, wird offenbar durch die Anwendung 
der Methode des künstlichen Druckes wesentlich erleichtert. 


Einige Bemerkungen zu den Salamandra-Experimenten 


von Secerov und Kammerer. 
Von F. Werner (Wien). 


In Band XXXIV Nr. 5 des „Biolog. Uentralblattes“ (20. Mai 
1914) bringt Herr Dr. Slavko Seterov Mitteilungen über das 
Farbkleid von Feuersalamandern, deren Larven auf gelbem oder 
schwarzem Untergrunde gezogen waren. Diese Ergebnisse fordern 
in mancher Beziehung zu einer Kritik heraus, da sie mir nichts 
weniger als beweiskräftig erscheinen. Ich will dabei ganz davon 
absehen, dass diese Untersuchungen mit ganzen 12 Individuen, die 
noch dazu zu vier verschiedenen Versuchen benützt wurden, aus- 
geführt sind; aber sehen wir weiter. Der Verfasser hat die Ver- 
suche am 8. Maı 1911 begonnen und am 27. Juni desselben Jahres, 
also nach etwas mehr als 7 Wochen abgeschlossen, da um diese 
Zeit die Hälfte der Tiere der Hitze erlag (!), die andere konserviert 
wurde. Er teilte die teils dem Uterus entnommenen, teils auf 
natürlichem Wege geborenen Jungen eines Weibchens der Varietät 
taeniata in zwei Gruppen, in eine helle und eine dunkle, hielt von 
beiden einen Teil auf gelbem, einen anderen auf schwarzem Papier 
und beschreibt nun die Färbung der Jungen nach 7wöchigem Aufent- 
halte unter diesen Bedingungen. Verf. bringt nun auf einmal Ab- 
bildungen von vier Jungen (Fig. 2—5), von denen er behauptet, sie 
hätten unter dem Einflusse der gelben, bezw. schwarzen Unterlage 
ihre Zeichnung erhalten. Aber er zeigt nicht, wie sie vorher aus- 
gesehen haben. Und das ıst doch nicht so unwichtig. Wenn ein 
junger Salamander aus der hell- oder dunkelgraubraunen Wasser- 
färbung ohne weiteres in die abgebildete Landfärbung übergeht, 
wie will Verf. beweisen, dass die Unterlage an dem Auftreten dieser 
schuld ist? Wenn aber ein schwarzgelbes, anders gezeichnetes Vor- 
stadium vorlag, warum bildet er es nicht ab und lässt unserer 
Phantasie alles zu erraten übrig? Ich möchte nun ferner darauf 
hinweisen, dass Sederov im Irrtum ist, wenn er annimmt, die 
beiden Jungen, die auf Fig. 2 und 4 abgebildet sind, hätten (infolge 
Haltung auf gelbem Papier) mehr Gelb als das Muttertier; es scheint 
diese Selbsttäuschung darauf zurückzuführen zu sein, dass das Gelb 
namentlich bei Fig.2 anders verteilt ist und auf dem Kopfe einen 
größeren zusammenhängenden Raum bedeckt als bei der Mutter. 
Es bleibt aber auch hier zu beweisen, dass die Gelbfärbung dem 


Werner, Einige Bemerkungen zu den Salamandra-Experimenten ete. 4177 


gelben Papier zu verdanken ist, es kann sehr wohl das betreffende 
Jungtier schon von vornherein soviel Gelb gehabt haben. 

Die beiden auf schwarzem Grund gehaltenen Jungen (Fig. 3 
und 5) sind ausgesprochene Kümmerformen und da schon Kam- 
merer in einem Kapitel „Hunger und Mast“ (auf p. Y95ff. seiner 
großen Arbeit!)) angıbt, dass Hunger Dunkelfärbung zur Folge 
habe, so könnte man vielleicht annehmen, dass die Ursache der 
überwiegenden Schwarzfärbung dieser beiden Jungtiere auf diesen 
Umstand zurückzuführen sei, wenn man überhaupt annımmt, dass 
die Zeichnung der Salamander durch äußere Faktoren noch beein- 
flusst werden kann; von ihnen scheinen mir erheblich mehr als die 
Färbung der Umwelt, die chemische Beschaffenheit des Mediums ?) 
von einiger Bedeutung zu sein, obwohl sie ım Freileben des Sala- 
manders kaum eine Rolle spielt. Wenn wir die Secerov’schen 
und Kammerer’schen Experimente und ihre Ergebnisse betrachten, 
so drängt sich uns unwillkürlich die Frage auf: Sind die Verhält- 
nisse, unter denen die Tiere gehalten werden, solche, die erwarten 
lassen, dass sie auch nur einige Monate am Leben bleiben können? 
Ich möchte es sehr bezweifeln. Die ganze Versuchsanordnung ist 
ein Gewaltakt gegen die natürlichen Lebensbedingungen des Sala- 
manders und es erscheint mir höchst unwahrscheinlich, dass ein so 
elend und halbverhungert aussehendes Individuum, wie z. B. Fig. 10 
auf Taf. XIV der Kammerer’schen Arbeit noch 4 Jahre ausge- 
halten haben sollte oder dass eine Behandlung, welche ein Indi- 
vıduum vom Aussehen der Fig. 14 derselben Tafel erzeugt hat, 
natürlichen Lebensbedingungen entspricht. Eın Tier, das ein so 
intensives Bedürfnis hat, sich zu verbergen, wie der Salamander, 
das ım Freien den größten Teil seines Lebens unterirdisch ver- 
bringt, zu zwingen, sich lebenslang auf einer deckungslosen Fläche 
aufzuhalten, einerlei, ob sie nun gelb oder schwarz ist, heisst ein- 
fach, es einem langsamen Sıechtum aussetzen. Hat aber auch 
Kammerer mit den natürlichen Existenzbedingungen von Sala- 
mandra ein Kompromiss geschlossen — und dass er dies in manchen 
Fällen getan hat, indem er den Tieren Moos zum Verbergen gab, 
ist außer Zweifel —, wo bleibt dann die Elimination von Faktoren, 
die das Experiment beeinflussen können?, und warum sträubt er 
sich so hartnäckig dagegen, Ergebnisse, die an freilebenden Sala- 
mandern gewonnen wurden und die den seinigen diametral gegen- 
überstehen, anzuerkennen? Es ist ein wenig Selbsttäuschung dabei, 
wenn Kammerer annimmt, dass bei seinen Versuchen die Sala- 


1) Vererbung erzwungener Farbveränderungen IV. Archiv f. Entwickelungs- 
mechanik XXXVI, 1913. 

2) Irena Pogonowska, Über den Einfluss chemischer Faktoren auf die 
Farbenveränderung des Feuersalamanders. Archiv f. Entwickelungsmechanik XXXIX, 
1914, p. 351—362 

XXXV. 12 


178 Werner, Einige Bemerkungen an den Salamandra-Experimenten etc. 


mander unter gleichmäßigeren Bedingungen leben als an vielen 
Fundorten, an denen z. B. ich selbst sie beobachtet habe — dass 
freilich an solchen Fundorten, wo Bodengrund, Feuchtigkeits- und 
Belichtungsverhältnisse jahraus jahrein mindestens ebenso gleich- 
artig sind wie bei den Kammerer’schen Versuchen, sehr stark 
gelbe und sehr stark schwarze Salamander jahrelang am selben 
Fleck hausen, ist freilich sehr ärgerlich. 

Bei Betrachtung der Schnelligkeit, mit der jetzt mitunter 
experimentelle Untersuchungen zur Welt gebracht und (s. Sederov)?) 
mit spärlichem Material Ergebnisse gewonnen werden, die auf Be- 
achtung Anspruch machen sollen, drängt sich mir — und wohl auch 
manchem anderen Leser bereits vorher — die Frage auf: Warum 
werden diese Stadien nicht photographiert? Heutzutage, wo in jeder 
besseren Aquarien- und Terrarienzeitschrift gute Photos eine ganz nor- 
male Erscheinung sind (man vergl. z. B. die Abbildungen von Molge 
vittata ın den Mitteilungen von Lantz und diejenigen der Salamandra 
caucasica bei Gyren*) sollte eine Arbeit, die auf wissenschaftliche 
Exaktheit Anspruch macht, der Zuhilfenahme der Photographie um 
so weniger entraten, als ja dem Nachprüfer der Untersuchungen 
über Veränderungen des Farbkleides infolge Einwirkung der Um- 


3) Ein anderer Jünger Kammerer’s, Alois Gaisch, bringt in den Verh. 
zool. botan. Ges. Wien, LXII, 1912, p. 54 unter dem Titel „Ein weiterer Beitrag, 
zur künstlichen Schwarzfärbung des gefleckten Salamanders (Sulumandra macu- 
losa Laur.)“ auch gleichzeitig einen weiteren Beitrag zu der Methode, mit der heut- 
zutage mitunter „experimentell zoologisch“ gearbeitet wird. Der Verfasser brachte 
Anfang Mai 1911 einen Salamander in ein Aquaterrarium, dessen Bodenteil schwarzer, 
feuchter Torfmull bildete. Nach 3 Monaten beobachtete er, dass eine Änderung der 
Zeichnung vor sich gegangen war; die Flecken waren viel kleiner geworden, ob einige 
schon verschwunden waren, wagt Verf. nicht zu entscheiden, da er das Tier bis zur 
Entdeckung der Veränderung nicht kontrolliert hatte. Auch hatten die 
Flecken einen düsteren Ton angenommen und es traten innerhalb ihres Grenzbereiches 
eine Menge feiner schwarzer Pünktchen auf. Jedermann, der sich mit Salamandern 
näher befasst hat, erwartet nun, dass das Tier, das augenscheinlich krank und 


außer stande war, sich zu häuten — daher die düstere Färbung der sonst hellen 
Flecken — nächstens eingehen werde; das geschah nun auch; Verf. fand das Tier 


tot im Wasser und stellte fest, dass die düstere Färbung nur scheinbar war und 
unter der alten Haut die gelben Flecken sichtbar wurden. Bei zwei anderen, unter 
gleichen Verhältnissen gehaltenen Exemplaren war trotz wiederhoiten Nachsehens 
keine Veränderung zu beobachten. Resultat der so gründlichen Beobachtung: Der 
Salamander wurde anfangs gar nicht näher angesehen, erst nach 3 Monaten, als er 
(angeblich) verändert war. Die Verdüsterung war eine scheinbare. Die beiden 
„Kontrollsalamander‘‘, bei denen „wiederholt nachgesehen“ wurde, veränderten sich 
— wie zu erwarten stand — gar nicht. Und ein solches Ergebnis nimmt drei 
Druckseiten in Anspruch und soll die Annahmen Kammerer’s stützen. Da kann 
wohl die experimentelle Zoologie sagen: ‚Herr, bewahre mich vor meinen Freunden !“, 
denn solche Freunde sind diskreditierend für sie. 

4) Bl. Aq. Terr. Kunde 23, 1912, p. 181—188; Ber. Senkenbg. Ges. 42, 1911; 
schöne Autochrombilder von Salamandra bei R. Weigel: Über homöoplastische 
und heteroplastische Hauttransplantation bei Amphibien mit besonderer Berück- 
sichtigung der Metamorphose. Arch. Entw.-Mech. XXXVI, 1913, Taf. XXVIII. 


Werner, Einige Bemerkungen zu den Salamandra-Experimenten ete. 4179 


welt außer dem Endstadium, dem Ergebnis des Experimentes eigent- 
lich gar nichts positives zur Verfügung steht. Ergebnisse experi- 
menteller Untersuchungen sollten aber doch nicht nur auf Treu 
und Glauben hingenommen werden müssen, und wo die Möglichkeit 
wirklich vorhanden ist, Vorstadien des endgültigen Resultates ın 
einwandfreier Weise abzubilden, da soll man sie auch benützen. 
Ich kann auch Kammerer den Vorwurf nicht ersparen, dass er 
dieser Mühe ausgewichen ist und es vorgezogen hat, die beob- 
achteten Veränderungen ın vorgezeichnete Umrisse einzutragen. 
Nicht darum handelt es sich, ob die photographischen Abbildungen 
genauer sind als die gezeichneten, sondern darum, dass man den 
Entwickelungsgang der Zeichnung der einzelnen Individuen wirklich 
sehen kann und nicht bloß glauben muss. In der Wissenschaft 
sollen wir uns doch lieber auf das verlassen, was wır sehen können 
(wo wirklich etwas zu sehen ist), als auf das, was uns auch der 
ausgezeichnetste Experimentator zu glauben vorlegt. 

Und dass Kammerer trotz gegenteiliger Außerungen eigent- 
lich nicht sehr darauf erpicht ıst, dass seine Experimente bald 
wiederholt werden, geht aus den Worten seiner Einleitung (p. 7) 
zu der vorzitierten großen Arbeit hervor, in denen er die großen 
Schwierigkeiten eindringlich und nachdrücklich hervorhebt, die dem 
Experimentator bei der Ausführung dieser Versuche begegnen 
würden: „will er hier mit dauerndem und sicherem Erfolg experi- 
mentieren, so muss er ein gutes Stück seines Lebens daran wenden; 
unter einem bis zwei Jahrzehnten geht es nicht ab.“ Wenn das 
nicht Abschreckungstheorie ist, so weiß ich nicht, was es sonst 
sein soll. Einem eventuellen Nachprüfer prophezeien, dass er erst 
vielleicht in 20 Jahren seine Ergebnisse als richtig oder falsch er- 
weisen kann, d. h. doch nichts anderes, als ihm den Wink geben, 
seine kostbare Zeit lieber auf etwas anderes zu verwenden. Ich 
habe eine solche Warnung schon vorgeahnt, als ich in einem 
Referat über Boulenger’s Alytes-Arbeit (Zentralbl. f. Zoologie II, 
1913, p. 349, Ref. 656), der zu wesentlich anderen Ergebnissen kam 
als Kammerer, sagte: „Man muss bedenken, dass diese Versuche 
de facto unkontrollierbar sind, da der Experimentator immer die 
Divergenzen auf nicht vollkommen übereinstimmende Versuchs- 
anordnung beim Kontrollversuch zurückführen kann.“ 

Aus einem Vortrage von F. Megusar während der Versamm- 
lung Deutscher Naturforscher und Ärzte in Wien, 1913°) geht nun 
hervor, dass dieser nicht nur auf Grund unrfangreichen (und, wie ich 
nach Besichtigung seiner Zuchten sagen kann, in tadellosem Gesund- 
heitszustande befindlich gewesenen) Untersuchungsmaterials zu dem 
Ergebnisse gekommen ist, dass die Zeichnung des Feuersalamanders 

5) Siehe das allerdings sehr kurz gehaltene Autoreferat im Sitzungsbericht B, 


Zweite Untergruppe der naturw. Abt. Nr. 13. p. 719. 
12* 


480 Werner, Einige Bemerkungen zu den Salamandra-Experimenten etc. 


durch die Farbe des Bodengrundes nicht beeinflusst wird, sondern 
dass seit einer Reihe von Jahren die Pflege der Versuchstiere gar 
nicht mehr in den Händen Kammerer’s selbst lag, vielmehr 
Megusar anvertraut war, der jedenfalls keine Dezennien brauchte, 
um herauszubringen, was schon von vornherein zu erwarten war — 
dass Kammerer, der selbst die Begriffe von physiologischem und 
morphologischem Farbenwechsel mit Recht auseinanderhält, gar 
nicht bemerkt hat, dass es einen morphologischen Farbenwechsel 
nur insofern gibt, dass während der postembryonalen Entwickelung 
gewisse Zeichnungsformen einander ablösen, d. h. die phylogenetisch 
älteste, die bei der Jugendform auftritt, allmählich (und zwar 
ohne Rücksicht auf die Umwelt) durch eine andere ersetzt 
wird. Es könnte also die Fleckenfärbung sich von bleichgelb zu 
hochgelb und gelbrot verändern, aber von einer relativen Größen- 
veränderung (ein absolutes Wachstum der Flecken gleichzeitig mit 
dem Wachstum des Tieres selbst ist ja selbstverständlich) kann 
nach meinen eigenen Erfahrungen keine Rede sein. Hätte die 
Fleckenzeichnung nicht stammes- oder ım speziellen Falle wenigstens 
familiengeschichtliche Bedeutung, so wäre es höchst unverständlich, 
dass gewisse Zeichnungen, wie die auf dem oberen Augenlid und 
an den Extremitätenwurzeln so hartnäckig sich erhalten. Die von 
einer Mutter stammenden Tiere Megusar’s, die ich gesehen hatte 
(und sie erwiesen sich auch dadurch als Geschwister, dass sie trotz 
großer Zahl alle von gleicher Größe waren — und zwar damals 
einem Stadium, das im Freien überhaupt selten gefunden wird und 
daher unmöglich in so großer Zahl gefangen werden kann) zeigten 
in der Zeichnung unverkennbare Übereinstimmung und zwar trotz- 
dem sie unter den verschiedensten Lebensbedingungen gehalten 
worden waren. (Auch Kammerer spricht an verschiedenen Stellen 
von solchen hochgradigen Familienähnlichkeiten — Taf. X u. XIV, 
Fig. 10—11; Taf. X u. XV, Fig. 16—17 —, merkwürdig ist dabei 
nur, dass die Familienähnlichkeit bei ihm immer erst nach experi- 
menteller Behandlung herauskommt — in den Anfangsstadien merkt 
man nichts davon.) 

Zum Schlusse möchte ich noch bemerken, dass Stadien, wie 
sie die großen Tiere auf Taf. XIII darstellen (Fleckenverdüsterung 
ohne wesentliche Fleckenverkleinerung), sehr leicht dadurch ent- 
stehen, dass man die Tiere recht trocken hält (Kammerer gibt 
selbst an: Q der P-Generation auf trockenem Boden); sie können 
sich dann nicht häuten, ‘die alte Haut, die auf den hellen Flecken 
festhaftet, ruft den Eindruck einer Verdüsterung hervor. Ich bin 
nicht davon überzeugt, ob Kammerer mir auch nur ein Exemplar 
dieser Düsterform vorweisen kann, für das diese Erklärung ver- 
sagen würde. 

Wien, 13. Juli 1914. 


Scheuring, Beobachtungen über den Parasitismus pelagischer Jungfische. 181 


Nachschrift. Erst jetzt im Oktober ersehe ich aus den „Be- 
merkungen zu Kammerer’s Abhandlung: Vererbung erzwungener 
Farbveränderungen IV“ von Erwin Baur (in Arch. Entw.-Mech. 
XXXVII (1914, p. 682—684), dass den Tafeln XIV u. XV der 
Kammerer’schen Arbeit, die allerdings keine Serien, sondern nur 
Anfangs- und Endstadien vorstellen, photographische Aufnahmen 
zugrunde liegen. Schade, dass gerade diese, wie Herr Prof. Baur 
bemerkt, sehr schlechte, vielfach retuschierte Photographien sind, 
schade ferner, dass Kammerer erst jetzt die Retusche der Figuren 
— wenigstens 9 und 26 — auf Taf. XIV u. XV (nicht XV u. XV], 
wie er angıbt) erwähnt. Nicht ganz verständlich ist der Passus 3 
(ad „Anfangs- und Endstadium“) der Aufklärungen Kammerer’s. 
Stellen die hier erwähnten Abbildungen durchwegs’verschiedene Tiere 
vor, so begreift man nicht recht, was ihre Abbildung für einen 
Zweck haben soll; solche Einzelexemplare kann man auch leicht 
zusammenkaufen, man braucht sie nicht zu züchten. Eine einzige 
photographierte Serie wäre vertrauenswürdiger als diese Neben- 
einanderstellung geduldiger Stadien verschiedener Serien. Aber 
eine solche Serienaufnahme vermisse ich schmerzlich. 


Beobachtungen über den Parasitismus pelagischer 
Jungfische. 


Von Dr. Ludwig Scheuring, Helgoland'). 


Symbiose und Parasitismus sind zwei Erscheinungsformen von 
Lebensgemeinschaft, die durch viele Übergänge miteinander ver- 
bunden, es dem Beobachter oft schwer machen, sich für die eine 
oder andere zu entscheiden. Erschwert wird die Trennung beider 
sowohl durch die Variationsbreite der symbiotischen Erscheinungen, 
als auch durch die Mannigfaltigkeit der möglichen parasitären 
Lebensweisen. Bei der Symbiose werden nur in den allerseltensten 
Fällen beide Symbionten der gleichen Gemeinschaft aus dieser ein 
gleiches Maß von Vorteil ziehen; weit mehr wird der Fall eintreten, 
dass das Plus des Einen sich auf Kosten des Anderen vermehrt. 
Verschiebt sich das Verhältnis immer mehr zugunsten des einen 
Gesellschafters, so kommen wir zu Erscheinungen, die sich je nach- 
dem einem Fress- oder einem Ektoparasitismus immer mehr nähern 
und schließlich zu einem echten Parasitismus führen können. Deshalb 
können nur sehr exakte Besbachtungen beider Symbionten in ihren 
natürlichen Verhältnissen und passende Experimente die Frage klar 
entscheiden, haben wir es in diesem oder jenem Fall mit Sym- 
biose oder mit Parasitismus zu tun? 


1) Diese Arbeit wurde dem Biol. Centralbl. im November 1913 eingereicht; 
infolge bedauerlicher Umstände wurde eine frühere Veröffentlichung, entgegen dem 
Wunsche des Verfassers, verhindert. 


482 Scheuring, Beobachtungen über den Parasitismus pelagischer Jungfische. 


In folgendem soll das Verhältnis zweier Tiere, über deren gegen- 
seitige Beziehungen noch Unklarheit bestand, näher betrachtet 
werden. 

In dem Aquarium der Biologischen Anstalt Helgoland werden 
in einem der großen Schaubecken während des Sommers Quallen 
(Oyanea capillata und Aurelia aurita) gezeigt. Häufig sieht man 
hier unter der Scheibe der Haarqualle und zwischen ihren lang 
herabhängenden Fangfäden kleine Fische herumspielen, anscheinend 
völlig unbekümmert um die Nesselzellen, mit denen die langen 
Senker bewaffnet sind. Wir haben es hier mit den Jungen von 
Gadus merlangus und Caranz trachurus zu tun, die beide die Ge- 
wohnheit haben, sich unter dem Schirm der Qualle oder in deren 
nächster Nähe aufzuhalten. 

Über den Zweck dieses eigentümlichen Aufenthaltes wusste 
man nichts ganz Sicheres. Im großen und ganzen ging die land- 
läufige Meinung dahin, dass es sich bei dem Zusammenleben von 
den Jungfischen mit der Qualle um ein „ideelles Freundschafts- 
bündnis“ handle: Die Qualle gewährt der zarten Brut Schutz unter 
und hinter ihren mit Nesselzellen bewehrten Tentakeln und lässt 
auch die Fische von dem Überflusse der an ihren Senkfäden hängen- 
bleibenden kleinen Planktontieren zehren, wofür sie durch diese 
von den parasitischen Amphipoden (Hyperia galba), die sich in ihren 
Schirm einnagen, befreit wird. Jedoch wurde dieser Deutung als 
unbewiesen immer wieder Zweifel entgegen gestellt, und meist 
wurde das Verhältnis von Fisch und Qualle nicht weiter untersucht 
und nur auf die Abhängigkeit des Vorkommens der Jungfische von 
dem der Qualle hingewiesen. 

Die Literaturangaben, die das Zusammenleben von Fischen mit 
Quallen behandeln, sind sehr spärlich und weit zerstreut. Mög- 
licherweise ist mir deshalb auch die eine oder andere Quelle ent- 
gangen, um so mehr, da häufig sich derartige Notizen in größeren 
Arbeiten finden, deren Titel sie nicht vermuten lässt. 

Der erste Forscher, der das Vorkommen von Jungfischen unter 
(uallen beobachtete und sich auch über die Art dieses Verhält- 
nisses äußerte, war A. W.Malm. In Öfversigt af Kong]. Vetenskaps.- 
Akademiens Förhandlingar. Attonde Argängen 1852 berichtet er in 
einem Aufsatze: Über die Brut von (Caranx trachurus (Om yngel 
af Caranz trachurus) auf p. 226 folgendermaßen?). „Während 
meines Aufenthaltes in den Schären von Bohuslän im letzten 
Sommer sagte mir ein alter Fischer, dass der Wittling (Merlangus 


2) Ich gebe das Zitat in deutscher Übersetzung wieder, weil doch die Kenntnis 
des Schwedischen nicht allgemein verbreitet ist. Für die Übersetzung bin ich 
Herrn Geh.-Rat Prof. Dr. Heincke und Herrn Rektor Erichsen, Helgoland, 
zu Danke verpflichtet. 


Scheuring, Beobachtungen über den Parasitismus pelagischer Jungfische. 183 


vulgaris) in der Qualle (Oyanea capillata) „gestiftet“ (geboren) werde; 
ein anderer versicherte, dass die Qualle Heringsbrut fresse. 

Um die Ursache dieser Äußerungen zu ergründen, fing und 
untersuchte ich eine Menge Quallen und fand in einer 7, in einer 
anderen 3 und in einer dritten 5 kleine Junge von Trachurus. Sie 
wurden alle zwischen den Ovarien der Qualle angetroffen. Und als 
ich versuchte, diese kleinen Tiere zu fangen, arbeiteten sie sich so 
weit als möglich unter den Schirm der Qualle. Mit der letzten, die 
ich erhielt, stellte ich folgende Versuche an: Nachdem ich die Fische 
in ein Gefäß mit Wasser gesetzt hatte, erhielt die Qualle ihre Frei- 
heit wieder; und als ich sofort darauf einen Fisch nach dem anderen 
frei ließ, sah ich zu meinem größten Vergnügen, dass alle unter 
die Qualle, die sich um zwei Fuß gesenkt hatte, tauchten und 
augenblicklich unter den Schirm derselben flohen. Der Versuch 
wurde erneuert, aber vier meiner kleinen Fische starben dabei, so 
dass der eine allein seine, wie es schien, geliebte Qualle erreichte. 
Jetzt nahm ich die Qualle und setzte sie in ein am Strande liegendes, 
zur Hälfte gesunkenes Boot, und während der 3 Tage, die ich ın 
Christineberg war, besuchte ich oft diese Qualle, unter deren Ovarien 
sich der kleine Fisch leise bewegte. Nachdem ich den Darmkanal 
des Fisches untersuchte und ıhn voll mit Eiern der Qualle fand, 
zweifelte ich nicht mehr, dass diese kleinen Fische wie eine Art 
Parasiten bei der Oyanea capillata leben. Als Grund für diese meine 
vielleicht gewagte Annahme kann ich weiter anführen, dass ich beı 
Anstellung genauerer Untersuchungen diese Fischjungen niemals 
anders als bei der genannten Qualle antreffen konnte. Es verdient 
auch noch erwähnt zu werden, dass ich niemals eine andere Fischart 
bei der genannten Qualle gefunden habe, obwohl iclı sie dann und 
wann unter tausenden Individuen von Gobius ruthensparri Euphras 
und anderen Fischen fand. Dass die Stachelmakrele schon sehr 
früh zwischen die Ovarien der Qualle geht, um sich dort zu nähren 
und dort bleibt bis der Fisch eine vollkommenere Entwickelung 
erreicht hat, kann schließlich auch daraus gefolgert werden, dass 
die Individuen, die in derselben Qualle gefunden wurden, fast alle 
dieselbe Größe hatten.“ 

In seinem bekannten Werke: Göteborgs och Bohusläns Fauna, 
Ryggradsjuren 1877 kommt Malm p. 421 auf diese Beobachtungen 
zurück und fügt noch einige Ergänzungen hinzu. 1853, 1854, 1873 
konnte er in Christineberg immer das gleiche Schauspiel beobachten. 
Immer fand er junge Stöcker unter der Oyanea capillata. Nur ein ein- 
ziges Mal traf er sie auch unter Rhixostoma aldrovandii an und istgewillt, 
in dieser Tatsache eine Ausnahme zu erblicken, die auf einem Irr- 
tum des Fisches beruhe. P. 485 lesen wir zum ersten Male, dass 
auch junge Brut von Gadus merlangus mit der Qualle zusammen- 
lebt. „Im Sommer kann man vom Lande oder von einem Boot aus 


184 Scheuring, Beobachtungen über den Parasitismur pelagischer Jungfische. 


oft mehrere Exemplaye sehen (gemeint junge Gadus merlangus)... ., 
welche ich in dem klaren Wasser der Qualle CUyanea capillata 
folgen sah, genau if derselben Weise, wie dies bei den Jungen 
von Caranz der Fall ist...“ Am 3. Juni 1856 erhielt ich bei 
Känsö einige Junge von 19—30 mm Länge ın Gesellschaft der ge- 
nannten Qualle; den 7. August 1865 bei Strömstad auf dieselbe 
Weise, welche von 15—30 mm Länge und weiter an derselben 
Stelle in demselben Jahre welche von 50—60 mm Länge, die aber 
getrennt schwammen.“ 

Collet (1875) berichtet, dass während ihres pelagischen Lebens 
die Jungen von Gadus morrhua unter Oyanea capillata und Medusa 
aurita gegen die vielen Gefahren Schutz suchen (p. 106) und dass 
die Brut von Gadus aeylefinus und Gadus merlangus zusammen mit 
Oyanea gefunden wird (p. 108 u. 109). 

Möbius und Heincke erwähnen in ıhrem bekannten Werke: 
Die Fische der Ostsee, sowohl für Caranz als auch für Gadus aegle- 
finus und Gadus merlangus, dass deren Jugendformen zusammen mit 
der Qualle Cyanea capillata vorkommen „Nach Beobachtungen 
anderer Forscher sollen ganz junge Stöcker in den Ernährungs- 
höhlen von Quallen leben“ (p. 216). 

Smitt bezieht sich in: A history of Scandinavian Fishes, was 
Caranz anbetrifft, auf die Beobachtungen von Malm, die durch 
brieflich an Eckström berichtete Angaben von I. W. Grill be- 
stätigt werden (p. 87 u. 88). In bezug auf Schellfischbrut heisst 
es p. 471 „Like the young of several other fishes, of the Horse 
Mackerel and the Cod for example, the Haddock fry according to 
Sars and Collett, seek shelter and food under the bodies of 
Medusae, together with which they drift about, until they are more 
than 50 mm long.“ Auch junge Dorsche suchen nach Smitt den 
Schutz der Qualle auf: „The fry now (10—15 Tage alt) seek shelter 
under Medusae and other floating objekts“ (p. 478). P. 491 be- 
spricht der Autor dann das Verhältnis von jungen Wittlingen zu 
der Qualle, und hier wird zum ersten Male die schon vorn skizzierte 
Ansicht geäußert, dass der junge Merlangus als „Freund“ der Qualle 
diese von ıhren Parasiten befreie... „The fry may be seen assem- 
bled ın fairly great numbers under the large jelly-fish (Oyaneca 
capillata) ın which the sea abounds. Thus the fry of the Whiting 
like those of the Cod and other fishes, fly for shelter to these 
creatures and feed upon the erustaceans which live as parasites ın 
the body of the jelly-fish or adhere to its long, filiform, and slımy 
tentacles. During the summer... small Whiting from 10 to 12 mm 
long may olten be seen keeping close to a jelly-fish for hours, 
following its sluggish movements ın a manner that seems to indi- 
cate a certain intimacy and mutual confidence between these strangely- 
assorted companions.“ 


Scheuring, Beobachtungen über den Parasitismus pelagischer Jungfische. 185 


In den Veröffentlichungen der Internationalen Meeresforschung 
wird häufig das Vorkommen von jungen Gadiden und Caranz 
zusammen mit Quallen erwähnt und die Abhängigkeit der ersteren 
von letzteren betont. Die Art des Abhängigkeitsverhältnisses aber 
wird nieht näher untersucht. 

In „Eier und Larven von Fischen der deutschen Bucht“ be- 
tonen Heincke und Ehrenbaum ausdrücklich, dass man wohl 
das Zusammenleben von Fisch und Qualle schon lange kenne, über 
den Zweck desselben aber noch nicht genügend unterrichtet: seı. 
„Die Jugendformen der Bastardmakrele sind längst bekannt und 
oft beobachtet, namentlich wenn sie in kleinen Gruppen die Schirm- 
quallen der Gattungen Cyanea und Rhixostoma umschwärmen, mit 
denen sie noch nicht völlig aufgeklärte Beziehungen erhalten“ 
(p. 277). 

Ausdrücklich hebt auch Heincke in: Die Eier und Jugend- 
formen der Nutzfische ın der Nord- und Ostsee und die Alters- 
bestimmungen der Nutzfische, die Abhängigkeit des Vorkommens 
von Jungfischen von dem der Quallen hervor. „Es ist bekannt, 
dass die jungen Wittlinge, so lange sie noch etwas kleiner sind 
und eine pelagische Lebensweise führen, fast immer mit Quallen 
(meist Oyanea) zusammen gefunden werden. Ob dieser so 
charakteristische Aufenthalt der jungen Fische unmittelbar neben 


den Quallen, ja zwischen ihren Fangfäden — wie wir es oft ın 
unseren Aquarien und zuweilen auch auf offener See nahe der 
Wasseroberfläche gesehen haben — eine Art echter Lebensgemein- 


schaft ist und welcher Art, ist noch nicht bekannt. Sicher ist, 
dass wir ın unseren Oberflächennetzen fast niemals pelagische Witt- 
linge gefangen haben ohne auch zugleich Quallen zu fischen und, 
dass meist um so mehr Wittlinge in einem Fang waren, je mehr 
Quallen er enthielt. Wie weit übrigens auch die Jungfische anderer 
Gadiden-Arten, wie z. B. kleine Schellfische und Kabeljaue, mit 
Quallen zusammenleben, können wir aus Mangel an Beobachtungen 
noch nicht bestimmt sagen; wir wollen hier nur betonen, dass 
alle unsere pelagischen Jungfisch-Fänge Quallen ent- 
hielten und, dass Kabeljaue und Schellfische, wenn sie in solchen 
Fängen vorhanden waren, immer mit Wittlingen zusammen gefunden 
wurden, wobei die letzteren fast ausnahmslos in der Mehrzahl 
waren“ (p. 39). 

Ähnlich spricht sich der gleiche Forscher in dem 3. Jahres- 
bericht: Die Arbeiten der Kgl. Biologischen Anstalt auf Helgoland 
in.der Zeit vom 1. April 1904 bis 31. März 1905, aus. „Von be- 
sonderem Interesse ıst die durch unsere Untersuchungen festgestellte 
merkwürdige Abhängigkeit der Brut gewisser dorsch- 
artıiger Fische, wie des Kabeljaues, des Schellfisches und des 
Wittlings, von dem Vorkommen der Quallen, besonders der 


456 Scheuring, Beobachtungen über den Parasitismus pelagischer Jungfische. 


sogen. Haarqualle.e Wenn die Brut dieser Fischarten das Larven- 
stadium vollendet hat, führt sie eine Zeitlang ein pelagisches Leben 
ın freiem Wasser und geht erst allmählich zum Leben auf dem 
Meeresboden über, am spätesten der Wittling, am frühesten der 
Kabeljau. Während dieses pelagischen Lebens nun trifft man diese 
drei Fischarten fast ausschließlich in Gesellschaft der ge- 
nannten Quallen, in deren unmittelbarer Nähe und zwischen 
deren Fangfäden sie umherschwimmen. Dieses eigenartige, in seiner 
wahren Bedeutung noch nicht erkannte Zusammenleben von Fischen 
und Quallen ist in der Nordsee ein so enges, dass dort, wo keine 
Quallen sind, auch fast niemals junge Fische der genannten Arten 
gefunden werden. Wir sind in der nordwestlichen Nordsee auf 
hoher See tagelang gefahren, ohne eine Qualle gesehen und ohne 
einen pelagischen jungen Gadiden gefangen zu haben; sobald dann 
aber die ersteren wieder sich zeigten, waren auch diese sofort 
wieder da. 

Da die Quallen in hohem Grade planktonische Tiere sind und 
durch Strömungen wahrscheinlich weit umhergetrieben werden, 
muss man annehmen, dass auch die Verbreitung der jungen Brut 
des Kabeljaues, Schellfisches und Wittlings in erheblichem Maße 
durch Strömungen beeinflusst werden kann.“ 

Einige Seiten später heisst es dann noch in bezug auf den 
Wittling: „... Sie leben von 2—5 cm Länge in den Sommer- 
monaten in enormen Mengen zusammen mit den Quallen 
ın den oberflächlichen und mittleren Wasserschichten und bleiben 
auch sehr häufig noch dort, wenn sie zu 10, 15 und mehr Zenti- 
meter herangewachsen sind“ (p. 79). 

Haben Heincke und Ehrenbaum darauf verzichtet, etwas 
Bestimmtes über die Art der Lebensgemeinschaft zwischen Jung- 
fischen und Quallen zu behaupten, so wird an anderer Stelle die 
Ansicht geäußert, dass die ersteren bei den letzteren Schutz suchten. 
So sagt z. B. Griffini in bezug auf Caranz in einer Ittiologia 
ıtalıana: „Fu osservato come ıi giovanı individul accompagnino 
talora le grosse meduse, riparandosı anche sotto l’ombrello di 
queste, e trovando cosi una protezione neglı organı urticantı di 
quei celenterati“ (p. 408). 

Auch T. W. Bridge und G. A. Boulenger machen sich bei 
der Bearbeitung der Fische in: The Cambridge Natural History 
diese Auffassung zu eigen. „The young... of Caranz trachurus 
keep together in small bands in the neighbourhood of medusae, under 
which they seek shelter when disturbed.“ 

Nicht nur in der Familie der Gadiden und der Öarangiden 
finden wir ein Zusammenleben von Jungfischen mit Quallen. So 
weist z. B. die Familie der Stromateiden eine ganze Reihe von 
Arten auf, die mit Quallen zusammen angetroffen werden. Bekannt 


Scheuring, Beobachtungen über den Parasitismus pelagischer Jungfische. 187 


ist, dass Physalia oft von einem Fisch dieser Familie, Nomeus gro- 
novii Gmelin, begleitet wird. Waite berichtet in Rec. Austral. 
Museum Bd. 4, p. 39 darüber wie folgt: „It is noticed that Nomeus 
is only found on our coast, when the ‚Portuguese men-of-war“ 
are driven ashore, and this is quite in accord with the habit 
of the fish in swimming beneath the Physalia.“ Über die Art der 
gegenseitigen Beziehungen der beiden äußert sich Waite p. 40: 
„The relationship which exists between Nomeus and Physalia is a 
very curious one, and invites speculation as to the advantage of 
the association. A similar partnership is known between fishes and 
medusae. The benefit must be primarily with the fish, for ıt ıs a 
voluntary agent, whereas the Physalia has no power of locomotion. 
If the fish secures safety from ıts enemies by entering the area 
embraced by the deathly tentacles of the Physalia, which attains a 
length of ten to twelve feet, it must be immune to their influence; 
a remarkable condition considering that as I have previously recorded, 
small fish have often been seen in their stomachs and entangled 
in their tentacles* (Waite, Austral. Museum Mem. Bd. 4, 1899, 
p. 15)°). Auch in bezug auf den Nahrungserwerb stellt sich nach 
seiner Ansicht der Fisch bei dem Zusammenleben mit der Qualle 
besser. „It ıs probable that, in addition to protection, the fish 
derives its food from association with Physalia ... The Physalia 
doubtless paralyses many more anımals than ıt can consume. — 
The residue falling to the lot of the fish, which may be present 
to the number of ten* (p. 41). 

Um endlich über das Verhalten von Jungfisch zur Qualle Klar- 
heit zu erhalten, stellte ich in den Becken der Biologischen Anstalt 
eine Reihe von Beobachtungen und Versuchen an. In der Haupt- 
sache wurden dazu junge Wittlinge und Oyanea capillata benutzt 
und nur die wesentlichsten Befunde wurden an jungen Caranz 
nachgeprüft. 

Die Quallen halten sich in den Becken nur für kürzere Zeit 
vollkommen frisch und werden deshalb öfter durch andere ersetzt. 
Bei dieser Gelegenheit fiel mir auf, dass die in dem Becken be- 
findlichen Fische sich gierig auf die bei dem Transport der Qualle 
von dieser losgerissenen Ovarfetzen stürzten und sie verschlangen. 
Dieses Tun erweckte ganz den Anschein, als ob hier die Fische 
ihre natürliche Nahrung vor sich hätten, die selbstredend am liebsten 
genommen wird. Bestärkt wurde ich in diesem Gedanken durch 
den Umstand, dass die Aufzucht von Wittlingsbrut zusammen mit 
Quallen fast immer Erfolg hat, wogegen die Fische, wenn sie ge- 
trennt von Quallen gehalten werden, viel eher sterben, selbst wenn 


3) Nach Garman (Bull. Lab. Nat. Sc. 1896, p. 86) werden aber auch die 
kleinen Nomeus selber häufig von der Physalia getötet und verzehrt. 


488 Scheuring, Beobachtungen über den Parasitismus pelagischer Jungfische. 


sie regelmäßig und reichlich mit frischem Plankton gefüttert werden. 
Beobachtete man die Fische weiter, so konnte man oft genug sehen, 
wie, nachdem sie alle losgerissenen und herumtreibenden Ovar- 
fetzen der Quallen aufgefressen hatten, sie lebhaft nach deren Genital- 
höhlen stießen und Eibündel herausrissen. Aber nicht nur die 
Eierstöcke der Quallen waren solchen Angriffen ausgesetzt, sondern 
oft wurde auch an den Tentakeln herumgezerrt. Nie aber konnte 
ich beobachten, dass die häufig in dem Schirm der Quallen schma- 
rotzenden Amphipoden eo galba), dıe in allen Größen vor- 
handen waren, irgendwie von den Fischen beachtet wurden. 

Bei der Magenuntersuchune eines Fisches, der mehrere Tage 
ständig mit Quallen zusammen war, fand ich die Verdauungsorgane 
prall angefüllt mit Ovar- und Tentakelfetzen, konnte aber nicht die 
Spur von Kopepoden oder anderen Krustern finden, obgleich die 
Quallen (und somit auch die Fische) täglich reichlich mit Plankton 
gefüttert wurden und oft genug tote Krebschen an ihren Senkfäden 
hingen. 

Nun isolierte ich einige Fische verschiedener Größe von den 
Quallen und ließ sie 1—2 Tage hungern. Dann wurden sie mit 
Övarfetzen gefüttert. Rasch wurden diese verschlungen; und solche 
Mengen nahmen die Fische zu sich, dass man ıhrer äußeren Körper- 
form deutlich den überfüllten Magen ansehen konnte. 

Nach einer abermaligen Hungerperiode wurde den Fischen ein 
Gemisch von Ovarfetzen und kleinen lebenden Krustern (Kope- 
poden und Dekapodenlarven) gereicht. Wieder stürzten sich die 
kleinen Wittlinge gierig auf die ersteren, während letztere gar keine 
Beachtung fanden. 

Dann wurde den gut ausgehungerten Tieren eine größere 
Menge von Hyperia galba ın allen Größen vorgesetzt. Aber auch 
nicht eine der Amphipoden fand den Weg in den Magen der jungen 
Wittlinge. 

Auf reines Plankton, das den Fischen gereicht wurde, gingen 
die meisten gar nicht; nur die größeren Exemplare (über 9 cm) 
nahmen nach einigem Zögern wenige Kruster, aber, wie es schien, 
durchaus nicht mit Eifer und Fresslust, sondern nur weil sie an- 
scheinend der Hunger dazu trieb. Die jüngsten Fische dagegen 
weigerten die Annahme von Plankton vollkommen. 

Alle die vorliegenden Versuche wurden mehrfach wiederholt 
und auch zum Teil an Caranxz nachgeprüft. Nach ihnen steht so- 
mit fest, dass die jungen Wittlinge und Pferdemakrelen als echte 
Parasiten der Qualle aufgefasst werden müssen. Sie leben aus- 
schließlich von Teilen der Qualle. Malm hatte also mit seiner 
diesbezüglichen Vermutung recht. Die Qualle hat von dem Zu- 
sammenleben mit den Fischen gar keine Vorteile, denn ihre Para- 
sıten werden ja von diesen als Nahrung verschmäht; es kann des- 


» 


Scheuring, Beobachtungen über den Parasitismus pelagischer Jungfische. 189 


halb nicht von einem Freundschaftsverhältnis zwischen Qualle und 
Fisch die Rede sein, es handelt sich um einen Parasitismus, 
nicht um eine Symbiose. 

Fragen wir uns, wie und warum sich vermutlich das Para- 
sitieren der Jungfische bei den Quallen herausbildete, so müssen 
wir den Grund hierfür in einer Anpassung an das.pelagische Leben, 
verbunden mit einem stigmotaktischen Fluchtinstinkt, suchen. 

Sehr viele freilebende Jungfische werden nur unter treibenden 
Algen u. s. w. angetroffen. Diese gewähren ihnen sowohl Schutz 
als auch Nahrung; bei Verfolgung verschwinden die Larven rasch 
unter und zwischen dem Gewirr von Halmen und Stengeln, und 
die an den Pflanzen ansitzenden und daran herumkriechenden Tiere 
bilden ihre Hauptnahrungsquelle. Treibende Tangmassen finden 
sich aber immer mehr ın der Nähe der Küste als auf der offenen 
See. Extrem pelagische Larven werden deshalb auf der Hochsee 
nicht genug Unterschlupf unter derartigen Treibmassen finden. 
Diese passen sich nun den rein pelagischen, ebenfalls treibenden 
Quallen an und suchen bei ihnen, genau wie ihre Verwandte unter 
Algen, Schutz und Nahrung. 

Eine gute Stütze für diese hier skizzierte wahrscheinliche Heran- 
bildung des Parasitismuses bietet das Verhalten der Jungfische ver- 
schiedener Gadiden. 

Die jungen Gadus pollachius führen kein eigentlich pelagisches 
Leben und werden ausnahmslos unter und zwischen Algen der 
Strandregion gefangen. Gadus virens zeigt schon etwas die Ten- 
denz zum Leben in freiem Wasser; seine Larven finden sich haupt- 
sächlich unter Triftmassen. Gadus morrhua lebt wohl in der Jugend 
pelagisch, geht aber früh zum Leben auf dem Grund und in der 
Tangregion über. Seine Brut wird ın der Hauptsache unter treiben- 
den Algen angetroffen, kommt aber auch zuweilen unter Quallen 
vor. Später als der Dorsch geht der Schellfisch!) zum Boden- 
leben über. Seine Larven schätzen denn auch das Zusammenleben 
mit der Qualle, obgleich auch ihr Vorkommen unter Triftmassen 
allgemein ist. Der pelagischste Gadide ist der Wittling. Seine 
Brut ist vollkommen auf das Parasitieren bei der Qualle spezialisiert 
und hat verlernt, sich, wie ihre Verwandten, von kleinen Krustern 
zu nähren. (Man vergleiche die oben zitierten Beobachtungen von 
Heincke.) 

Durch meine Experimente wurde die Frage nach der Immunität 
der Jungfische gegen die Nesselzellen der Qualle nicht angeschnitten. 
Ich möchte dazu nur die Vermutung äußern, dass eine derartige 


4) Ich hatte leider keine Gelegenheit, mit jungen Gadus aeglefinus zu experi- 
mentieren, um festzustellen, ob diese noch Plankton, besonders kleine Kruster als 
Nahrung annehmen. 


190 Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen ete, 


absolute Unverletzbarkeit des Fisches nicht angenommen zu werden 
braucht. Die Mund- und Rachenpartien müssen zwar gegen die 
Wirkung der beiden unempfindlich sein, da die Tentakel ja ge- 
fressen werden. Im übrigen kann man häufig sehen, wie es dem 
Fisch gelingt, infolge seiner geschickten Bewegungen die Berührung 
der nesselnden Fäden mit dem Körper zu vermeiden. Außerdem 
fragt es sich doch noch, ob bei einer eventuellen Berührung die 
Nesselfäden genug Kraft haben, die ziemlich dieke schleimige Epi- 
dermis des Fisches zu durchstoßen. 


Literaturverzeichnis. 

Bridge, T. E. and Boulenger, G. A. 1904. Fishes. In: Cambridge Natural 
History, Bd. 7. 

Collet, R. 1875. Norges Fishe med Bemaerkninger om deres Udbredelse, Trykt 
som Tillaegsh. til Vidensk. Selsk. Forh. f. 1874. 

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Heincke, Fr. und Ehrenbaum, E. 1900. Eier und Larven von Fischen der 
Norddeutschen Bucht. In: Wiss. Meeresunters. N. F., Abt. Helgoland, Bd. 3. 

Heincke, Fr. 1905. Die Eier und Jugendformen der Nutzfische der Nord- und 
Ostsee und die Altersbestimmungen der Nutzfische. In: Rapports et Proc®s- 
verbeaux, III. Gesamtbericht, Anlage E. 

— 1906. Die Arbeiten der Kgl. Biologischen Anstalt auf Helgoland im Interesse 

der Internat. Meeresforschung in der Zeit vom 1. April 1904 bis 31. März 
1905. In: ‘Die Beteiligung Deutschlands an der Internat. Meeresforschung, 
III. Jahresbericht. 

Malm, A. W. 1852. Om yngel af Caranx trachurus, in Öfersigt af Kongl. Vitensk. 
Akad. Förh. Attonde ÄArgängen 1852. 

— 1877. Göteborgs och Bohusläns Fauna, Ryggradjuren. 

Möbius, K. und Heincke, Fr. 1883. Die Fische der Ostsee. Kiel. 

Smitt, F. A. 1893. A History of Scandinavian Fishes, II. Ed. 

Waite, E. R. 1908. Additions to the Fish-Fauna of Lords Howe Islands, Nr. 2. 
In: Rec. Austral. Mus. Bd. IV, 1901—1903. 


Das Orientierungsproblem im allgemeinen und auf 
Grund experimenteller Forschungen bei den Ameisen!'). 
Von Dr. med. Rudolf Brun, 

Assistent an der Nervenpoliklinik der Universität in Zürich. 

M.H.! Das Problem der Orientierung im Raum bietet bekanntlich 
auch beim Menschen ein nicht geringes psychophysiologisches und 
klinisches Interesse; — ıch erinnere hier nur an das staunenswerte 
Örientierungsvermögen, welches, nach den Berichten zahlreicher 
Forschungsreisender, Angehörige gewisser wilder Völkerschaften an 
den Tag legen sollen, sowie andererseits an jene merkwürdigen und 
schweren Orientierungsstörungen, welche der Neurologe bei der 
Rinden- und bei der sogen. Seelenblindheit zu beobachten Gelegen- 


1) Vorträge, gehalten in der psychiatrisch-neurologischen Gesellschaft in 
Zürich, am 12. Dezember 1914 und am 23. Januar 1915. 


Brun, Das Örientierungsproblem im allgemeinen etc, 191 


heit hat. Doch ist diese Frage beim Menschen naturgemäß eine 
außerordentlich verwickelte; sie ist hier (wie übrigens auch bei den 
Säugern) experimentell noch kaum ernstlich in Angriff genommen) 
und daher selbst mit Bezug auf die Beteiligung der wesentlichsten 
Komponenten noch sehr wenig geklärt. Dagegen vermag die experi- 
mentelle Analyse der um vieles einfacheren Verhältnisse bei 
niedrigeren Organismen (Vögeln, Insekten) uns wenigstens einen 
rohen Einblick in die Prinzipien zu gewähren, nach denen der kom- 
plizierte Mechanismus der Fernorientierung sich abwickelt, und 
eine Reihe wichtiger Gesichtspunkte als Basıs für künftige Frage- 
stellungen. Durchgeht man aber die reiche diesbezügliche Lite- 
ratur, so ist man vielfach überrascht zu sehen, wie willkürlich 
manche sonst streng wissenschaftliche Autoren bei der theore- 
tischen Beurteilung ihrer an sich sehr sorgfältigen und klaren 
Beobachtungen verfuhren; — eine Willkür, die vielfach selbst vor 
der Aufstellung ganz abenteuerlicher, physiologisch unbegreiflicher 
und schon erkenntnistheoretisch von vornherein unhaltbarer Hypo- 
thesen nicht zurückschreckte: Geheimnisvolle, noch unentdeckte 
Kräfte (Fabre, Bethe), eine „absolute, von allen sinnlichen An- 
haltspunkten der Außenwelt unabhängige innere Richtungskraft“ 
(Cornetz), eine absolute Kenntnis der vier Kardinalpunkte des 
Raumes (Berthelot), Wahrnehmung des Erdmagnetismus (V iguier) 
oder „infraluminöser Strahlen“ (Duchatel), ein „nasaler Raum- 
sinn* (Öyon), eine minutiöse kinästhetische Registrierung sämtlicher 
beim Hinweg ausgeführter Körperdrehungen (Bonnier, Reynaud, 
Pieron), eine Polarisation chemischer Duftteilchen (Bethe); — 
alle diese und noch manche andere mysteriöse Fähigkeiten wurden 
nacheinander zur „Erklärung“ der Fernorientierung der Brieftauben, 
Bienen und Ameisen mit herangezogen. Die Ursache aller dieser 
wissenschaftlichen Missgriffe ist m. E. in einem gewissen Mangel 
an allgemein-biologischen Gesichtspunkten zu suchen; es fehlte 
an einer festeren theoretischen Grundlage, welche eine einheitliche 
Betrachtungsweise der Orientierungsphänomene im allgemeinen, 
ihrer verschiedenen biologischen Stufen und der allgemeinen psycho- 
physiologischen Gesetze, welche sie beherrschen, ermöglicht hätte. 
Eine solche theoretische Basis habe ich in meiner Monographie 
über die Raumorientierung der Ameisen?) in ihren Umrissen zu 
skizzieren versucht und die dabei gewonnenen Gesichtspunkte 
haben sich mir auch bei meinen speziellen experimentellen Frage- 
stellungen als praktisch und fruchtbar erwiesen. Ich möchte Sie 


2) Systematische Untersuchungen über den kinästhetischen Richtungssinn des 
Menschen wurden erst in jüngster Zeit von Szymanski (Pflüger’s Arch. f. d. 
ges. Phys. 1913) ausgeführt. 

3) Brun, Die Raumorientierung der Ameisen und das Orientierungsproblem 
im allgemeinen. — Gustav Fischer, Jena 1914. 


199 Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen etc. 


daher auch an dieser Stelle zunächst mit diesen allgemeinen Ge- 
sichtspunkten bekannt machen, bevor ich, im zweiten Teile meines 
Vortrages, zur Darstellung der experimentellen Ergebnisse bei den 
Ameisen übergehe, — um so mehr, als eine solche theoretische 
Übersicht Ihnen auch das Vers ‚tändnis der dort zu erörternden, oft 
recht komplizierten Versuchsanordnungen wesentlich erleichtern 
dürfte. 
T: 
Über Raumorientierung im allgemeinen. 

Als Orientierung ım Raum können wir ganz allgemein die 
Fähigkeit der Organismen definieren, ihren Körper oder Teile des- 
selben ın bestimmter Weise auf die einwirkenden Reize einzustellen, 
bezw. ihre räumliche Fortbewegung in irgendeiner gesetzmäßigen 
Weise auf die betreffenden Reizquellen zu beziehen. Nach dieser 
allgemeinen Definition kommt die Orientierungsfähigkeit wohl sämt- 
lichen Organısmen, auch den sesshaften, ohne Ausnahme zu: Sie 
ist eine primäre Eigenschaft des lebenden Protoplasmas und als 
solche schon mit jeder primären Reizbeantwortung verknüpft. 

Versuchen wir, die ungeheure Mannigfaltigkeit aller hier in 
Betracht kommenden Erscheinungen nach biologischen und physio- 
logischen Gesichtspunkten zu gruppieren, so können wir sie zu- 
nächst zwanglos ın zwei Hauptkategorien unterbringen und unter- 
scheiden: 

I. Eine propriozeptive (absolute) und II. eine exterozeptive 
(relative, relationelle) Orientierung. 

I. Die propriozeptive Orientierung empfängt ihre Angaben 
ausschließlich von inneren, d. h. bei passiven oder aktiven Be- 
wegungen ın den bewegten Teilen selbst entstehenden Reizen; sie 
hat deshalb keinerlei nähere Beziehungen zur Außenwelt, sondern 
orientiert den Organısmus lediglich über seine absolute Lage im 
umgebenden Raum, bezw. über die gegenseitige Stellung seiner 
Glieder. Natürlich trıtt die propriozeptive Obiehtrerune nn bei 
der exterozeptiv orientierten Lokomotion jeweilen ausgiebig in 
Funktion, jedoch nur als notwendige Vorbedingung zur hen 
Ausführung der dabei stattfindenden Einzelbewegungen, niemals im 
Sinne einer Direktion der Gesamtleistung, hinsichtlich des Be- 
wegungszieles. 

Die propriozeptive Orientierung ist eine statische oder eine 
dynamische, je nachdem, ob dr Zweck sich ın der einfachen 
Beantwortung der primären een erschöpft, oder ob das 
Resultat dieser primären Antwortbewegungen seinerseits wieder ın 
einem höheren Zusammenhange registriert und zum Aufbau neuer, 
sekundärer Orientierungen verwertet wird. 

1. Bei der statischen Orientierung handelt es sich um ein- 
fache Einstellungsbewegungen des Körpers oder seiner Teile ın 


Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen ete. 193 


einem bestimmten Verhältnis zur Lotrichtung der Schwerkraft. Bei 
den Pflanzen sind diese Bewegungen äußerst träge; sie beruhen 
hier offenbar auf polar ungleicher Wachstumsintensität in den von 
dem Reize getroffenen Zellen und führen so allmählich zu jenen 
Wachstumseinstellungen des Pflanzenkörpers, wie sie als Axotro- 
pismen (Geotropismus, Heliotropismus u. s. w.) bekannt sind. Wir 
können diese primitivste Form der räumlichen Orientierung als 
plasmostatische Orientierung bezeichnen und der neuro- 
statischen Orientierung der Tiere gegenüberstellen, wo die 
betreffenden Einstellungsbewegungen äußerst prompt und in feinster 
Anpassung an die fortwährend stattfindenden aktiven Änderungen 
des Körpergleichgewichts durch Vermittlung komplizierter stato- 
tonischer Sinnes- und Reflexapparate erfolgen. 

2. Die dynamisch-propriozeptive Orientierung baut sich 
auf aus einer mehr oder minder komplizierten zeitlichen Sukzession 
derjenigen sekundären propriozeptiven Registrierungen, welche man 
als Kinästhesien (im weitesten Sinne) zu bezeichnen pflegt. 

Die Statolithenapparate, die Organe der Seitenlinie, die Bogen- 
gänge des Labyrinths, zeigen dem Organısmus passive Lageverände- 
rungen der Körperachse bekanntlich auch dann an, wenn alle übrigen 
Kinästhesien und exterozeptiven Merkzeichen ausgeschaltet sind. 
Dass dem so ist, beweist die interessante Tatsache, dass Taub- 
stumme unter Wasser (wo der myostatische Sinn ausgeschaltet, 
bezw. sehr herabgesetzt ıst) sehr oft jede Orientierung über die 
absolute Lage ıhres Körpers im Raum verlieren und sogar nicht 
mehr wissen, was oben und unten ist. Wir können die Funktion 
der statischen Apparate zusammen mit dem myostatischen Sınn 
(nebst den entsprechenden passiven Spannungswahrnehmungen in 
den Sehnen, Gelenken und der Haut) als passıven Lagesinn 
oder als passive Kinästhesie zusammenfassen. Im Gegensatz zu 
ihm orientiert die aktive Kinästhesie, der Muskelsinn sens. strict. 
oder besser: der „Bewegungssinn“ in ziemlich genauer Weise 
über den jeweiligen aktiven Kontraktionsgrad in den verschiedenen 
Muskelgruppen und somit auch über die bei Ausführung bestimmter 
kinetischer Figuren (z. B. „Vierteldrehung rechts“) zu benutzenden 
Synergien und Sukzessionen. Als Barästhesie („Schwere- oder 
Kraftsinn*“) registriert er ferner in roher Weise die aktive Erhöhung 
des Muskelwiderstandes, welcher beim Bergansteigen zur Überwin- 
dung der Schwere oder beim Bergabsteigen zur Verhinderung des 
passiven Falles erfordert wird und ermöglicht so eine gewisse Schät- 
zung des Neigungswinkels. Und schließlich wäre es denkbar, dass 
auch von der Länge einer zurückgelegten Wegstrecke dadurch eine 
gewisse Vorstellung entstehen würde, dass die Intensität der dabei 
auftretenden Ermüdungsgefühle der Weglänge irgendwie proportional 
ist. In diesem Sinne ist man also auch berechtigt, von einem „Er- 

XXXV. 13 


194 Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen etc. 


müdungssinn“, oder — nach seiner Funktion — geradezu von einem 
'Strecken- oder Podometersinn zu sprechen. 

Die Bedeutung aller dieser Kinästhesien für die räumliche 
Orientierung wird im allgemeinen entschieden unterschätzt; man 
hat sich gewöhnt, dieselben unter die sogen. „dunkeln Empfin- 
dungen“ zu rechnen, welche: keine klarer assozuerten Vorstellungen 
zu erwecken vermögen. Das ist aber ein Irrtum, denn schon die 
alltägliche Beobachtung lehrt, dass diese komplexen Sensationen 
unter Umständen sehr deutliche kınästhetische Engramm- 
sukzessionen?) hinterlassen, die — im Verein mit exterozeptiven 
Sinneserfahrungen, aber nur mit diesen! — auch für die lokomoto- 
rische Orientierung im Raume von der größten Bedeutung sind. 
Jeder weiß z. B. aus eigener Erfahrung, wie sicher man im Dunkeln 
die nötigen Drehungen und Wendungen ausführt, um, sagen wir, 
vom Bette zum Waschtisch oder zur Zimmertür zu gelangen, Aber 
hier hat uns der Tastsınn zuvor über die relative Lage des Bettes 
belehrt und von diesen exterozeptiven Anhaltspunkten aus können 
wir dann getrost die gewohnte kinästhetische Reise ins Dunkle an- 
treten, die uns im fremden Hotelzimmer natürlich an ganz verkehrte 
Orte hinbefördern würde. — Noch viel feiner sind die kinästhetischen 
Engrammsukzessionen bekanntlich bei den Blinden entwickelt; sie 
bilden hier wohl den wesentlichsten Inhalt des Engrammschatzes, 
welcher diesen Leuten ihre oft so staunenswerte Sicherheit in den 
ihnen bekannten Räumen, ja selbst in den Straßen ihrer Heimat- 
stadt verleiht. 


II. Während die propriozeptive Orientierung sich nur auf die 
Lage und Bewegung des Körpers ın einem sozusagen „absoluten“ 
Raume bezieht, orientieren die exterozeptiven Sinne den Organis- 
mus relationell, d. h. sie setzen ıhn in Beziehung zu ganz be- 
stimmten Punkten ın der Außenwelt. Die notwendige Voraus- 
setzung hierzu ist natürlich eine mehr oder minder scharfe sinn- 
liche Lokalisation der betreffenden Reize, oder mit anderen 
Worten: Die Ausstattung der betreffenden Sinne mit Ortszeichen. 
Sich im Raum exterozeptiv orientieren heisst also: Ex- 
terozeptive Reize auf den rezipierenden Sinnesflächen 
scharf lokalisieren. 

Ein Beispiel wird Ihnen dies klar machen: Beim Menschen kommt 
der Geruchssinn für eine exaktere räumliche Orientierung nur deshalb 


nicht in Betracht, weil die rezipierende Sinnesfläche — die Riech- 
schleimhaut — tief ım Inneren des Schädels versteckt liegt und 


daher die von den verschiedenen Gegenständen ausgehenden Ge- 


4) Ich bediene mich im folgenden (wie schon in früheren Arbeiten) zur Bezeich- 
nung mnemischer Vorgänge im wesentlichen der einfachen und klaren Terminologie 
von R. Semon (Die Mneme, 2. Aufl., Leipzig 1908). 


Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen ete. 195 


ruchsemanationen nicht räumlich getrennt, sondern in diffuser 
Mischung empfängt. Anders bei den Ameisen: Hier sind die 
Geruchssensillen oberflächlich an symmetrischen und äußerst be- 
weglichen Organen, den Fühlern, angebracht und mit diesen ihren 
„beweglichen Nasen* (wie Forel sich treffend ausdrückt) pflegen 
die Ameisen außerdem fortgesetzt alle Objekte, die sie beriechen 
wollen, ın allen Ebenen des Raumes abzutasten. Der Geruchssinn 
der Ameisen ist also ein Kontaktgeruchssinn, ein relationeller 
„topochemischer Sinn“ (Forel), welcher seinen Trägern ganz 
exakte olfaktorısche Raumempfindungen (und event. olfak- 
torısche Raumvorstellungen) vermitteln muss. — 

Die exterozeptive Orientierung fängt nicht erst bei der Loko- 
motion an, sondern sie erstreckt sich zunächst auch 

1. auf den eigenen Körper und dessen nächste Umgebung. 
Sie kann hier eine reflektorische oder eine spontane sein. 

a) Zu den exterozeptiven Orientierungsreflexen ge- 
hören alle diejenigen reflektorischen Antwortbewegungen, welche 
mit Ortszeichen versehen sind, d. h. deutlich nach der gereizten 
Stelle hinzielen. Unter den spinalen Orientierungsreflexen dieser 
Kategorie sind der Wischreflex des dekapitierten Frosches (bei Be- 
tupfen des anderen Beines mit Säure) und der Kratzreflex des 
Rückenmarkshundes (Sherrington) schöne, jedem Physiologen be- 
kannte Beispiele. Von den kortikalen Reflexen gehören hierher 
der Plantarreflex des Fußes, die Seh- und die Hörreflexe (Augen- 
einstellung nach dem optischen Reiz, Kopf- und Blickwendung nach 
der Schallquelle). 

b) Die höchste Stufe der orientierten Gliedbewegungen bilden 
die spontanen Zielbewegungen, das Greifen, Zeigen, Abtasten 
mit den Fingern, das Fixieren mit den Augen u.a. m. 

2. Mit dem Auftreten der spontanen Lokomotion nimmt 
die Orientierung im Raum wesentlich andere Formen an. Sie wird 
zur lokomotorischen Fernorientierung, welche nicht mehr 
allein auf die Befriedigung unmittelbarster Bedürfnisse des nächsten 
Raumes hinzielt, sondern zum Teil auf entferntere biologische Ziele 
gerichtet ist: Aufsuchung des andern Geschlechts, Herbeischaffung 
von Nahrung und Baumaterial zum Nest — oft aus weiter Ferne, 
endlich Nestwechsel, Raub- und Kriegszüge aller Art mit voraus- 
gehenden Erkundungsreisen einzelner: Eine ganze biologische Welt. 

Während eine reflektorische Gliedorientierung gewöhnlich durch 
jeden beliebigen (genügend kräftigen) Reiz der betreffenden Sinnes- 
qualität ausgelöst werden kann (z. B. eine Augeneinstellungsbewegung 
durch jeden beliebigen optischen Reiz), so ist für die orientierte 
Lokomotion charakteristisch, dass es hier selbst in den aller- 
primitivsten Fällen nur ganz bestimmte, nach Quantität und Qualität 
spezifische Reize sind, auf welche der Organısmus mit einer 

13* 


196 Brun, Das ÖOrientierungsproblem im allgemeinen etc. 


nach Vorzeichen?) und Richtung meist ebenfalls spezifischen Orien- 
tierung antwortet. Ein so spezialisierter Prozess hat nun offenbar 
mit primärer Reizbeantwortung schon nichts mehr zu tun, er setzt 
vielmehr unbedingt noch das Dazwischentreten eines weiteren, 
mnemischen Faktors voraus. Nach der Natur dieses mnemischen 
Prozesses, wie er sich, Hand ın Hand mit der fortschreitenden 
Ausbildung besonderer Reizleitungs- und Reizspeicherungsapparate, 
im Laufe der Phylogenie allmählich differenzierte, kann man nun 
bei der lokomotorischen Fernorientierung wiederum zwei Haupt- 
formen unterscheiden: Eine mehr primitive, die unmittelbare oder 
direkte Orientierung, und eine höhere Stufe, die mittelbare oder 
indirekte Orientierung. 

a) Eine unmittelbare oder direkte Orientierung liegt 
dann vor, wenn das Endziel der Lokomotion als aktueller Reiz 
direkt sinnlich wahrgenommen wird. 

Entspricht einem spezifischen Fernreiz ein vorgebildeter 
Mechanismus, der ım ÖOrganısmus gleichsam ab ovo für ıhn 
bereitlag, so ist die resultierende Orientierung als Ekphorie eines 
erblichen Engrammkomplexes zu betrachten und zwar kann 
es sich da wieder entweder um einen Tropismus, oder um einen 
Reflexautomatismus, oder endlich um einen Instinktautomatismus 
handeln. 

Wenn eine direkte Orientierung unabänderlich ın der Einfalls- 
achse des Reizes erfolgt, so ist man berechtigt, von einem Tropis- 
mus (Loeb, Verworn) zu sprechen. Doch sollte m. E. diese 
Bezeichnung ausschließlich auf die entsprechenden einfachen Reiz- 
beantwortungen niederster Organismen, bei denen weder spezifische 
Sinnesorgane noch ein zentrales Nervensystem ausgebildet sind, 
beschränkt bleiben®). Bei den höheren Tieren, wo diese Apparate 
vorhanden sind, bringt der „tropische Reiz“ gewöhnlich einen kom- 
plizierteren vorgebildeten Automatismus zur Auslösung, nämlich 
einen Reflex-, bezw. einen Instinktautomatismus. 

Eine reflektorische Fernorientierung darf nur dann an- 
genommen werden, wenn eine zwangsmäßig erfolgende Lokomotion 
zeitlich streng an die Fortdauer des adäquaten richtunggebenden 
Reizes gebunden ist und bei Erlöschen dieses Reizes sofort eben- 
falls aufhört. Ein Frosch z. B. kriecht und springt nur so lange 
nach der Fliege, als diese sich bewegt; sobald sie stillsitzt, erlischt 


5) Nach der Reizquelle hin oder von ihr weg. 

6) Vollends als Missbrauch ist es zu bezeichnen, wenn Szymanski (Arch. 
f. d. ges. Physiologie 138. 1911) neuerdings sogar den Begriff des „Mnemo- 
tropismus“ aufstellt und darunter solche Fälle versteht, wo eine bestimmte Rich- 
tung unter dem Einfluss einer mnemischen Erregung (z. B. bei Ameisen in- 
folge der Erinnerung an eine vorher stattgehabte Winkelabweichung, zu der man 
sie gezwungen hatte) eingeschlagen wird. „Tropisch“ im eigentlichen Sinne des 
Wortes können unter allen Umständen nur aktuelle (originale) Reize wirken. 


Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen ete. 197 


das Interesse des Amphibiums an dem soeben noch anscheinend 
heiß begehrten Nahrungsobjekt. Wir können solche reflektorischen 
Fernorientierungen als einphasige Bewegungskomplexe be- 
zeichnen, weil hier der hereditäre Engrammkomplex sich in der 
einen Phase der orientierten Lokomotion vollständig erschöpft. 

Anders beim Instinktautomatismus. Hier ekphoriert der 
primäre Richtungsreiz einen bereits hochdifferenzierten, mehr- 
phasigen hereditären Engrammkomplex, der sich, einmal angetönt, 
durch alle seine Phasen in ziemlich autonomer Weise, d.h. unab- 
hängig von der Fortdauer des prımär auslösenden Reizes, 
wie eine willkürliche Handlung, abwickeln kann. Das hängt mit 
zwei Eigentümlichkeiten solcher mehrphasiger hereditärer Komplexe 
(= Instinkte) zusammen: Einmal damit, dass sie aus einer Reihe 
sukzessiv assoziierter Einzelengrammkomplexe (zeitlicher Phasen) 
zusammengesetzt sind, welche durch sogen. „phasogene Ek- 
phorie“* manifest werden können, indem die durch den Ablauf 
jeder Phase jeweilen neu entstandene energetische Situation an 
sich wiederum als „adäquater Reiz“ ekphorisch auf die nächst- 
folgende Phase wirkt”). Zweitens besitzen aber die meisten In- 
stinkte auch eine gewisse Plastizität (individuelle Anpassungs- 
fähigkeit), die sich darin äußert, dass sie sich mit plastischen En- 
grammen, d. h. solchen, welche erst während ihres Ablaufs neu 
erworben wurden, assoziieren und so gewisse Veränderungen (Kor- 
rekturen, Ergänzungen, Hemmungen) ihres Ablaufs erleiden können. 

Ein Beispiel möge das veranschaulichen. Es gibt Nachtschmetter- 
linge, welche den Duft ihrer Weibchen auf kilometerweite Ent- 
fernung zu wittern imstande sind. Sobald ein solcher Schmetter- 
ling diesen spezifischen Duft rezipiert, wird er sich nach derjenigen 
Richtung in Bewegung setzen, nach welcher der Reiz zunimmt. 
Angenommen nun, ein Windstoß verwehe auf einige Minuten diese 
äußerst feine Emanation. Wird das Männchen seinen Flug unter- 
brechen? Keineswegs! Denn da die hereditäre Engrammsukzession 
(in unserm Falle die verschiedenen Phasen des Sexualınstinkts) 
noch nicht durchlaufen ist, sondern sich vielmehr erst in ihrer 
ersten oder Orientierungsphase befindet, so dauert die entsprechende 
mnemische Erregung fort. Da aber anderseits der tropische Original- 
reiz, welcher den Ablauf dieser Phase realisierte, verschwunden 
ist, so kann der Flug des Männchens jetzt natürlich nicht mehr 
orientiert sein, sondern wird einen unruhig hin- und herpendelnden 
Charakter annehmen: Das Tier „sucht“ gleichsam den verloren ge- 
gangenen Reiz°). 

7) Das bedingt zugleich einen gewissen Zwang, die einmal begonnene Suk- 
zession unter allen Umständen zum Ende zu führen: Die mnemische Erregung 
dauert während des ganzen Ablaufs an. 


8) Diese instinktive Unruhe wird regelmäßig beobachtet, wenn man den Ab- 
lauf einer hereditären Engrammsukzession plötzlich dadurch unterbricht, dass man 


198 Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen etc. 


Es besteht aber noch eine zweite Möglichkeit: Das Tier hatte 
vielleicht während seines ziemlich geradlinigen Fluges nach der Duft- 
quelle zugleich konstant das Bild des Mondes in den vorderen Ab- 
schnitten seiner Fazettenaugen wahrgenommen und diesen aktuellen, 
einer ganz andern Sinnessphäre angehörenden Reizkomplex sekun- 
där mit der Richtung seines Fluges assozuert. Dann könnte dieser 
sekundär erworbene plastische Richtungsengrammkomplex nach 
Verschwinden des primär tropischen Reizes offenbar vikariierend 
an dessen Stelle treten und so die bisherige Orientierung wenig- 
stens noch eine Zeitlang aufrecht erhalten: Die ursprünglich direkte 
Orientierung ist sekundär zur indirekten geworden. Ähnliche Mecha- 
nismen, wie der eben angedeutete, sind bei Ameisen tatsächlich 
wiederholt nachgewiesen worden. — 

Bei den bis jetzt genannten Formen der direkten Orientierung 
reicht, wie wir sahen, dıe erbliche Mneme wenigstens zur Erzeugung 
des Initialphänomens vollkommen aus. Es gibt nun aber selbst- 
verständlich auch eine direkte Orientierung, welche auf Ek- 
phorie individuell erworbener plastischer Engramme be- 
ruht. Die Reizkomplexe, welche diese Ekphorie bewirken, treffen 
im Organismus nicht eimen eigens für sie vorgebildeten primären 
Mechanismus, sondern verdanken ıhre sekundär-tropische Kraft 
lediglich dem Umstande, dass ihre erste Einwirkung seinerzeit von 
einer direkten sinnlichen Anziehung oder Abstoßung gefolgt war. 
Es erfolgt dann bei jeder späteren Wiederkehr einer ähnlichen 
(oder auch nur scheinbar ähnlichen) Situation prompt die nämliche 
Reaktion, infolge einer „Ähnlichkeitsassoziation“ oder eines „ein- 
fachen Analogieschlusses“. Ein Beispiel: 

Forel’) reichte Bienen Honig auf künstlichen verschiedenfarbigen Blumen 
aus Papiermache. Nachdem die Bienen den Vorrat durch Zufall entdeckt hatten, 
stürzten sie sich gierig auf sämtliche Artefakte und kehrten erst dann wieder zu 
den natürlichen Blumen zurück, nachdem das letzte Honigtröpflein aufgeleckt war. 
Nach einiger Zeit legte Forel in die Nähe des Blumenbeetes. auf dem die Bienen 
weideten, zwei einfache Stücke roten und weißen Papiers, aber ohne diesmal Honig 
darauf zu tun. Trotzdem stürzten sich alle Bienen sofort wieder auch auf diese 
neuen Attrappen, untersuchten sie peinlich genau und ließen erst dann wieder von 
denselben ab, nachdem sie sich überzeugt hatten, dass wirklich kein Honig darauf 
sei. Bienen, welche jene günstige Erfahrung eines Honigfundes auf Papier früher 
nie gemacht hätten, wären nie dazu gekommen, irgendwelchen farbigen Papier- 
stückchen auch nur die geringste Aufmerksamkeit zu schenken! 


b) Die höchste Stufe der lokomotorischen Orientierungsfähig- 
keit ıst in der mittelbaren oder indirekten Orientierung 


den aktuellen Reiz, welcher die betreffende Phase realisierte, eliminiert. Ich habe 
die Erscheinung, in Ermangelung eines schöneren griechischen Wortes, als „Reiz- 
suchung“ bezeichnet. Dieselbe ist also für das Vorhandensein einer mne- 
mischen Erregung charakteristisch. Das Phänomen wurde u. a. auch von 
Bethe ganz richtig beobachtet, von ihm aber fälschlich als ‚Suchreflex“ bezeichnet. 
9) Forel, A., Das Sınnesleben der Insekten. — Reinhardt, München 1910. 


Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen ete. 199 


erreicht. Was wir unter einer solchen zu verstehen haben, ist nach 
allem früher Gesagten ohne weiteres ersichtlich: Im Gegensatze 
zur direkten Orientierung ist hier das Endziel der Lokomotion nicht 
mehr sinnlich, als direkter tropischer Reiz gegeben, sondern im 
„Sensorium“ des Tieres lediglich als Engramm vertreten. Die Ek- 
phorie dieses Zielengramms veranlasst zwar die Lokomotion 
als solche, d. h. sie bildet den inneren Antrieb zu derselben und 
begleitet sie als mnemische Erregung während ihrer ganzen Dauer, 
doch sagt es natürlich an sich gar nichts aus über die reelle räum- 
liche Lage des Zieles und somit auch nichts über die zur Er- 
reichung dieses Zieles einzuschlagende Richtung. Die Richtung 
der Lokomotion, mit anderen Worten die eigentliche Orien- 
tierung (bei der Realisation) wird hier vielmehr mittelbar be- 
stimmt, durch sekundäre intermediäre Komplexe, welche mit 
dem Reizkomplex des Ausgangspunktes einerseits, mit dem des 
Zieles andererseits assoziativ verknüpft sind und zwar, sofern es 
mehrere sind, durch kontinuierliche sukzessive Assoziation !%). Jeder 
dieser intermediären Reizkomplexe hinterließ bei seiner ersten Ein- 
wirkung einen entsprechenden Engrammkomplex und die gesamte 
Reihe dieser letzteren vom Ausgangspunkt bis zum Ziele bildet so- 
mit einen sukzessiv assoziierten Engrammkomplex. Der Vorgang 
der indirekten Orientierung besteht nun darin, dass jeder dieser 
intermediären Komplexe bei seiner aktuellen Wiederkehr zunächst 
das ıhm entsprechende Engramm zur Ekphorie bringt. Die bei 
diesem inneren Vorgang auftretende mnemische Erregung wird als 
mehr oder minder übereinstimmend mit der betreffenden (sekun- 
dären) Originalerregung empfunden; es findet somit eine Deck- 
empfindung (ein „Gleichklang“) zwischen beiden statt, die wir mit 
Semon als identifizierende mnemische Homophonie be- 
zeichnen; oder vulgärpsychologisch als „Wiedererkennung*“. 
Zweitens wirkt aber diese mnemische Erregung ihrerseits auch 
wieder ekphorisch auf das nächstfolgende Engramm der inter- 
mediären Reihe und erzeugt den Trieb, den diesem zweiten En- 
grammkomplex homophonen Reizkomplex mit den Sinnen aufzu- 
suchen: Es kommt zu jener Erscheinung, die wir bereits im vor- 
hergehenden Abschnitt als „Phänomen der Reıizsuchung“ kennen 
gelernt haben. 


10) Die sukzessive Assoziation einer Reihe aufeinanderfolgender En- 
grammkomplexe kommt nach Semon bekanntlich dadurch zustande, dass die auf- 
einanderfolgenden einzelnen Originalerregungen vermittelst ihrer sogen. „akoluten 
Phasen“ (Abklingungsphasen) kontinuierlich ineinander überfließen, derart, dass 
der Beginn jeder nächstfolgenden Erregung zeitlich noch mit dem Abklingen der 
vorausgegangenen Erregung zusammenfällt, also mit ihr „akolut-synchron“ 
ist. Zeitlich weiter auseinanderliegende Originalerregungen können sich somit nicht 
zu einem sukzessiven Engrammkomplex assoziieren. 


200 Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen etc. 


In dieser Weise wird der gesamte intermediäre Komplex vom 
Ausgangspunkt bis zum Ziele sukzessive wieder abgewickelt, wobei 
natürlich dieser mnemische Ablauf in der ursprünglichen Reihenfolge 
stattfinden muss bei einfacher Wiederholung eines „Hinweges“ 
(Reiteration), dagegen in der umgekehrten Folge, sofern es sich 
um einen Rückweg handelt (sukzessive Reversion). 

Die Rückkehr von einer indirekten Fernreise wäre also dem- 
nach ım Prinzip stets eine sukzessive Reversion des Hinweges 
(„Loi du econtre-pied“ von Reynaud!!)). Die theoretische Be- 
gründung dieses — vom rein logischen Standpunkt aus eigentlich 
selbstverständlichen — Mechanismus begegnet aber, namentlich mit 
Bezug auf die Rückkehr von einer Erstreise, doch gewissen 
Schwierigkeiten: Nach Semon ist nämlich der mnemische Ablauf 
sukzessiv assoziierter Engrammkomplexe bekanntlich ein „polar 
ungleichwertiger“, indem sukzessiv erzeugte Engramme weit stärker 
in der Reihenfolge ihrer Entstehung aufeinander ekphorisch wirken 
als umgekehrt. So wırd z. B. eine in der umgekehrten Tonfolge 
(nach rückwärts) gesungene Melodie niemals erkannt und ebenso 
macht eine bekannte optische Sukzession (z. B. die Bewegungsfolge 
irgendeiner ganz alltäglichen Handlung) einen ganz bizarren Ein- 
druck, wenn sie im Kinematographen nach rückwärts abgewickelt 
wird. Demnach müsste also auch die Rückkehr von einer einiger- 
maßen ausgedehnten Erstreise zum mindesten eine sehr unsichere, 
wenn nicht unmögliche Sache sein, da eben die beim Hinweg suk- 
zessiv angetroffenen optischen Komplexe ın der umgekehrten Reihen- 
folge nicht richtig „assoziiert“ werden können. Allein in Wirklich- 
keit wird eine solche Erstreise niemals auf größere Entfernungen 
ausgedehnt, vielmehr lernen die jungen Tiere die Umgebung ihres 
Nestes nur ganz allmählich auf sukzessive immer weiter ausge- 
dehnten „Orientierungsreisen“ kennen, wobei jede folgende Reise 
den bei der letzten Reise erreichten Endpunkt zu ihrem Ausgangs- 
punkt nımmt!?). Der Endpunkt «a der ersten Reise ist sozusagen 
noch in Sehweite des Nestes gelegen, er wird daher mit dem Kom- 
plex Nest noch akolut-synchron assozuert und die erste Rückkehr 


11) Reynaud, Theorie de l’instinet d’orientation, ©. R. Acad. Sc. 125, 1897. 
— ND’orientation chez les oiseaux, Bull. Inst. gen. Psychol. I, 1902. — Bonnier 
(Revue scientif. 1598) und Pi@ron (Bull. Inst. gen. Psychol. 1904) führten die Er- 
scheinung auf den „Muskelsinn“ zurück, d. h. sie stellten sich vor, dass die Tiere 
beim Rückweg eine minutiöse sukzessive Reversion sämtlicher beim Hinweg evol- 
vierter kinetischer Figuren ausführen. 

12) Dieser Modus ist durch Hachet-Souplet (Annales de Psychol. Zool. 
V, 1902) bei Brieftauben, durch v. Buttel-Reepen (Biol. Centralbl. 1900) bei 
jienen, durch Bates (The Naturalist on the River Amazone, London 1873) und 
C. und E. Peckham (Wisconsin Nat. Hist. 1893) bei anderen fliegenden Hyme- 
nopteren, durch Ernst (Arch. f. d. ges. Psychol. 1910 und 1914) und mich (l. e.) 
bei Ameisen übereinstimmend nachgewiesen worden. 


Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen ete. 201 


ist nicht eine sukzessive, sondern eine simultane Reversion des 
akolut-synchronen Engrammkomplexes a—-N. Der nämliche Vor- 
gang wiederholt sich bei der zweiten Reise (von a aus) hinsichtlich 
des Komplexes b und so fort, bis schließlich eine ausgedehnte, 
durch zahlreiche Intermediärkomplexe a—x vermittelte Fernreise 
entsteht. Die sukzessiv assoziierten Intermediärkomplexe 
einer ausgedehnten indirekten Fernreise sind also im 
wesentlichen nichts anderes als die ursprünglichen End- 
etappen der früheren Teilreisen und die indirekte Orien- 
tierung auf Grund sukzessiv assoziierter Engramm- 
komplexe kann in der Weise aus der direkten Orien- 
tierung abgeleitet werden, dass man sie auffasst als eine 
etappenweise fortschreitende Serie direkter ÖOrien- 
tierungen auf diese Intermediärkomplexe, als die ur- 
sprünglichen direkten Ziele’), Und die Rückkehr von 
einer solchen etappenweisen Fernreise ist in Wirklich- 
keit weniger eine unmittelbare Reversion des gesamten 
sukzessiven Engrammkomplexes, als eine Reiteration 
einer zweiten, in der umgekehrten Richtung ablaufenden 
Sukzession, welche ebenso etappenweise wie dieHinweg- 
Sukzession und unabhängig von derselben ım Laufe der 
wiederholten Rückwege erworben wurde. 

Wir gingen bisher von der stillschweigenden Voraussetzung 
aus, dass die indirekte Fernorientierung stets durch mehrere oder 
zahlreiche verschiedene Intermediärkomplexe vermittelt werde. Das 
trifft aber in Wirklichkeit nur in einer sehr beschränkten Zahl von 
Fällen zu, für welche ich allein den Namen des echten, asso- 
zıativen Ortsgedächtnisses reservieren möchte. Unter einem 
echten Ortsgedächtnis wäre also — um eine exakte Definition des- 
selben zu geben — nur diejenige höchste Stufe der indirekten Orien- 
tierungsfähigkeit zu verstehen, welche auf dem Vorhandensein einer 
Sukzession zahlreicher qualitativ verschiedener („differenzierter“) 
Ortsengramme beruht. Der Typus eines solchen Ortsgedächtnisses 
ist die Orientierung des Menschen in den Straßen einer bekannten 
Stadt, nach den zu beiden Seiten sukzessive angetroffenen optischen 
Engrammen der verschiedenen Gebäudekomplexe, verbunden mit 
den kinästhetischen Engrammkomplexen eines Abzweigens bald 
nach links, bald nach rechts, u. s. w. Es ıst klar (und damit haben 
wir eine letzte Eigentümlichkeit dieser differenzierten indirekten 
Orientierung erwähnt), dass bei einem solchen Orientierungsmodus 
die relative Richtung der Orientierung (relativ zum Aus- 


13) Nur mit Hilfe dieser Annahme ist es auch zu erklären, wie diese schein- 
bar ganz zufällig gewählten Intermediärkomplexe, die ja an sich gar nichts mit dem 
Endziel der Reise zu tun haben, überhaupt dazu kommen, als „Anhaltspunkte“ (zur 
Agnostizierung des Weges bis zu diesem Ziele) zu dienen. 


202 Brun, Das Örientierungsproblem im allgemeinen ete. 


gangspunkt oder zum Ziele) unter allen Umständen un- 
mittelbar eindeutig bestimmt wird durch die zeitliche 
Folge der verschiedenen Engrammkomplexe, d. h. durch 
ihre Ablaufsrichtung. — 

In zahlreichen einfacheren Fällen genügt aber schon ein ein- 
ziges intermediäres Richtungszeichen, um die indirekte Orientierung 
zu ermöglichen, nämlich dann, wenn dieses Richtungszeichen die 
gesamte Strecke vom Ausgangspunkt bis zum Ziele als stabiler 
Komplex begleitet. Das ist z. B. der Fall bei einer Ameisenstraße, 
die von dem am Fuße einer Mauer gelegenen Nest N dieser Mauer 
entlang zu einem Blattlausstrauche 1 führt (Fig. 1). 





Fig. 1. 


Es ist klar, dass ein so beschaffener gleichförmiger Komplex 
nur in globo, in einer zeitlichen Phase engraphiert wird; er hinter- 
lässt einen einphasigen (globalen) Engrammkomplex, zum 
Unterschied von den mehrphasigen (differenzierten) Komplexen, auf 
denen das echte, sukzessiv assozierte Ortsgedächtnis beruht. 

In dem soeben angeführten Beispiel wird die globale Orien- 
tierung durch die Mauer gleichsam kanalısiert; wir können deshalb 
diese Form füglıch als kanalisierte Orientierung bezeichnen. 
In diese Kategorie gehören offenbar alle Fälle, bei denen sich die 
Orientierung auf räumlich vorgezeichneter Bahn bewegt, sei 
es, dass wirkliche gebahnte Straßen oder räumliche Wegmarken 
aller Art: Fußspuren, Geruchsfährten, bestimmte topographische 
Linien, wie Mauern, Flussufer o. dgl. als orientierendes Merkmal 
benutzt werden. Das Gemeinsame aller dieser Fälle liegt darin, 
dass hier der orientierende globale Reizkomplex in unmittelbarer 
Nähe der rezipierenden Sinnesflächen (Augen, Geruchs- und Tast- 
organe) gelegen ist, so dass schon eine geringe seitliche Abweichung 
das Tier außerhalb des Wirkungsbereiches der betreffenden Reiz- 
quelle bringt und es daher notwendigerweise vollständig desorien- 
tieren muss. 

Ganz anders verhält sich die Sache in denjenigen Fällen, wo 
die Quelle des globalen Orientierungsreizes sich ın relativ unend- 
licher Entfernung von den aufnehmenden Sınnesflächen befindet. 
Typische Beispiele hierfür sind die Orientierung nach den magne- 
tischen Polen (d.h. nach dem Kompass) und nach einer entfernten 
Lichtquelle, z. B. nach der Sonne. Die relativ unendliche Ent- 
fernung dieser Reizquellen bedingt einerseits eine ÜUbiquität der 
von ihnen ausgehenden Reizwellen und anderseits, dass diese letz- 
teren innerhalb sehr weiter (praktisch unendlich weiter) Grenzen 


Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen ete. 203 


u 


in allen von ihnen getroffenen Punkten parallel einfallen. Infolge- 
dessen wird hier selbst eine sehr bedeutende seitliche Abweichung 
(z. B. experimentell vermittelst seitlichen Transportes des Tieres) 
an der absoluten Richtung der Orientierung offenbar gar nichts 
ändern: Das Tier (oder, bei der Kompassorientierung: das Schiff) 
wird seinen bisherigen Kurs beibehalten; es wird mit anderen Worten 
eine Scheinorientierung oder virtuelle Orientierung 
(Santschi)'*) ausführen, deren absolute Richtung der früher einge- 
haltenen genau parallel sein wird und die daher wohl sehr exakt 
ist hinsichtlich der räumlichen Lage der benutzten intermediären 
Orientierungsquelle, nicht aber mit Bezug auf das erstrebte reelle 
Ziel. Daraus folgt, dass eine solche „freie“ Orientierung (im 
Gegensatz zur eben besprochenen kanalisierten Orientierung) nur 
so lange eine reelle sein wird (mit Bezug auf ein bestimmtes Ziel 
in der Außenwelt), als die räumlich-kinetische Kontinuität der Reise 
streng gewahrt bleibt. — 

Noch auf eine letzte wichtige Erscheinung möchte ich hier auf- 
merksam machen. Wir haben gesehen, dass bei der indirekten 
Orientierung auf Grund mehrphasiger (differenzierter) Komplexe 
die relative Richtung eindeutig aus der zeitlichen Reihen- 
folge der verschiedenen Intermediärkomplexe hervorgeht. Bei der 
einphasigen, globalen Orientierung kann dies natürlich schon des- 
halb nicht der Fall sein, weil hier ja entweder nur ein einziger 
globaler Komplex vorhanden ist, oder, falls eine Sukzession besteht 
(wie z. B. bei einer kontinuierlichen Fußspur), die sich folgenden 
Einzelkomplexe vollkommen gleichförmig beschaffen sind. Wenn 
nun trotzdem auch hier die relative Richtung der Fortbewegung in 
den meisten Fällen unmittelbar eindeutig bestimmt erscheint (man 
denke wieder an das Beispiel der Fußspurfährte!), so kann dies 
nur auf der räumlichen Anordnung der betreffenden Komplexe 
beruhen, oder, physiologisch ausgedrückt: auf der Art ihrer sinn- 
lichen Lokalisation. Und in der Tat finden wir in allen Fällen, 
wo ein glohaler Komplex eine eindeutige relative Richtungsangabe 
vermittelt, dass die betreffenden Reize asymmetrisch auf 
scharf umschriebenen Sinnesflächen lokalisiert sind und 
daher bei der Rückkehr eine sinnliche Reversion auf die 
korrespondierenden, bezw. diametral symmetrischen 
Sinnesflächen der anderen Seite erfahren. Überall dort 
dagegen, wo dies nicht der Fall ist — so vor allem bei diffuser 
oder bilateral-symmetrischer Lokalisation — erscheint die globale 
Orientierung mit Bezug auf ihre relative Richtung im Prinzip zwei- 
deutig determiniert (Gesetz der sinnlichen Reversion). So 


14) Santschi, F., Comment s’orientent les Fourmis. — Revue Suisse de 
Zoologie 21, 1913. 


204 Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen etc. 


sind in unserem ersten Beispiel von der eine Mauer flankierenden 
Ameisenstraße (Fig. 1 S. 202) die beiden Richtungen dieser Straße 
— nach den Blattläusen, nach dem Nest — an jedem Punkte ein- 
deutig bestimmt infolge der asymmetrischen Lokalisation des ein- 
phasigen Orientierungskomplexes der Mauer. Alle vom Nest nach 
den Blattläusen wandernden Ameisen fühlen nämlich diese Mauer 
mit dem rechten Fühler und sehen sie mit dem rechten Fazetten- 
auge; bei der Rückkehr dagegen nehmen sie den Komplex mit den 
entsprechenden Sinnesflächen der anderen Körperseite wahr. Falls 
sie nun diese konstanten asymmetrischen Lokalisationen mit den 
entsprechenden Zielengrammen assoziieren, so werden sie offenbar 
jederzeit wissen, ın welcher der beiden Richtungen das Nest, in 
welcher der Blattlausstrauch liegt. Nun nehmen Sie aber an, die 
Ameisenstraße verlaufe wie ein Hohlweg zwischen zwei ganz 
gleichen Mauern. Dann empfangen die links- und rechtsseitigen 
Sinnesorgane genau identische und symmetrische Eindrücke, welche 
eine sinnliche Reversion im obigen Sinne nicht zulassen. Würde 
man also eine Ameise von einer solchen Straße abfangen und 
nach einiger Zeit wieder zurückversetzen, so wäre sie zweifellos 
unfähig, auf Grund dieser symmetrischen globalen Komplexe zu 
entscheiden, in welcher Richtung das Nest und in welcher der 
Blattlausstrauch liegt und wäre somit genötigt, irgendeine der beiden 
Strecken aufs Geratewohl zu verfolgen, um erst am Ende des Kom- 
plexes zu erkennen, ob sie zufällig richtig oder falsch gegangen 
ist. — Genau das gleiche Prinzip gilt mutatis mutandis auch für 
alle übrigen einphasigen Orientierungskomplexe, kanalisierende wie 
freie: Eine Orientierung nach dem Kompass, nach einer entfernten 
Lichtquelle wird hinsichtlich ihrer relativen Richtungen immer ein- 
deutig bestimmt sein; wären dagegen zwei genau symmetrisch 
lokalisierte Lichtquellen vorhanden oder würden auf dem Kompass 
die Bezeichnungen für die Himmelsgegenden N—S fehlen, so wäre 
die Orientierung lediglich hinsichtlich ihrer absoluten Richtungs- 
achse bestimmt. Eine Fußspur oder eine Wegmarkierung durch 
rote Pfeile stellt einen Orientierungskomplex dar, dessen einzelne 
Richtungszeichen sinnlich polarisiert sind; würde die Weg- 
markierung einfach aus gleichartigen roten Strichen, statt Pfeilen 
bestehen, so wäre sie hinsichtlich der relativen Richtungsanzeige 
offenbar wertlos. Ebenso könnte eine vollkommen homogene Ge- 
ruchsspur, deren kleinste chemische Teilchen auf jeder Teilstrecke 
qualitativ und quantitativ gleichartig wären’), niemals eine rela- 
tive Richtungsanzeige vermitteln. — 

Zum Schluss noch einige allgemeine Bemerkungen über den 


15) Wir werden später sehen, dass dies bei den Geruchsfährten der Ameisen 
nur für gewisse Fälle zutrifft. 


Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen ete. 205 


mnemischen Mechanismus und die biologische Bedeutung der indi- 
rekten Orientierung. 

Was zunächst die Natur des Engrammschatzes anbetrifft, auf 
dem sich die indirekte Orientierung aufbaut, so dürfte klar sein, 
dass derselbe im wesentlichen der im individuellen Leben er- 
worbenen (plastisch-assoziativen) Mneme angehören muss. 
Für die mehrphasige Orientierung (differenziertes Ortsgedächtnis) 
ist dies eigentlich selbstverständlich, indem der Standort des Nestes, 
in dem die verschiedenen Generationen zur Welt kommen, doch 
innerhalb weniger Jahre oder Jahrzehnte fortwährendem Wechsel 
unterworfen ist. Aber auch von den einphasigen Intermediär- 
komplexen muss für gewöhnlich von jedem Individuum — oft sogar 
für jede einzelne Reise!®) — ein mit Bezug auf seine jeweilige sinn- 
liche Lokalisation besonderes Engramm erworben werden, — 
wennschon natürlich die Disposition, sich vorzugsweise nach 
diesen oder jenen globalen Intermediärkomplexen (z. B. nach der 
Sonne) zu orientieren, als solche eine hereditär fixierte sein kann. 
Das letztere gilt auch für die Ekphorie des „Zielengramms“: Es 
wäre z. B. denkbar, dass sowohl das Zielengramm „Nest“ als das- 
jenige gewisser Nahrungsquellen, wie Blattläuse, bei Wiederkehr 
bestimmter Situationen primär-instinktiv zur Ekphorie gelangen 
würde. 

Die biologische Bedeutung der indirekten Orien- 
tierungsfähigkeit liegt auf der Hand: Beı Tieren, die ohne 
festen Wohnsitz frei herumschweifen, reicht die direkte Orientierung 
natürlich zur Bestreitung aller Lebensbedürfnisse vollkommen aus. 
Anders bei den nestbauenden, und ganz besonders bei den 
sozialen Tieren; da wird die indirekte Orientierungsfähigkeit, 
infolge der Notwendigkeit, von allen Streifzügen immer wieder zu 
einem bestimmten Wohnsitz zurückzukehren, zur notwendigen 
Existenzbedingung. Sie ist denn auch hier, wenn auch viel- 
fach erst in ihren primitiveren Formen, wohl überall ohne Aus- 
nahme nachweisbar. 

Natürlich erfordert die Leistung einer indirekten Orientierung 
auf Grund individuell erworbener Engrammassoziationen weit mehr 
Hirnsubstanz, oder — physiologisch ausgedrückt -—— das Vorhanden- 
sein von weit komplizierteren Erregungsbögen, als die Abwicklung 
einer auf festgefügten hereditären Mechanismen beruhenden direkten 
Orientierung, wie ja überhaupt selbst die kompliziertesten Instinkte 
mit einem viel geringeren Aufwand von Neuronkomplexen arbeiten, 
als verhältnismäßig einfache plastische Leistungen. Doch darf auf 
der andern Seite die bei der indirekten Fernorientierung jeweilen 
aktuell geleistete Nervenarbeit auch nicht überschätzt werden; — 


16) So z. B. bei der Orientierung nach der Sonne. 


206 Brun, Das Örientierungsproblem im allgemeinen ete. 


kann doch selbst eine so ungeheuer komplizierte Sukzession asso- 
ziierter optischer, kinetischer und akustischer Engrammkomplexe, 
wie der tägliche Gang ins Geschäft, ın einer Großstadt, nach häufiger 
Wiederholung fast unbewusst sich abwickeln! Diese sekundäre 
Automatisierung ursprünglich hochbewusster plastischer Engramm- 
komplexe ist eine der interessantesten Erscheinungen auf dem Ge- 
biete der Biologie der Mneme; sie beruht in erster Linie auf dem 
Gesetz der Ekphorie, nach welcheın schon die partielle Wieder- 
kehr eines kleinen Bruchteils desjenigen Erregungskomplexes, 
welcher vormals engraphisch gewirkt hatte, genügt, um den ge- 
samten sukzessiv assoziierten Engrammkomplex zu reaktivieren, 
indem die sukzessive Ekphorie gleichsam „wie ım Lauffeuer“, 
autonom sich von einem Engramm aufs andere ausbreitet. 


Damit sind wir am Ende unserer theoretischen Betrachtungen 
angelangt. Wenn dieselben vielleicht auch vielfach äußerlich einen 
etwas abstrakt-philosophischen Charakter hatten, so sind sie doch 
nichts weniger als sterile Spekulationen: Ich hoffe vielmehr, Sie im 
zweiten, experimentellen Teil meines Vortrages hinlänglich davon 
überzeugen zu können, dass alle die soeben erörterten psychobio- 
logischen Mechanismen auch ın der Natur mit eben der strengen 
Gesetzmäßigkeit sıch abspielen, wie wir sie hier zunächst rein theore- 
tisch-logisch abgeleitet haben und dass die stete Vergegenwärtigung 
dieser Gesetzmäßigkeiten auch für die fruchtbare experimentelle 
Analyse der oft sehr verwickelten Einzelfälle von eminenter 
praktischer Bedeutung ıst. Dabei ist aber allerdings nie zu 
vergessen, dass die Natur auch hier meist mit mannigfachen Mitteln 
arbeitet, indem bei der Fernorientierung nicht allein der höheren 
Tiere, sondern auch der Ameisen, viele jener, aus Gründen der 
Einfachheit für sich analysierten Mechanismen ständig in den mannig- 
fachsten Kombinationen bald simultan, bald sukzessiv assozuert 
zusammenwirken. 


Biologische Einteilung der Orientierungsphänomene. 
I. Propriozeptive (absolute) Orientierung. 
1. Statisch-propriozeptive Orientierung. 
a) Plasmostatische O. (axotropische Wachstumseinstel- 
lungen). 
b) Neurostatische ©. (statotonische Reflexapparate). 
2. Dynamisch-propriozeptive (kinästhetische) Orientierung. 
a) Passive Kinästhesie. 
a) Passive Lageveränderungen der Körperachse: Vesti- 
bularsınn. 
P) Passive Lageveränderungen einzelner Glieder: Passiver 
Lagesinn, insbesondere: Myostatischer Sinn. 


Emery, Das Gesellschaftsleben der Ameisen etc, 207 


b) Aktive Kinästhesie: Myodynamischer Sinn, Schwere- 
und Kraftsinn (Barästhesie), Ermüdungssinn (sogen, 
Strecken- oder Podometersinn). 

II. Exterozeptive (relationelle) Orientierung. 
1. Orientierungsbewegungen einzelner Gliedmafsen. 

a) Exterozeptive Orientierungsreflexe. 

b) Spontane Zielbewegungen. 

2. Orientierte Lokomotion (Fernorientierung). 

a) Unmittelbare (direkte) Fernorientierung. 

a) Auf Grund hereditär-mnemischer Automatismen (Tro- 
pismen, Reflex- und Instinktautomatismen). 

ß) Auf Grund individuell erworbener (plastischer) En- 
grammkomplexe. 

b) Mittelbare (indirekte) Fernorientierung. 

a) Vermittelst einphasiger (globaler) Intermediärkomplexe 
(sinnlich reversible — irreversible), 
kanalisierte Orientierung, 
freie Orientierung. 
ß) Vermittelst mehrphasiger (differenzierter) Intermediär- 
komplexe (echtes Ortsgedächtnis). (Schluss folgt.) 


E. Wasmann. Das Gesellschaftsleben der Ameisen. 
Das Zusammenleben von Ameisen verschiedener Arten 
und von Ameisen und Termiten. Gesammelte Beiträge 
zur sozialen Symbiose bei den Ameisen. 
Zweite, bedeutend vermehrte Auflage. — 1. Band. Mit 7 Tafeln und 16 Figuren 
im Texte. — Aschendorff’sche Verlagsbuchhandlung, Münster (Westf.), 1915. 

Das neue Buch Wasmann’s, dessen I. Band mir vorliegt, ist 
zum großen Teil eine zweite, erweiterte Auflage verschiedener Ab- 
handlungen des hochverdienten und unermüdlichen Forschers des 
Lebens der Ameisen und ihrer Gäste. Er hat, wie er selbst ın dem 
Vorwort schreibt, dieselben nicht zu einem neuen Buch etwa nach 
Art von Wheeler’s Werk „Ants“ umarbeiten, sondern in ihrer 
historischen Reihenfolge unter einem neuen Titel zusammenfassen 
wollen. 

„Der Plan des vorliegenden Werkes ist somit folgender: Wegen 
seines 800 Druckseiten übersteigenden Umfangs musste es in zwei 
Bände geteilt werden. Der vorliegende I. Band enthält den I. und 
II. Teil, der im nächsten Jahre folgende II. Band wird den II. 
und IV. Teil enthalten.“ 

„Der I. Teil ist die Neuauflage der ‚ZZusammengesetzten 
Nester und gemischten Kolonien‘ von 1891. Auf besonderen 
Wunsch mehrerer Fachkollegen wurden, um das Nachschlagen und 
Zitieren zu erleichtern, die Seitenzahlen der ersten Auflage beibe- 
halten. Die neuen Zusätze sind auf die allernotwendigsten Ergän- 


208 Emery, Das Gesellschaftsleben der Ameisen ete. 


zungen beschränkt, die in eckigen Klammern teils im Texte, teils 
in den Anmerkungen beigefügt sind.“ 

„Der II. Teil ıst die zweite Auflage meiner 1901—1902 in der 
‚Allgemeinen Zeitschrift für Entomologie‘ erschienenen Abhandlungs- 
serie ‚Neues über die zusammengesetzten Nester und die 
gemischten Kolonien der Ameisen‘. Dieser Teil ist inhaltlich 
um mehr als die Hälfte des früheren Umfangs durch neue seit- 
herige Beobachtungen vermehrt und hat fünf neue photographische 
Tafeln erhalten.“ 

„Der III. Teil (im 1I. Bande) enthält meine gesammelten Bei- 
träge zur Stammesgeschichte der sozialen Symbiose, die 
von 1905—1915 im ‚Biologischen Centralblatt‘ und anderen Fach- 
zeitschriften erschienen. Auch dieser Teil ist inhaltlich stark ver- 
mehrt und mit kritischen Bemerkungen über den Fortschritt unserer 
Anschauungen versehen. Er wird ferner ebenfalls eine Reihe neuer 
photographischer Tafeln erhalten.“ 

„Der IV. Teil (im II. Bande) wird ganz neu sein. Er soll 
eine zusammenfassende Übersicht des gegenwärtigen 
Standes unserer Tatsachenkenntnis über die soziale Sym- 
biose bei den Ameisen, sowie eine kritische Zusammen- 
fassung derstammesgeschichtlichen Hypothesen aufdiesem 
Gebiete enthalten. Ein ausführliches Literaturverzeichnis wird 
den Schluss dieses Teiles bilden.“ 

Die einzelnen Serien von Abhandlungen, welche die ersten drei 
Teile bilden, führen den Leser durch des Verfassers Darstellungen 
der eigenen oder fremden Beobachtungen, theoretischen Zusammen- 
fassungen und Hypothesen und veranschaulichen, wie er das höchst 
umfangreiche und mannigfache Material behandelt, eigenartige An- 
schauungen entwickelt und Polemik gegen abweichende Ansichten 
geführt hat. 

Zwischen der Veröffentlichungszeit des I. und des II. Teils be- 
steht ein Raum von etwa 10 Jahren. Unterdessen hat die Ent- 
deckung des temporären Parasıtismus einer Reihe von Ameisen bei 
der Gründung ihrer Gesellschaften stattgefunden, welche viele Fälle 
von gemischten Gesellschaften in einem ganz neuen Licht erscheinen 
lassen. Der IIl. Teil wird hauptsächlich veranlasst durch die theo- 
retischen Folgen obiger Tatsache und durch die neue Debatte über 
die Entstehung der Sklaverei und des Parasıtismus bei den Ameisen, 

Nach den Zusätzen zu urteilen, welche Verfasser zur neuen 
Auflage eingeschaltet hat und die fast ausschließlich tatsächlichen 
Inhalts sind oder Detailansichten betreffen, darf man schließen, 
dass er seine damaligen allgemeinen und speziellen Anschauungen 
nicht wesentlich geändert hat. 

Ref. ist in mehreren fundamentalen Anschauungen bekanntlich 
mit dem Verf. durchaus nicht einverstanden; aber eine Polemik 
hier anzuknüpfen, wäre nıcht am Platze. C. Emery. 





Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Antonstraße 15. — Dre = m bayer. 
Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen. 


Biologisches Centralblatt 


Begründet von J. Rosenthal. 


In Vertretung geleitet durch 
Prof. Dr. Werner Rosenthal 


Priv.-Doz. für Bakteriologie und Immunitätslehre in Göttingen. 


Herausgegeben von 


Dr. K. Goebel und Dr. R. Hertwig 


Professor der Botanik Professor der Zoologie 
in München. 


Verlag von Georg Thieme in Leipzig. 








Der Abonnementspreis für 12 Hefte beträgt 20 Mark jährlich. 


Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. 


Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an 

Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Menzingerstr. 15, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, 

vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschiehte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig. München, 

alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Werner Rosenthal, z. Z. Nürnberg, Roonstr. 13, 
einsenden zu wollen. 


BEXXXV 20. Mai 1915. M 5. 


Inhalt: Goebel, Induzierte oder autonome Dorsiventralität bei Orchideenluftwurzeln? — Brun, 
Das Orientierungsproblem im allgemeinen und auf Grund experimenteller Forschungen bei 
den Ameisen. — Emery, Können weisellose Ameisenvölker die fehlende Mutter aus eigenen 
Mitteln ersetzen? — Nöller, Die Ubertragungsweise der Rattentrypanosomen. — Lindau, 
Kryptogamenflora für Anfänger. 























Induzierte oder autonome Dorsiventralität bei 
Orchideenluftwurzeln? 
(Mit 10 Abbildungen im Text.) 
Von K. Goebel. 


Die Luftwurzeln mancher Orchideen weisen sehr eigenartige 
und für allgemein morphologische Fragen wichtige Gestaltungs- 
verhältnisse auf. 

Wir sehen dabei ganz ab von der aus toten Zellen bestehenden 
Wurzelhülle, dem oft besprochenen „Velamen“, ferner der Tat- 
sache, dass diese Wurzeln, soweit sie dem Lichte ausgesetzt sind, 
wohl alle Chlorophyll bilden (was bei gewöhnlichen Erdwurzeln 
nur ausnahmsweise, z. B. bei Menyanthes trifoliata der Fall ıst) und 
berücksichtigen ausschließlich die Symmetrieverhältnisse. Während 
die Erdwurzeln mit einigen Ausnahmen!) radıär sind, finden sich 
unter den Örchideenluftwurzeln, wie zuerst Janczewskı?) nach- 


1) Z. B. Isoötes (vgl. Goebel, Organographie der Pflanzen I, 2. Auflage 
(1913), p. 307. 
2) Ed. de Janczewski, Organisation dorsiventrale dans les racines des 
Orchidees. Ann. des science. nat. Bot. 7%me serie, t. 2 (1855). 
XXXV. 14 


910 Goebel, Induzierte oder autonome Dorsiventralität bei Orchideenluftwurzeln ? 


wies, solche, die auffallende Dorsiventralität zeigen. Diese äußert 
sich in der Gestalt und im anatomischen Bau. Die dorsiventralen 
Wurzeln pflegen nicht rund, sondern mindestens auf einer Seite 
abgeflacht zu sein, was bei manchen so weit geht, dass sie mit 
Blättern verwechselt wurden’). 

Im anatomischen Bau ist die Lichtseite der Wurzeln ausge- 
zeichnet vor allem dadurch, dass die Zellen hier stärkere Wand- 
verdickung zeigen und dass die Wurzelhülle auf dieser Seite der 
einen ihrer Funktionen, der der Wasseraufsaugung ganz oder fast 
ganz entzogen ist — andere Verschiedenheiten werden sich aus 
dem Folgenden ergeben. 

Nun fand Janczewskiı, dass bei zwei dorsiventralen Orchideen- 
luftwurzeln (denen von Epidendrum nocturnum und Sarcanthus 
rostratus*)) die dorsiventrale Ausbildung durch das Licht bedingt 
ıst, also verschwindet, wenn man die Wurzeln im Dunkeln sıch 
weiter entwickeln lässt. Bei andern aber gelang dieser Nachweis 
nicht, die Wurzeln behielten auch an den im Finstern neu zuge- 
wachsenen Teilen ihre dorsiventrale Struktur beı. 

Da nun zweifellos alle diese Wurzeln ursprünglich radıär waren und 
die dorsiventrale Ausbildung erst in Verbindung mit der epiphytischen 
Lebensweise angenommen haben, so schienen hier zwei Fälle vor- 
zuliegen: Der einer „induzierten“ Dorsiventralität bei Epedendrum 
nocturnum, Sarc. rostratus und Sarc. Parishü, der einer „auto- 
nomen“ bei Aeranthus fasciola, Phalaenopsis und Taeniophyllum. 

Nichts lag näher, als anzunehmen, dass hier vielleicht ein Bei- 
spiel für die „Vererbung erworbener Eigenschaften“ vorliege, indem 
ein ursprünglich induziertes Gestaltungsverhältnis später autonom 
geworden sei. In dieser Richtung ist auf das Verhalten der Orchi- 
deenluftwurzeln hingewiesen worden vom Verf.?) und von Francis 
Darwin®). Die nähere Untersuchung von zwei der obengenannten 
Orchideen zeigte indes, dass eine solche Annahme nicht haltbar ist, 
dass vielmehr auch hier induzierte Dorsiventralität vorliegt. 

Das mag ım folgenden näher erläutert werden. 


1. Phalaenopsis. 
Die einzelnen Arten dieser Gattung verhalten sich bezüglich 
der Gestaltung ihrer am Lichte wachsenden Wurzeln verschieden’). 


3) Auf eine andere Ausbildung der Dorsiventralität, welche sich dadurch 
äußert. dass die dem Substrat anliegende Wurzelseite abgeflacht und schwächer ent- 
wickelt ist, soll hier nicht eingegangen werden (vgl. Goebel, Pflanzenbiol. Schilde- 
rungen, p. 195, Fig. 87 B). 

4) Ebenso verhält sich Sarcanthus Parishii (vgl. Goebel, Pflanzenbiol. 
Schilderungen, p. 351). 

5) Goebel, Organographie, 1. Aufl., 1I, 285. 

6) Fr. Darwin, Presidents address, British Assoc. for the advanc. of science. 
Dublin 1908. 

7) Vgl. Goebel, Organographie, 1. Aufl., p. 485, Fig. 36. 


Goebel, Induzierte oder autonome Dorsiventralität bei Orchideenluftwurzeln? 211 


Bei Ph. Esmeralda sind die Wurzeln radıär, bei Ph. Lüddemanniana 
deutlich, bei Ph. Schilleriana und Ph. amabils sehr bedeutend ab- 
geflacht; das chlorophyllhaltige Rindengewebe ist flügelartig auf 
beiden Flanken der Wurzel in die Breite entwickelt. 

Licht- und Schattenseite sind verschieden: 1. Im Bau des 
Velamens. 2. In dem der unter dem Velamen liegenden Zellschicht, 
der „Exodermis“ (Abbildungen bei Janezewskia.a.O. und Goebel, 
Organogr., 1. Aufl., p. 485). Auf anatomische Einzelheiten braucht 
hier nicht eingegangen zu werden. Es sei nur erwähnt, dass das 
„Velamen“ auf der Schattenseite aus zwei Schichten dünnwandiger, 
Wasser aufsaugender Zellen besteht und 
dass dort allen die „Durchlüftungs- 
streifen“ vorkommen, welche durch ıhren 
Luftgehalt hervortreten, wenn die übrigen 
Zellen mit Wasser gefüllt sind. An der 
Oberseite ist die innere Zellschicht des 
Velamens stark verdickt, Wasserauf- 
saugung kommt hier nicht mehr in Be- 
tracht. 

Die Exodermiszellen der Oberseite 
sind gleichfalls mit ungemein stark ver- 
dickten Außenwänden versehen. Außer- 
dem sınd sie länger als die Exodermis- 
zellen der Unterseite (vgl. Fig. 1 / und II) 
und es sind zwischen ihnen viel weniger Fig. 1. Phalaenopsis Schil- 
„Durchlasszellen“ vorhanden. leriana. Flächenschnitt der 

So bezeichnet man bekanntlich kurze, Exodermis. /der Ober-, II der 

s < - Unterseite bei gleich starker 
protoplasmahaltige Zellen, welche Ne ene D. Durchlass- 
schen die toten Exodermiszellen einge- zllen. 
streut sind. Man nimmt von ihnen wohl 
mit Recht an, dass sie den Übertritt von Wasser und darin ge- 
lösten Nährstoffen aus dem Velamen in die Zellen der Wurzelwände 
vermitteln °). 

Die Bedeutung der Dorsiventralität in teleologischer Beziehung 
ist klar: Die Lichtseite ist gegen Transpiration geschützt, die 
Schattenseite besorgt die Wasseraufnahme, dementsprechend sınd 
hier auch die Durchlüftungsstreifen und zahlreiche Durchlasszellen. 

Ausgehend von der Beobachtung, dass bei Phal. amabilis außer 
den dorsiventralen Lichtwurzeln auch radiäre Wurzeln ım Substrat 
vorkommen, vermutete Janezewski, dass die Dorsiventralität der 
Phalaenopsis- Wurzeln eine induzierte sei. 

Auf Grund der Beobachtung, dass ein in einer verfinsterten 
Glasröhre neu zugewachsenes, mehrere Zentimeter langes Stück 





8) Sie zeigten bei Dendrobium nobile einen wesentlich höheren osmotischen 
Druck als die Rindenzellen (25: 10 Atmosph.). 
14* 


21 Goebel, Induzierte oder autonome Dorsiventralität bei Orchideenluftwurzeln ? 


einer Phalaenopsis-Wurzel noch ebenso abgeflacht war wie am Lichte 
und (abgesehen von durch die feuchte Umgebung bedingten Verschie- 
denheiten gegenüber der Lichtwurzel) noch einen dorsiventralen Bau 
aufwies, glaubte ich früher, dass bei Ph. Schilleriana die Abflachung 
der Wurzel nicht durch das Licht bedingt seı. 

Das war indes ein durch zu kurze Dauer des Versuchs be- 
dingter Irrtum. Später ergab sich folgendes’): „Eine in eine ver- 
dunkelte Glasröhre eingeführte Wurzel hatte in 3!/, Monaten in 
dieser ein neues Stück von 14 cm Länge gebildet. 6 cm lang war 
die Abflachung noch deutlich erkennbar, dann verlor sie sich, die 
Wurzel wurde fast zylindrisch. Auch die Verteilung der Durch- 
lüftungsstreifen auf die Unterseite verlor sich.“ Es war die Wurzel 
also bei Lichtabschluss radiär geworden, bezw. radiär geblieben. Nur 
war eine länger dauernde „Nachwirkung“ zu überwinden, ehe die 
Dorsiventralität verschwand. Hinzugefügt sei, dass auch eine Um- 
kehrung der Dorsiventralität leicht gelingt. 

Am 15. Februar wurde eine Wurzel von Phal. Schilleriana um 
180° gedreht auf einem feucht gehaltenen Holzstück befestigt. 

Am 9. April ergab die Untersuchung, dass die Wurzel in der 
alten Farbe (welche der Unterseite, die jetzt nach oben gekehrt 
war, eigentümlich ist) 3,5 em lang weiter gewachsen war. 

Auch hier also wirkte die Induktion längere Zeit nach. Daran 
schloss sich ein mit dunkler Farbe (beruhend auf Anthocyanbil- 
dung in den oberen Schichten) versehenes Stück von 2 cm Länge. 
An diesem war die frühere Unterseite anatomisch als Oberseite 
ausgebildet. Das ergab sich vor allem aus Gestalt und Ver- 
dickung der zweiten Velamenschicht, welche sich der für die Ober- 
seite eigentümlichen Ausbildung näherte. Dagegen waren die 
Exodermiszellen auf der neuen Oberseite noch dünnwandig, ohne 
Zweifel aber würde bei weiterem Fortwachsen auch hier die für 
die Oberseite charakteristische starke Wandverdickung einge- 
treten sein. 

Auf der jetzigen Unterseite dagegen hatte das Velamen den 
Bau der Schattenseite angenommen. 

Andere Wurzeln zeigten, dass man auch eine der Flanken zur 
Ausbildung als Oberseite oder Unterseite veranlassen kann. 

Die Wurzeln werden also, was die Lage der Licht- und Schatten- 
seite anbetrifft, nicht dauernd induziert, sie bleiben ohne einseitige 
Beleuchtung radıär und können eine beliebige Seite als Licht- oder 
Schattenseite ausbilden. Ob es möglich ıst, durch gleichstarke Be- 
leuchtung von zwei entgegengesetzten Seiten hier etwa zwei Licht- 
seiten auszubilden, wurde nicht untersucht. 


9) Goebel, Organogr., 2. Aufl. (1913), p. 310. 


Goebel, Induzierte oder autonome Dorsiventralität bei Orchideenluftwurzeln? 913 


2. Taeniophyllum. 


Taeniophyllum ist eine höchst interessante, auf Baumstämmen 
als Epiphyt wachsende Orchidee. 

In der Umgebung von Buitenzorg ist Taeniophyllum Zollingeri 
häufig namentlich auf Palmstämmen, sie ist dort vom Verf.!%) und 
Wiesner!) untersucht worden. 

Merkwürdig ist die Pflanze dadurch, 
dass die Blätter zu kleinen Schuppen ver- 
kümmert sind, welche nur noch für den 
Schutz der Stammknospe, nicht mehr aber 
für die Kohlenstoffassimilation in Betracht 
kommen. Diese wird ausschließlich von 
den Wurzeln besorgt, deren Chlorophyll- 
gehalt und starke Abflachung bedingten, 
dass Blume, welcher die Gattung auf- 
stellte, die Wurzeln für Blätter hielt (vgl. 
das Habitusbild Fig. 2). 

Es gibt ım malaischen Florengebiet 
eine Anzahl von Arten, die sich insofern 
nicht ganz gleich verhalten, als bei den 
einen, z. B. T. Zollingeri und T. philippinense 
(Fig. 2), die Wurzeln dem Substrat — Baum- 
rınden — fest angedrückt sınd, bei den 
andern, namentlich Gebirgsbewohnern, da- 
gegen frei herabhängen. Selbstverständlich 
wirken äußere Faktoren dabei mit: 7. phi- 
Iippinense, das ıch (durch die Güte des Herrn 
A. Loher in Manila) nur mit anliegenden 
Wurzeln erhalten hatte, bildete nach einiger 
Zeit in einem feuchten Gewächshaus auch 
von dem Stück Holz, auf dem die Pflanze 
wuchs, abstehende Wurzeln. 

Im Gegensatz zu den europäischen 
Orchideen gehört Taeniophyllum zu den 
Angehörigen dieser großen Familie, bei denen EM 

2 ar ? ; lippinense. 
man Keimpflanzen häufig antrifft. Die Ver- Blübönden pie nat 
mehrung durch Samen ist hier die einzige, de an: ehem, ein. 
Einrichtungen zu ungeschlechtlicher Ver- 
mehrung, wie sie z. B. unsere erdbewohnenden Orchideen durch 
ihre Knollen u. s. w. besitzen, fehlen hier vollständig. 





Fig. 2. Taeniophyllum phi- 


10) Goebel, Pflanzenbiologische Schilderungen, I (Marburg 1889), p. 193. 

11) Wiesner, Pflanzenphysiologische Mitteilungen aus Buitenzorg, VI. Zur 
Physiologie von Taeniophyllum Zollingeri. Sitz.-Ber. d. Kais. Akad. d. Wiss. in 
Wien, Math. Phys. Klasse Bd. CVI, 1897. 


914 Goebel, Induzierte oder autonome Dorsiventralität bei Orchideenluftwurzeln ? 


Schon die Keimung ist sehr merkwürdig '?), und zwar einer- 
seits durch die Gestaltung des Hypokotyls, dann durch seine Haft- 
organe und endlich durch das Verhalten des Kotyledons. 

Da der Keimling zunächst ganz wurzellos ist, muss das Hypo- 
kotyl die Anheftung an einer Baumrinde besorgen. 

Demgemäß ist es dorsiventral entwickelt, während es bei 
aufrecht keimenden Orchideen radıär ist. 

Die dem Substrat anlıegende Seite ist als „Sohle“ ausgebildet, 
die dem Lichte zugekehrte annähernd messerklingenförmig (vgl. 
Fig. 3). Das Gewebe ist also zum Lichte in „Profilstellung“ '?). 
Es ist klar, dass es für einen wurzellosen, einer Palmenrinde ange- 
klebten Keimling, der zur Wasseraufnahme auf die „Wurzelhaare“ 
seiner Sohle angewiesen ist, von Vorteil sein wird, dass er nicht 
allzuviel transpiriertt und doch seine Assimilations- 
fläche nicht zu klein ausfällt. Das wird durch deren 
Profilausbildung erreicht. Dass die Dorsiventralität 
des Hypokotyls mit den Lebensverhältnissen zusammen- 
hängt, ist also klar. Wie weit diese vom Lichte ab- 
hängig ist, bleibt zu untersuchen. Eine Beeinflussung 
erscheint mir wahrscheinlich, wenn auch vielleicht 
die dorsiventrale Ausbildung selbst nicht davon ab- 
hängt. Es wäre sehr interessant, die Keimlinge bei 
Liehtabschluss mit Zuckerernährung zu erziehen — 
Fig.3. Taenio- falls dies möglich ist. Es könnte ja schon die Keimung 
phyllum Zol- vom Lichte abhängen. 
lingeri. Quer- Jedenfalls gewinnt im Freien der Keimling die 
schnitt durch Baumaterialien, welche zu dem länger dauernden 
ein Hypokotyl. 3 3 
Die ee Heranwachsen des Hypokotyls notwendig sind durch 
Zonepunktiert. eigene Assimilation. Wie weit daran der Pilz, der 

in der dem Substrat zugekehrten Seite des Hypokotyls 
sich einfindet, beteiligt ıst, ist noch nicht untersucht. 

Der Kotyledon ist als ein leitbündelloses Anhängsel am Ende 
des Hypokotyls wahrnehmbar. 

Die Spaltöffnungen, welche am Hypokotyl und Kotyledon vor- 
handen sind, sind die einzigen, die für die Kohlensäureaufnahme 
in Betracht kommen. Bei den Schuppenblättern der Stammknospe 
sind sie äußerst spärlich, und da diese so gut wie kein Chlorophyll 
haben, für die Kohlenstoffassimilation gleichgültig. Die Hochblätter 
an der Infloreszenz javanıscher Taeniophyllen haben etwas mehr 
Spaltöffnungen '*). 

Taeniophyllum ıst also eines der jedenfalls seltenen Beispiele, 
dass eine nicht untergetaucht lebende Samenpflanze, abgesehen vom 





12) Vgl. Goebel, Pflanzenb. Schilder., Fig. 88. 
13) Der Querschnitt erinnert an den einer Riella-Pflanze. 
14) Ob sie funktionsfähig sind, ist aber fraglich. 


Goebel, Induzierte oder autonome Dorsiventralität bei Orchideenluftwurzeln? 215 


ersten Keimungsstadium und der Infloreszenz, keine besonderen 
Eintrittsstellen für Kohlensäure hat. Die Kohlensäureaufnahme 
(teils mit Wasser, teils direkt durch die Zellmembranen '°)) wird 
demgemäß auch eine langsame sein — schon dadurch ist das lang- 
same Wachstum der Pflanze erklärlich. — 

Die Haftorgane des Hypokotyls treten auf ın Gestalt zahl- 
reicher, nur auf der Sohle gebildeter Zellscheiben, deren Zellen 
protoplasmareich und vielfach nach unten vorgewölbt sind (Fig. 4). 
Sie scheiden offenbar eine Klebesubstanz aus, welche das Hypo- 
kotyl anheftet, vielfach sieht man z. B. der Sohle kleine Lebermoose 
fest ankleben. Morphologisch stellen diese Haftorgane, die später 
von N. Bernard und Burgeff 


auch — wenngleich, wie es scheint, ae E> 
meist in einfacherer Ausbildung — 9.0 0 (@. 

bei den Hypokotylen anderer Orchi- N OD Sa 

deen aufgefunden worden sind — 0% 009 2 
offenbar eine eigenartige Ausbildung ) O0 ll. 
bezw. Neubildung von „Wurzel- Ub 

haaren“ dar. Der einzige ähnliche L & 


Fall, der mir bekannt ist, findet sich 

bei einigen epiphytischen Leber- &n, 
moosen aus der großen Gattung “E 
Lejeunea, welche gleichfalls aus W 
Rhizoiden Haftscheiben entwickelt Fig. 4. Re Zollingeri. 
haben '!®). Bei Taeniophyllumscheinen IT Stück der „Sohle“ eines Hypo- 
die Haftscheiben stärker entwickelt kotyls mit Haftscheiben. // Haft- 


7 bei H kotvlen Scheibe stärker vergr. III Eine andere, 
Bee beiden VE die Grenzzellen und die Innenzellen 


anderer Orchideen, bei denen sie yimmern durch IP Dane snchriit 
später gefunden wurden. Sie treten eines Hapters, die Innenzellen mit X 
auf dem Hypokotyl in großer Zahl bezeichnet. 

auf (vgl. die Flächenansicht Fig. 47). 

In Flächenansicht fallen zunächst die oben erwähnten protoplasma- 
reichen Zellen auf, die in wechselnder Zahl vorhanden sınd. Ihrer 
Anordnung nach sind sie aus Teilung einer Zelle hervorgegangen. 
Sie können alle zu Rhizoiden auswachsen, so dass diese dann 
büschelig zusammenstehen. 

Umgeben ist die Scheibe von einem Kranz hellerer (proto- 
plasmaärmerer) Zellen. Unter der Scheibe sind noch Basalzellen !”) 
vorhanden (in Fig. 4 1/7 punktiert, in Fig. 4/V mit X bezeichnet) in 
geringerer Zahl als die Scheibenzellen. 


15) Es ist natürlich wohl möglich, dass nur die in Wasser gelöste Kohlen- 
'säure in Betracht kommt, wie dies z. B. auch für epiphytische Moose. nachgewiesen 
wurde (Goebel, Flora 1893, p. 439). 

16) Vgl. Goebel, Pflanzenbiol. Schilder., p. 161, Fig. 66. 

17) Vgl. Burgeff, Die Wurzelpilze der Orchideen (1909), p. 75. 


916 Goebel, Induzierte oder autonome Dorsiventralität bei Orchideenluftwurzeln ? 


Leider war es mir wegen Materialmangel nicht möglich, die 
Entwickelungsgeschichte der Haftscheiben zu verfolgen. Nach 
Burgeff!”) waren die Basalzellen von Laelio-Cattleya aus Teilung 
einer hypodermalen Zelle entstanden. No&äl Bernard macht über 
die Entstehung der Rhizoidbüschel keine Angaben. Es ist nicht 
ausgeschlossen, dass der ganze Apparat, also Rhizoidbüschel mit 
Basalzellen, aus der Teilung einer Dermatogenzelle hervorgeht, doch 
ist wahrscheinlicher, dass nur die Scheibe aus der Epidermis ent- 
steht. 

Wie dem auch sei, jedenfalls liegt hier eine eigentümliche 
Organbildung vor, welche bei den genannten Formen auf das Hypo- 
kotyl beschränkt ist: ein Organ, das erst als Klebscheibe zu dienen 

scheint, dann in Rhizoiden auswächst, 
die an Stelle der fehlenden ersten 
Wurzel die Befestigung am Sub- 
strat übernehmen. Diese Organe, 
die wir als primitive „Hapteren“ be- 
zeichnen können, finden sich bei 
einigen andern Orchideen an den 
Rhizomen. Denn die „Haarwurzel- 
büschel“, welche Irmisch vor 
langer Zeit für Coralliorhiza und 
Goodyera angegeben hat, sind offen- 
bar nichts anderes als die am Hypo- 

kotyl auftretenden „Hapteren“. 
II Bei der wurzellosen, saprophy- 
f : tisch lebenden Coralliorhixa treten 
= T sie offenbar als teilweiser Ersatz 
Bien. Ob yanıhes BT Hapten für die Wurzeln auf, ähnlich wie am 
in Außenansicht. II Ein anderer im Hypokotyl von Taeniophyllum u. a. 
Längsschnitt. Die Untersuchung der Corallio- 
rhixa-Rhizome ergab, dass die 
„Hapteren“ mit denen von Taeniophyllım im wesentlichen überein- 
stimmen, nur dass die Büschel von Wurzelhaaren auf einem mäch- 
tigeren Gewebepolster sitzen und auch in der Jugend nicht als 

„Scheiben“ auftreten. 

Die auffallendsten Hapteren sitzen (nach mündlicher Mit- 
teilung des Herrn Dr. Burgeff) an den Ausläufern der javanıschen 
Coryanthes pieta, von der ich dank der Freundlichkeit von Herrn 
Prof. Stahl Untersuchungsmaterial erhielt. 

Fig. 5 / zeigt, dass die Rhizoidenbüschel auf einem weit über 
die Oberfläche vorspringenden Gewebepolster sitzen, die einzelnen 
Rhizoiden hängen unten ein Stück weit zusammen. 

Wir haben es hier also mit einem eigenartigen, auf die Sprosse 
von Orchideen beschränkten Organ zu tun, das namentlich in Funktion 





Goebel, Induzierte oder autonome Dorsiventralität, bei Orchideenluftwurzeln? 2147 


tritt dort, wo Wurzeln fehlen oder spärlich entwickelt sind. Dass 
sie am Hypokotyl der Keimlinge besonders auffallend hervortreten, 
ist also nicht zu verwundern, da die Entwickelung einer Haupt- 
wurzel am Hypokotyl der Orchideen ausnahmslos unterbleibt. 

Raciborski'®) fand später eine dorsiventrale Ausbildung des 
Hypokotyls auch bei anderen Orchideen: Aerides, Vanda, Phalae- 
nopsis. Bei Aerides vermehren sich sogar die Keimpflanzen durch 
Adventivsprossebildung (leider ist nicht angegeben, ob dabei neue 
Keimpflanzen, mit Hypokotyl u.s. w. oder direkt beblätterte Sprosse 
entstehen !?). Er nennt den Keimspross einen „Protokorm* — eine 
Bezeichnung, auf welche unten zurückzukommen sein wird. 

Die Angaben des Verf. über die Keimung von Taeniophyllum 
sind später von No&öl Bernard in seiner schönen Abhandlung 
„L’evolution dans la Symbiose, les Orchidees et leur champignons 
commensaux“ ?°) bestätigt worden. 

Fig. 6. Taeniophyllum Zollingert. 
] Spitze eines Keimlings in Außen- 
ansicht: Der Kotyledon Co ist mit 
dem ersten Blatt db, scheidenförmig 
verwachsen, b, zweites Blatt. II Das- 
selbe im Längsschnitt, v Vegetations- 
punkt. III Spitze eines jüngeren 
Keimlings schräg von unten und der 
Seite, So Sohle des Hypokotyls mit 
Haftscheiben. 1. I. I. 

Doch ist Noöl Bernard in einem Punkte anderer Ansicht als 
der Verf. Er sagt (a. a. O. p. 66): „Goebel a considere comme 
un rudiment de cotyledon la partie saillante anterieure de la crete 
dorsale?!), mais cette interprötation me parait inexacte; icı en effet, 
comme chez les Phalaenopsis, la premiere feuille, au lieu d’etre 
oppose A ce pretendu cotyledon, se developpe du meme cöte que 
lui par rapport au sommet vegetatif.“ 

Wenn das so wäre, so würde allerdings meine Deutung un- 
haltbar sein. 

Ich untersuchte deshalb die Reste meines vor 30 Jahren in 
Java gesammelten Materials an Keimlingen. Obwohl es nicht mehr 
sehr reichhaltig war, genügte es, um zu zeigen, dass der Irrtum 
nicht auf meiner, sondern auf No&öl Bernard’s Seite liegt. Denn 
wie Fig. 6 zeigt, entsteht das erste Blatt (D,) nicht (wie N. Ber- 





18) Raciborski, Biol. Mitteilungen aus Java, Flora S5 (1898). 

19) Ob auch die Jueniophyllum solche Adventivbildungen hervorbringen 
können, ist fraglich. An den im Freien gesammelten fand ich keine, möglicher- 
weise sind sie aber durch Wegnahme des Vegetationspunktes hervorzurufen, wie 
denn Keimpflanzen regenerationsfähiger zu sein pflegen als spätere Entwickelungs- 
stadien (vgl. Goebel, Über Regeneration im Pflanzenreich, Biol. Centralbl. XXIV). 

20) Annales des sciences naturelles, IX. Ser., botan., t. IX (1909), p. 65. 

21) Raciborski bezeichnet diesen Teil als Nase“. Anm. des Verf. 


918 Goebel, Induzierte oder autonome Dorsiventralität bei Orchideenluftwurzeln? 


nard angibt) auf derselben Seite wie der Kotyledon, sondern, ent- 
sprechend der bei den Orchideen am meisten verbreiteten zwei- 
zeiligen Blattstellung ihm gegenüber — auf der andern Seite 
des Vegetationspunktes. Außerdem kommen auch Fälle vor, in 
welchen der Kotyledon etwas mehr entwickelt ist als sonst (nament- 
lich bei älteren Keimlingen), d. h. auf seiner dem Vegetations- 
punkt zugekehrten Seite eine Abflachung aufweist, die sich einer, 
freilich in den ersten Anfängen steckenbleibenden Scheidenbil- 
dung nähert, ja diese Scheide kann mit der des gegenüber- 
stehenden ersten Blattes verwachsen (Fig. 6B). Es kann an der 
Richtigkeit meiner alten Deutung also wohl kein Zweifel mehr be- 
stehen — wie Noöl Bernard zu seiner unrichtigen Angabe kam, 
ist mir rätselhaft. Vermutlich untersuchte er ältere Keimlinge, bei 
denen eine Verwechslung bezüglich der Blattstellung möglich ist. 
Dass ein Leitbündel im Kotyledon nicht ausgebildet wird, ist natür- 
lich kein Grund, ıhm die Blattnatur abzusprechen. 

Er stellt ein extremes Beispiel eines „unifazialen“ Blattes 
dar??), da eigentlich nur seine abaxıale Seite (die Unterseite, welche 
dem Lichte zugekehrt ist) entwickelt ist. Ohne Zweifel ıst das be- 
dingt dadurch, dass das Hypokotyl sich mit seiner Lichtseite weit 
stärker entwickelt als auf seiner Schattenseite (Fig. 3), da der 
Kotyledon nur ein kleines Anhängsel des Hypokotyls darstellt, ist 
eine solche Beeinflussung leicht verständlich. 

Ich bin hier auf diese Frage nach dem Kotyledon eingegangen, 
nicht um No&öl Bernard’s Einspruch gegen meine Auffassung ab- 
zuweisen. An sich ist es ja ziemlich gleichgültig, wer ın einer 
solchen Spezialfrage recht hat. Aber hier wird zugleich eine Frage 
von einigem allgemeinen Interesse berührt. 

Treub hatte seinerzeit für Lycopodium-Keimlinge den Begriff 
eines „Protokorm“ aufgestellt, und in diesem einen Vorläufer 
des beblätterten Sprosses der heutigen Pteridophyten erblicken zu 
können glaubte, also ein phylogenetisch „primitives“ Organ. Dem- 
gegenüber hob der Verf. hervor??), dass es sich bei diesem Proto- 
korm wesentlich nur um eine (vielleicht mit der „Pilzsymbiose 
zusammenhängende“) eigenartige Ausbildung eines Hypokotyls 
handle, die ın verschiedenen Verwandtschaftskreisen auftreten könne, 
namentlich auch bei solchen, die wie die Orchideen das Gegen- 
teil von primitiver Struktur aufweisen. Auch hier liegt eine Rück- 
bildung schon darin vor, dass diesem Hypokotyl die Wurzel fehlt 
und dass der Kotyledon — wie der Streit um ihn zeigt — nur 
wenig entwickelt ıst. Für diese Auffassung aber ist es von Inter- 
esse, nachzuweisen, dass Taeniophyllum einen Kotyledon hat, also 


22) Vgl. Goebel, Organographie, 2. Auflage (1913, p. 278). 
23) Goebel, Organographie, 1. Auflage, p. 440, 


Goebel, Induzierte oder autonome Dorsiventralität.bei Orchideenluftwurzeln? 219 


der darunter befindliche Teil mit Recht den Namen eines Hypokotyls 
trägt. 

Noel Bernard dagegen glaubte nachgewiesen zu haben *), 
„que l’apparition et l’evolution du protocorme chez les Orchid6es 
sont des ev&nements dus aux progres de la symbiose*. 


Das ist ein Irrtum. Das Auftreten (l’apparition!) des Proto- 
korm hängt nicht von der Symbiose ab. Das Hypokotyl war schon 
vorhanden. Es kann, wie ja auch Verf. als möglich annahm, im 
Zusammenhang mit der Pilzsymbiose andere Eigenschaften ange- 
nommmen haben, aber entstanden ist es sicher nicht dadurch! 


Auf Noäöl Bernard’s phantastische Annahme (a. a. O. p. 18), 
dass die Gefäßpflanzen infolge einer hohen Anpassung gewisser 
Muscineen an eine Smhloss mit Pilzen entstanden seien, näher 
einzugehen, ist wohl nicht erforderlich. Sie ist ebenso wie die 
Aufstellung des Protokorms eines der zahlreichen Beispiele dafür, 
dass phylogenetische Spekulationen auf Abwege geraten sind. 
Außerdem: die Erscheinung, dass einem Forscher, der eine Ent- 
deckung macht, diese nun zum Ausgangspunkt kühner Theorien 
wird, wiederholt sich ja oft. — Bernard’s Verdiensten können aber 
seine phylogenetischen Phantasmagorien keinen Abbruch tun. — 
Mir scheint es zweifellos, dass der „Protokorm“ der Orchideen nichts 
ist, als ein eigentümlich entwickeltes, beimanchen Formen lange fort- 
wachsendes Hypokotyl und dass deshalb die ganze Bezeichung am 
besten fallen gelassen würde. Übrigens verhalten sich nos des 
Kotyledons = Keimpflanzen von Phalaenopsis ganz ebenso wie die 
von Taeniophyllum, nur dass bei ersterer Orchidee der Kotyledon 
sich später entwickelt als bei letzteren. Es ist mir unerklärlich, 
wie No&l Bernard angeben konnte, dass auch hier das erste Blatt 
auf der Seite des „prötendu cotyledon“ stehe. 


Die bessere Kenntnis der Keimungserscheinungen der Orchi- 
deen, welche wir jetzt besitzen, gestattet uns auch, uns ein Bild 
zu machen, wie eine so sonderbare Form wie Taeniophyllum ent- 
stand. 


Bernard schildert, dass die Keimlinge von Phalaenopsis (einer 
Kreuzung von Ph. rosea und amabihs) im Keimlingsstadium redu- 
zierte Blätter besitzen, während die Wurzeln verhältnismäßig mächtig 
entwickelt und offenbar auch als Assimilationsorgane von größerer 
Bedeutung sind als die Blätter. Erst später gewinnen diese dann 
bei Phalaenopsis eine bedeutende Entwickelung. Die flachen grünen 
Wurzeln können dann bei den Arten, welche in der Trockenheit 
ihre Blätter verlieren, vorübergehend dieselbe Rolle spielen wie bei 
Taeniophyllum zeitlebens (Fig. 7). 


24) A.a. 0. p. 17. 


390 Goebel, Induzierte und autonome Dorsiventralität bei Orchideenluftwurzeln ? 


Taeniophyllum bleibt einfach auf einem Stadium stehen, 
welches bei Phalaenopsis ein bald vorübergehendes Jugend- 





Fig. 7. 
(nach No&l Bernard). 
Verf... #4 Hypokotyl, W, 
Co Kotyledon, 1—4 Blätter. 


Phalaenopsis amabilis X Ph. rosea 
4 Monate alte 
Keimpflanze 4fach vergr. (Bezifferung vom 
W Wuızeln, 


stadium ist. Es ist also 
nicht nötig anzunehmen, dass 
die Laubblätter, welche die 
Vorfahren von Taeniophyllum 
jedenfalls besessen haben, all- 
mählich kleiner wurden und 
verkümmerten. Es brauchte 
einfach deren Bildung von 
vornherein, also miteinem 
„Sprung“, schon bei der Kei- 
mung gehemmt zu werden. 
Die Pflanze war trotzdem weiter 
existenzfähig, weil sie grüne 
Wurzeln schon besaß und 
konnte vermöge ihrer geringen 
Ansprüche an Standorten ge- 
deıhen, welche sonst nur für 
Flechten und Moose, die perio- 
dische Austrocknung ertragen, 
bewohnbar sind. 


Sie lebt dort im wesentlichen (wie auch Wiesner hervorhebt) 


wie eine Krustenflechte. 





Pi 
II. 
Fig. 8. Taeniophyllum  philip- 
pinense. I Querschnitt einer 


Wurzel, das chlorophyllreiche Ge- 
webe punktiert. /I Querschnitt 
durch die Ober-, /II durch die 
(Querseite der Exodermiszellen mit 
X. bezeichnet, V Velamen. 


Wie diese ist sie auf das von der Baunr- 


rınde herabrieselnde Wasser ange- 
wiesen, das von der Unterseite der 
Wurzeln aufgenommen wird. 

Diese fallen auf durch ihre Ab- 
flachung. 

Am auffallendsten abgeflacht fand 
ich die Wurzeln bei T. philippinense. 
Hier ist der Breitendurchmesser der 
Wurzeln mehr als fünfmal so groß 
wie der Höhendurchmesser (Fig. 8 7). 
Der dorsiventrale Bau der Wurzel 
tritt hier ungemein deutlich hervor. 
Zunächst schon darin, dass das Chloro- 
phyll auf der Lichtseite stärker ent- 
wickelt ıst als auf der Substratseite. 
Zur Ausbildung eines typischen Assi- 
milationsparenchyms ist es freilich 
auch hier nicht gekommen. Sodann 


ın der Ausbildung der Wurzelhülle. 


Bei T. philippinense und 


T. Zollingeri ıst das Velamen auf der 


Oberseite nur ın Resten vorhanden, während es auf der Unterseite 


Goebel, Induzierte und autonome Dorsiventralität bei Orchideenluftwurzeln? 291 


in zwei Zellschichten erhalten bleibt (Fig. 8 IT und III). Besonders 
eigentümlich ist die „Exodermis“, 

Auf der Oberseite sind die nach außen gekehrten Zellwände 
und die Seitenwände der Zellen ungemein verdickt, auf der Unter- 
seite ganz dünnwandig (Fig. 8 /Z und IIT). 

Es ıst klar, dass die starke Verdiekung der nach außen ge- 
legenen Zellwände einen wirksamen Schutz gegen Transpiration 
darstellt, welcher auf der dem Substrat zugekehrten Seite un- 
nötig ist. 

Kausal ist die Verschiedenheit wohl durch die Verschiedenheit 
der Transpiration bedingt, bezw. dadurch, dass letztere auf der 
Lichtseite eine stärkere Anhäufung organischer Baustoffe zur Folge hat. 

Außerdem spricht sich die Dorsiventralität auch noch darin 
aus, dass die Exodermis der Wurzeln von T. I nur auf 





der Unterseite „Durchlasszellen“ hat 

(Fig. 9). Damit haben die Taeniophyllum- NN 
Wurzeln den höchsten Grad von Dorsi- N 
ventralität erreicht, welcher für Orchi- || 
deenluftwurzeln bis jetzt bekannt ist. 
Denn selbst die Luftwurzeln von Aeran- a 








zewski an der Exodermis der Ober- 
seite noch Durchlasszellen. 

Dass diese Zellen auf der Oberseite, 
wo keine Wasseraufnahme stattfindet, Fig. 9. as yllum phi- 
überflüssig sind, ist natürlich noch keine lippinense. Flächenansicht der 
Erklärung für ihr Fehlen. Offenbar er. Fxodermis. I der Ober-, II der 
= E : \ 2 ; Unterseite einer Wurzel. 
fährt die Oberseite einerseits eine Ent- 
wickelungshemmung, wie sie sich in der Reduktion des Velamens 
und im Unterbleiben der Abtrennung der Durchlasszellen ausspricht 
— andererseits eine abweichende Ausbildung, die sich in stärkerem 
Wachstum und stärkerer Wandverdickung der Exodermiszellen der 
Oberseite (vgl. die Flächenansicht Fig. 9 7 mit 9 II) zeigt. Ob diese 
beiden Eigentümlichkeiten auf denselben Reiz oder auf verschiedene 
zurückzuführen sind, ist fraglich. 

In physiologischer Beziehung wurde Taeniophyllum untersucht 
von Wiesner?). Er stellte u. a. fest, dass die Wurzeln sehr 
langsam wachsen und meint, es sei in hohem Grade wahrscheinlich, 
dass die Wurzeln im Finstern überhaupt nicht wachsen. 

Damit wäre ein sehr wesentlicher Unterschied von den typischen 
Wurzeln, den Erdwurzeln festgestellt, von denen sich doch zweifellos 


thus fasciola — einer gleichfalls „blatt- 
losen“ Orchidee — haben nach Janc- N 


25) J. Wiesner, Pflanzenphysiologische Mitteilungen aus Buitenzorg IV zur 
Physiologie von Taeniophyllum Zollingeri. 


922 Goebel, Induzierte oder autonome Dorsiventralität bei Orchideenluftwurzeln ? 


die Taeniophyllum-Wurzeln ableiten. Denn diese werden bei Licht- 
schluss in ihrem Wachstum nicht gehemmt. Im Gegenteil erfolgt 
durch die Beleuchtung eine Verlangsamung des Wachstums 2°), 
Taeniophyllum befindet sich allerdings in anderen Bedingungen als 
andere Wurzeln. Diese erhalten ihre organischen Baumaterialien 
von den chlorophyllhaltigen oberirdischen Teilen, bei Taeniophyllum 
liegen vollständig autotrophe Wurzeln vor, die auch ihren Kohlen- 
stoffbedarf selbständig durch Assimilation aus der atmosphärischen 
Kohlensäure decken, nur die ersten Entwickelungsstadien werden 
auf Kosten der im Stämmchen oder älteren Wurzeln gespeicherten 
Reservestoffe zurückgelegt. Wenn es eine Pflanze gibt, bei ‘der 
man ein „Erblichwerden erworbener Eigenschaften“ vermuten 
könnte, so würde man sie wohl in Taeniophyllum suchen können. 
Die Wurzeln hätten die Fähigkeit, im Dunkeln zu wachsen ver- 
loren und eine nicht mehr direkt durch das Licht induzierte Dorsi- 
ventralität angenommen. 

Der Direktion des botanischen Gartens ın Buitenzorg verdanke 
ich eine Anzahl lebender Taeniopkyllum-Pflanzen. Diese wachsen 
— wenigstens eine Zeitlang — in Kultur ganz gut, wenn man sie 
möglichst in Ruhe lässt, namentlich nicht viel spritzt, da sie sonst 
leicht faulen. 

An zweien wurde die Stammknospe durch Überbinden eines 
schwarzen Tuches und aufgelegte Watte verdunkelt, die äußeren 
Wurzelteile blieben unbedeckt. 

Eine der Pflanzen ging — auf nicht näher aufgeklärte Weise — 
verloren. Die andere zeigte nach etwa 8 Monaten, als der Verband 
geöffnet wurde, drei neue, unter diesem entwickelte bleiche, chloro- 
pbyllose Wurzeln. Die längste war 1!/, cm lang. 

Das zeigt zunächst, dass die Wurzeln die Fähigkeit, sich 
ım Dunkeln zu entwickeln, nicht verloren haben — wenig- 
stens wenn sie von Anfang an im Dunkeln auftreten. Ob die Spitze 
einer Luftwurzel im Dunkeln weiter wächst und wie sich die Zu- 
wachsgeschwindigkeit ım Licht und ım Dunkeln verhält, wurde 
nicht untersucht und derzeit haben die noch übrigen Exemplare 
keine gesunden Wurzelspitzen. Indes ıst es nun, nach den Eır- 
fahrungen, die über Phalaenopsis mitgeteilt wurden, sehr wahrschein- 
lich, dass auch die am Lichte angelegten Taeniophylium-Luftwurzen 
sich im Dunkeln weiter entwickeln können. Wenn man die ganze 
Pflanze verdunkelt, so können leicht schädliche Stoffwechselprodukte 
entstehen, die eine Weiterentwickelung verhindern — es gibt auch 
andere chlorophyllhaltige Pflanzen, die sich im Dunkeln nicht weiter 
entwickeln und nicht etiolieren. Mich interessierte hauptsächlich die 
Frage, ob die Dorsiventralität der Taeniophyllum-Wurzeln eine 
induzierte ist oder nicht. 


26) Vol. die in Pfeffer’s Pflanzenphysiologie II, p. 110 mitgeteilten Messungen. 


Goebel, Induzierte oder autonome Dorsiventralität bei Orchideenluftwurzeln? 993 


Es zeigte sich, dass das erstere zutrifft. Die im Dunkeln ent- 
wickelten Wurzeln waren, wie die Querschnitte Fig. 10 zeigen, 
nicht abgeflacht, sondern annähernd zylindrisch, ‚selbstverständlich 
können Abweichungen schon durch mechanische Beeinflussung vor- 
kommen. Auch war in der Beschaffenheit des Velamens und der 
Exodermis kein durchgreifender Unterschied zwischen den verschie- 
denen Seiten festzustellen. Namentlich waren Durchlasszellen in 
der Endodermis überall vorhanden. Damit ist nachgewiesen, dass 
die Dorsiventralität der Wurzeln auch hier vom Lichte bedingt ist. 

Natürlich wäre es wünschenswert, den Versuch in größerem 
Maßstab und im Heimatland der Pflanze zu wiederholen. Dann 
werden sich Einzelfragen näher untersuchen lassen, wie die, ob 
nicht eine gewisse „Nachwirkung“ (die hier aber durch den Spross 
vermittelt sein müsste) insofern vorkommt, 
als kleinere Unterschiede im Bau von ada- 
xialer und abaxialer Seite der Wurzeln sich 
noch nachweisen lassen. 

Als Hauptresultat scheint mir aber auch n 7 
durch die einzige Versuchspflanze erwiesen: 

Die Wurzeln von Taeniophyllum haben, trotz- 

dem sie seit ungezählten Generationen nur 

am Lichte sich entwickeln, ihre Fähigkeit, In. 

im Dunkeln zu wachsen, nicht verloren. Fig. 10. Taeniophyllum 
Ihre Dorsiventralität wird direkt Zollingeri.  Querschnitte 
erchdas Tıcht bestimmt. Ob eme, dureh Wurzeln? I und TE 
5 Be im Dunkeln, //I am Lichte 
Nachwirkung stattfindet und wie die Wachs-  ntwickelt (Be Tan 
tumsgeschwindigkeit ım Licht sich zu der unten gekehrt). 

im Dunkeln verhält, bleibt näher zu unter- 

suchen. Der einzige Fall, in welchem jetzt noch eine „autonome“ 
Dorsiventralität von Orchideenwurzeln vorzuliegen scheint, ist der 
von Aeranthus fasciola. 

Janczewski (a. a.0. p. 26) sagt: „L’organisation dorsiventrale 
apparaissant de si bonne heure doit etre une qualit& innde a la 
racıne de l!’Aöranthus fasciola; experience le prouve d’une maniere 
incontestable,. en nous apprenant que cette organisation ne peut 
etre eliminee par la developpement de la racine dans l’obscurite.“ 

Das Experiment, auf welches sich diese Angabe stützt, ıst 
folgendes. Eine mit Stanniol umwickelte Wurzelspitze stellte ihr 
Wachstum ein. Später regenerierte sich die Wurzelspitze (d.h. es 
entstand offenbar eine Seitenwurzel, wie das nach der Verletzung 
von Orchideenluftwurzeln oft eintritt ?”)), die Wurzel war der Haupt- 
sache nach dorsiventral, ı:ur fehlten die „Flügel“, zu deren Ent- 
wickelung auch nach Janczewski’s Ansicht Licht notwendig ist. 


27) Vgl. Goebel, Einleitung in die exper. Morphologie, p. 169. 


224 Goebel, Induzierte oder autonome Dorsiventralität bei Orchideenluftwurzeln ? 


Es ist natürlich möglich, dass die verschiedenen Orchideen sich 
verschieden verhalten und Aeranthus fasciola tatsächlich eine auto- 
nome Dorsiventralität der Wurzeln aufweist. Aber der Janc- 
zewskische Versuch dürfte auch noch einer anderen Deutung fähig 
sein. Und zwar aus folgenden Gründen. 

1. Es ist nicht nachgewiesen, dass die neue Wurzel wirklich 
auch ım Dunkeln entstand, sie konnte schon vorhanden, am Lichte 
induziert und nun weiter gewachsen sein. 

2. Selbst wenn sie ım Finstern entstand, kann die Wurzel, 
an der sie sich bildete, auf sie eine Nachwirkung ausgeübt haben, 
wie wir oben eine solche bei Phalaenopsis nachwiesen. Bei längerer 
Dauer des Versuchs wäre auch diese Wurzel wohl radıär geworden. 
Es scheint mir also derzeit wahrscheinlich, dass bei allen dorsi- 
ventralen Orchideenluftwurzeln nur eine labile Induktion vorliegt. 
Ob diese Auffassung zutrifft, werden weitere experimentelle Unter- 
suchungen zeigen müssen, die ja namentlich ın der Heimat dieser 
Pflanzen leicht auszuführen sind. 


Inhaltsübersicht. 


1. Die auffallende dorsiventrale Ausbildung der Luftwurzeln 
mancher Orchideen beruht auf zwei Vorgängen: 

a) Eine Hemmung der anatomischen Differenzierung auf der 

Lichtseite, 

b) eine stärkere Wandverdickung der Außenzellen auf der 

Lichtseite. 

2. Die Hemmung macht sıch bei den einzelnen Gattungen in 
ungleichem Maße geltend. Sie betrifft teils die Ausbildung 
des Velamens, teils die Exodermis. Bei letzterer werden beı 
den meisten Formen die „Durchlasszellen* auf der Oberseite 
in geringerer Zahl ausgebildet als auf der Unterseite. Bei 
Taeniophyllum wunterbleibt ıhre Differenzierung ganz. Die 
Wurzeln dieser Gattung stellen also die am meisten dorsi- 
ventral ausgebildeten dar. 

3. Die dorsiventrale Ausbildung ist ın allen vom Verf. unter- 
suchten Fällen vom Lichte abhängig, auch bei Taeniophyllum, 
von dem Wiesner annahm, dass ein Wachstum der Wurzeln 
im Dunkeln nicht stattfinden könne. 

Es macht sıch aber eine länger andauernde Nachwirkung, 
namentlich bei Phalaenopsis, geltend. Die ım Dunkeln ent- 
wickelten Wurzeln zeigen allseitig die Ausbildung, welche 
sonst der (nicht gehemmten) Schattenseite zukommt. Die ab- 
weichende Angabe von Jancze wskı betreffend Aeranthus fas- 
ciola ıst wahrscheinlich durch „Nachwirkung“ bedingt. 

4. An den Sprossteilen einer Anzahl von Orchideen finden sich 
eigentümliche „Hapteren“, hervorgegangen aus der Teilung 


Brun, Das Orientierungsproblem im. allgemeinen etc. 395 


einer Oberhautzelle und einer Anzahl darunter liegender Zellen. 
Sie dienen bei Tueniophyllum zunächst als Haftscheiben, später 
wachsen die äußeren Zellen zu Wurzelhaarbüscheln aus. Außer 
bei Keimlingen sind diese „Hapteren“ auch bekannt an den 
unterirdischen Sprossteilen von Coralliorhixa, Goodyera, an 
den Niederblättern von Microstylis, Sturmia, Malaxis?°). 

Ihre höchste bis jetzt bekannte Entwickelung erreichen sie 
bei Corysanthes. Sie sind offenbar namentlich dann von Be- 
deutung, wenn Wurzeln fehlen oder spärlich entwickelt sınd. 

6. Ob die Dorsiventralität des Hypokotyls mancher Orchideen 
eine „autonome“ oder eine durch die Außenwelt bedingte ist, 
bleibt zu untersuchen. 

Es liegt aber kein Grund vor, bei den Orchideen von einem 
„Protokorm“ zu sprechen. Was so genannt wurde, ist nichts 
als ein Hypokotyl von oft eigenartiger Ausbildung, an welchem 
keine „Hauptwurzel“ sich findet. Dieses Hypokotyl spielt viel- 
fach auch eine wichtige Rolle als erstes Assimilationsorgan. 

7. Der Kotyledo ist bei Tueniophyllum -— entgegen der An- 
gabe von N. Bernard — in normaler Stellung vorhanden, 
aber sehr rückgebildet. 


Das Orientierungsproblem im allgemeinen und auf 
Grund experimenteller Forschungen bei den Ameisen. 
Von Dr. med. Rudolf Brun, 

Assistent an der Nervenpoliklinik der Universität in Zürich. 
(Schluss.) 


IT. 


Experimentelle Ergebnisse über die Fernorientierung 
der Ameisen. 


Nachdem wir im vorhergehenden die allgemeinen psychobio- 
logischen und mnemischen Gesetze, welche den verwickelten Mecha- 
nismus der Fernorientierung beherrschen, in großen Umrissen 
skizziert haben, wollen wir uns nunmehr den Ergebnissen der experi- 
mentellen Analyse eines ganz besonders lehrreichen Spezialfalles 
zuwenden, nämlich der Fernorientierung der Ameisen. Die Er- 
kenntnis der großen Bedeutung, welche diese Spezialfrage für das 
Örientierungsproblem im allgemeinen besitzt, veranlasste nicht nur 
Entomologen von Fach, sondern auch zahlreiche Biologen, Psycho- 
logen und Physiologen, sich mit derselben näher zu befassen und 
so entstand allmählich eine ziemlich umfangreiche Literatur, ın 


28) Vgl. Goebel, Zur Biologie der Malaxideen, Flora 88 (1901), p. 100, Fig. 6. 
XXXV. 15 


326 Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen: etc. 


De 


welcher ein reiches und äußerst interessantes Tatsachenmaterial 
niedergelegt ist!”). 

Die Ameisen eignen sich nämlich zu Studien über die Fern- 
orientierung aus zwei Gründen in ganz besonderem Maße: Einmal 
wegen ihrer sesshaften, sozialen Lebensweise, welche sie nötigt, 
von ihren Fernwanderungen immer wieder zu einem ganz bestimmten 
Ausgangspunkt, dem Neste, zurückzukehren; — dann aber auch 
deshalb, weil sie (im Gegensatz zu den Bienen) in der Arbeiter- 
kaste flügellos sind und daher eine verhältnismäßig langsame, leicht 
verfolgbare Fortbewegung haben. 

Das richtige Verständnis einer so komplizierten biologischen 
Leistung, wie sie die Fernorientierung der Ameisen darstellt, setzt 
natürlich vor allem eine genauere Kenntnis der Anatomie und Phy- 
siologie der beteiligten Sinnesorgane, sowie des diesen Sinnen über- 
geordneten zentralen Assoziationsapparates voraus. Ich möchte 
daher, bevor ich auf die biologischen Erscheinungen eingehe, noch 
ganz kurz die wesentlichsten dieser anatomischen und physio- 
logischen Tatsachen in Erinnerung bringen. 

Die Sinne, die bei der Orientierung der Ameisen in Be- 
tracht kommen können, sind im wesentlichen der Geruchssinn, 
der Tastsınn, der Gesichtssinn und die kinästhetischen Registrie- 
rungen. Was die Mitwirkung dieser letzteren betrifft, so sind 
wir da natürlich ausschließlich auf die experimentell-physiologische 
Analyse angewiesen. Über die Funktionen der anderen Sinne kann 
uns, teilweise wenigstens, schon die anatomische Struktur der be- 
treffenden Organe wichtige Fingerzeige geben. 

Der @eruchssinn ist bekanntlich der biologisch weitaus wich- 
tigste Sinn der Ameisen. Wie wir schon im allgemeinen Teil dieser 
Arbeit (S. 195) gesehen haben, kommt derselbe hier auch für die 
exterozeptive Orientierung im Raume sehr wesentlich in Betracht, 
weil seine peripheren Endapparate oberflächlich, an den sym- 
metrischen und äußerst beweglichen (geknieten) Antennen lokalı- 
siert sind. Der Geruchssinn der Ameisen gehört daher, wie unser 
Auge, zu den relationellen Sinnen, d. h. er ist in erster Linie 
ein Kontaktgeruchssinn, welcher die von den verschiedenen 
Objekten ausgehenden Duftemanationen nicht, wie unsere Riech- 
schleimhaut, in diffuser Mischung, sondern in ganz bestimmter 
räumlicher Anordnung, entsprechend den gleichzeitig durch die 
Tasthaare der Fühler wahrgenommenen Formen der duftenden Ob- 
jekte, rezipieren muss. Auf diese Überlegungen gründete Forel°®) 

17) Ich werde im folgenden nur die wichtigsten einschlägigen Arbeiten an- 
führen und verweise im übrigen auf meine kürzlich erschienene Monographie („Die 
Raumorientierung der Ameisen und das Orientierungsproblem im allgemeinen“, — 
Gustav Fischer, Jena 1914), welche ein ausführliches Literaturverzeichnis enthält. 

15) Forel, Experiences et remarques critiques sur les sensations des insectes. 
— Rivista di Se. Biolog. II u. III, Como 1900—1901. — Die psychischen Fähig- 


Brun, Das Orientierungsproblem im -allgemeinen etc. Ser 


fe 


bekanntlich seine geistreiche Kontaktgeruchstheorie oder 
Theorie des topochemischen Fühlersinnes, welche eben be- 
sagt, dass die Ameisen vermittelst ihrer Fühler räumlich scharf 
umschriebene „Geruchsformen“ wahrnehmen. Sie werden also bei- 
spielsweise runde von viereckigen, harte von weichen, elliptische 
von kugeligen Gerüchen unterscheiden und werden diese verschie- 
denen Geruchsformen in eben der gegenseitigen räumlichen Anord- 
nung und zeitlichen Folge, wie sie im umgebenden Raume ange- 
troffen wurden, auch im Gedächtnis als assozuerte topochemische 
Engrammkomplexe aufspeichern. Doch betont Forel ausdrück- 
lich, dass die Ameisen von dieser topochemischen Assoziation, ent- 
sprechend der absoluten Kleinheit ihres Gehirns, natürlich nur in 
sehr beschränktem Umfange Gebrauch machen können. Diese 
selbstverständliche Einschränkung vorausgesetzt, besteht seine Theorie 
zweifellos auch heute noch zu Recht. 

Im Vergleich zum Kontaktgeruchssinn ıst das Ferngeruchs- 
vermögen der Ameisen offenbar nur sehr gering entwickelt; man 
kann sich wenigstens leicht davon überzeugen, dass Ameisen selbst 
stark duftende und für sie ungemein „lustbetonte* Substanzen, wie 
Honig, nur auf wenige Zentimeter zu wittern imstande sind. 

Auch der Gesichtssinn weist bei den Ameisen —- wie bei 
den Insekten überhaupt — eine Reihe von Besonderheiten auf, 
welche von vornherein vermuten lassen, dass derselbe bei der 
Fernorientierung wohl ın ganz anderer Weise funktioniert als bei 
den Wirbeltieren. Bekanntlich entwerfen die Fazettenaugen der 
Insekten nach der Müller-Exner’schen Theorie des musivischen 
Sehens von den Objekten der Außenwelt ein einziges aufrechtes 
Mosaikbild (Appositionsbild), dessen Schärfe in erster Linie von der 
Zahl der Fazetten, in zweiter Linie von der Länge und Schmalheit 
der einzelnen Ommatidien abhängt: Je zahlreicher nämlich die Fa- 
zetten, in um so zahlreichere Bildpunkte wird das Gesamtbild auf- 
gelöst und desto kleinere Objekte werden somit noch einigermaßen 
deutlich „erkannt“; je länger und schmäler die Ommatidien, um so 
konzentriertere Lichtbündel leiten sie den entsprechenden Netzhaut- 
elementen zu, indem die Randstrahlen abgeblendet werden. Die 
Augen der bestsehenden Ameisen haben (im Arbeiterstand) eine 
verhältnismäßig geringe Fazettenzahl'!’) und ziemlich kurze Omma- 
tidien. Ihr Fernpunkt, der hauptsächlich von der Wölbung der 
Kornealinsen abhängt, ıst bei den meisten Arten bis auf wenige 
Millimeter oder Zentimeter ans Auge herangerückt. Die Unbeweg- 
lichkeit der Fazettenaugen bringt es ferner mit sich, dass die Auf- 
keiten der Ameisen, 2. Aufl., Reinhardt, München 1902. — Sinnesleben der In- 
sekten, ebend. 1910. 

19) Bei Formica rufa, einer der bestsehenden Arten, beispielsweise nur 600, 
gegenüber 20000 bei vielen Libellen! 


15* 


338 Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen ete. 


Frl Fr) 


merksamkeit des ruhenden Insekts nur durch bewegte Objekte zu 
erregen ist. — Die Augen der Ameisen scheinen demnach haupt- 
sächlich für das Sehen großer, bewegter Objekte aus nächster Nähe 
eingerichtet (Forel). Man glaubte daher früher allgemein, dass 
der Gesichtssinn bei der Fernorientierung dieser Insekten nur eine 
sehr untergeordnete Rolle spielen könne. Es ist hauptsächlich 
Santschi’s?°) Verdienst, diesen Irrtum, der, im Verein mit einer 
gewissen Voreingenommenheit zugunsten des Geruchssinnes, das 
unbefangene Urteil in der Deutung mancher Tatsachen lange Zeit 
trübte, endgültig widerlegt zu haben. Wır werden auf die wichtigen 
neuen Ergebnisse der Forschungen dieses hervorragenden Myrme- 
kologen noch ausführlich zurückzukommen haben. -— 


Die Frage, ob die Ameisen „hören“, scheint trotz allen darauf 
gerichteten Untersuchungen noch immer nicht ganz einwandfrei 
entschieden zu sein. Man hat eigentümliche, im Inneren der Tibien 
ausgespannte sogen. „chordotonale“ Organe wiederholt als Gehör- 
organe angesprochen; — falls dieselben wirklich echte Schallwellen 
rezipieren, dürften sie aber wohl nur für die Wahrnehmung jener 
feinsten Zirplaute („Stridulationen“) aus nächster Nähe in Betracht 
kommen, welche manche Ameisen durch Aneinanderreiben gewisser 
Teile ıhres Chitinpanzers erzeugen. Was endlich statische Organe 
anbetrifft, so sind solche bis jetzt bei Insekten überhaupt nicht 
nachgewiesen worden. — 

Vergleichen wır die eben kurz angedeuteten Sinnesfunktionen 
mit Bezug auf ihren direkten Wirkungsbereich, so stellen wir ohne 
weiteres fest, dass durch keine derselben eine direkte Rezeption 
des Nestes (oder besser: des psychophysiologischen Erregungskom- 
plexes „Nest“) aus größeren Entfernungen als höchstens einem Meter 
ermöglicht wird. Daraus folgt, dass jede Fernorientierung 
der Ameisen über einen Meter hinaus eine indirekte sein 
muss, d.h. dass sie nicht nach einem sinnlich (als aktueller Reiz- 
komplex) gegebenen, sondern nach einem im „Sensorium“ der 
Tiere lediglich als Engramm vertretenen Ziele erfolgt, mit Hilfe 
von intermediären, mit ‘diesem Zielengramm sekundär assoziierten 
Richtungszeichen. Nun setzt aber, wie wir gesehen haben, jede, 
auch die einfachste Form einer indirekten Orientierung im Prinzip 
die Fähigkeit zur Erwerbung und Assoziation individueller En- 
grammkomplexe voraus und es fragt sich daher, ob wir berechtigt 
sind, so winzigen Geschöpfen wie Ameisen ein solches plastisches 
Engraphie- und Assoziationsvermögen zuzuschreiben. Manche Autoren 


20) Santschi, F., Observations et remarques eritiques sur le mechanisme de 


’orientation chez les Fourmis. Revue Suisse de Zool. 1911. — Comment s’orientent 
les Fourmis. Ibid. 1913. — L’wil compos6 considere comme organe d’orientation 


chez la Fourmi. Revue Zool. Africaine III, 1913. 


Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen ete. 399 


— unter ihnen namentlich Bethe?!) — haben den Insekten be- 
kanntlich alle „psychischen“ Qualitäten (oder sagen wir besser: 
eine individuelle Mneme) rundweg abgesprochen, und wo ihre eigenen 
Experimente sie mit dieser vorgefassten Meinung in Widerspruch 
brachten, waren sie eher geneigt, ihre Zuflucht zu irgendeiner phy- 
siologisch unerklärlichen „unbekannten Kraft“ zu nehmen, als ihre 
These aufzugeben. Bevor wir indessen diesen Autoren auf das 
dunkle Gebiet der wissenschaftlichen Mystik folgen, werden wir 
doch gut tun, uns vorerst noch danach umzusehen, ob im Zentral- 
nervensystem der höheren Insekten nicht anatomische Strukturen 
vorhanden sind, welche als das morphologische Substrat jener 
biologisch nachweisbaren plastischen Neurokymtätigkeiten ange- 
sehen werden könnten. 








vo 


Fig. 2. Frontalschnitt durch das Gehirn (Öberschlundganglion) der 


roten Waldameise (Formica rufa L.). — Mikrophotogramm. Vergr. ca. 65 X. 

Hämatoxylin-Eosin. Cp = Corpora peduneulata Dujardini. F' = Fazettenauge. 

Lo — Lobus opticus. Lolf. — Lobus olfactorius. MI. — Massa lateralis proto- 
cerebri. Ri = Regio intercerebralis. 


Wenn wir einen Frontalschnitt durch den vorderen Abschnitt 
(„Proto- und Deutocerebron“) des Gehirns (Öberschlundgang- 
lions) einer phylogenetisch hochstehenden Ameise be- 
trachten (Fig. 2), so fallen uns daran sofort vier eigentümlich struk- 
turierte dorsale Gebilde in die Augen, welche in diesen Frontalebenen 
einen relativ sehr bedeutenden Teil des gesamten Hirnquerschnitts 
einnehmen. Es sind dies die sogen. pilzhutförmigen Körper 
oder Corpora pedunculata von Dujardin. Dieselben präsen- 
tieren sich im Frontalschnitt als vier symmetrische, tief eingebuch- 
tete, bezw. gewundene Massen grauer Substanz vom Typus des 
flächenförmigen oder Rindengraus, bestehend aus einer dor- 
salen kompakten Rindenschicht sehr dichtstehender indifferenter 


21) Bethe, A., Dürfen wir den Ameisen und Bienen psychische Qualitäten 
zuschreiben? — Arch. f. d. ges. Physiol. Bd. 70, 1898. 


230 Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen etec. 


Körnerzellen und einer tieferen, semmelförmig gebuchteten diekeren 
Molekularschicht. Diese Massenanhäufung von Substantia mole- 
cularıs besteht im wesentlichen aus nichts anderem als aus den, 
zu einem unentwirrbaren Neuropilemfilz verflochtenen, Fibrillen- 
aufsplitterungen und Axonen zahlreicher Projektions-, Assoziations- 
und Kommissurenfasern, welche teils aus den Körnerzellen der 
Rindenschicht hervorgehen, teils aus allen übrigen Hirnregionen 
(Lob. olfactorius, Lob. opticus u. s. w.) herbeifließen, um sich um 
die Körnerzellen aufzusplittern. Jede Windung entsendet zwei dicke 
Stiele (Pedunculi), welche tief in die Zentralmasse des Protocere- 
brons eintauchen (in dem Mikrophotogramm Fig. 2 sind nur die vor- 


RER 





Fig. 3. Frontalschnitt durch das Gehirn (Öberschlundganglion) der 

Schmeißfliege (Calliphora vomitoria). — Mikrophotogramm. Vergr. ca. 40 X. 

Toluidinblaufärbung. Cp = die kaum andeutungsweise entwickelten Corpora pedun- 
culata. Die übrigen Bezeichnungen wie in Fig. 2. 


deren Umbiegungen dieser mächtigen Stiele zu sehen, da ihre Ver- 
einigung mit den Corp. pedunec. erst in etwas kaudaleren Ebenen 
erfolgt). 

Die eben geschilderte mächtige Entwickelung der Corpora 
peduneulata findet sich nun aber bezeichnenderweise nur bei den 
phylogenetisch jungen sozialen Hymenopteren (Ameisen, Bienen, 
Wespen), und auch da nur in der Weibchen- und Arbeiterkaste, 
welche ja auch allein jene höheren plastischen Fähigkeiten verraten, 
von denen wir oben gesprochen haben. Bei den viel dümmeren 
Männchen sind diese Organe, wie Forel zuerst nachwies, stets 
wesentlich kleiner, nur wenig gefaltet, oft geradezu rudimentär und 
bei den übrigen (nicht sozialen) Insekten stellen sie bestenfalls nur 
einfach geschichtete, dorsale Höcker, ohne jede Faltung dar, oder 
fehlen vollständig. So werden Sie dieselben z. B. bei den stu- 


Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen ete. 231 


piden Fliegen, diesen Proletariern unter den Insekten, vergeblich 
suchen; man sieht hier (Fig. 3) an der entsprechenden Stelle nur 
medial eine spärliche Ansammlung von Körnerzellen, während die 
ganze dorsale Partie des Protocerebrons zwischen den (hier dafür 
um so mächtiger entwickelten) Lobi optici einfach fach abgeschnitten 
erscheint. — Mit Rücksicht auf alle diese Tatsachen ist man m. E. 
gewiss zu dem Schlusse berechtigt, dass man in den Gorpora 
pedunculata tatsächlich einen phylogenetisch relativ 
spät auftretenden, funktionell hochwertigen zentralen 
Assoziationsapparat vor sich hat, welcher also insofern 
gewissermaßen ein Analogon des Großhirns der Wirbel- 
tiere darstellen dürfte. — 

Und nun wollen wir uns den merkwürdigen biologischen Pro- 
blemen zuwenden, vor welche die staunenswerte Orientierungsfähig- 
keit der Ameisen die Wissenschaft gestellt hat. Wir unterscheiden 
dabei, nach dem Vorgehen von Cornetz, zunächst aus rein prak- 
tischen Gründen scharf zwischen zwei Grundphänomenen: 
Einer Massenorientierung zahlreicher Individuen auf kollektiv 
begangenen Wegen und der Orientierung einzeln vom Nest aus- 
gehender Individuen. Bei vielen Arten, so namentlich bei den 
augenlosen und schlecht sehenden, wie Lasius fuliginosus, ist aus- 
schließlich der erste Modus im Gebrauch, andere Arten gehen nach 
Belieben bald scharenweise, bald einzeln vom Neste aus (Formica, 
Polyergus, Lasius niger), noch andere immer nur vereinzelt (Cata- 
glyphis). Die psychobiologischen Grundlagen beider Orientierungs- 
arten sind z. T. wesentlich verschieden. 


1. Die Massenorientierung. 


Dieselbe ist in der Regel (aber durchaus nicht immer) eine 
Orientierung auf vorgezeichneter Bahn, welche zumeist 
durch eine chemische Spur, seltener durch eigentliche von den 
Ameisen angelegte gebahnte Straßen markiert wird. Uns inter- 
essiert hier vor allem die Orientierung auf Geruchsspuren, 
da diese Erscheinung trotz ihrer scheinbaren Einfachheit ein Pro- 
blem in sich birgt, das bis vor kurzem noch aller Erklärungs- 
versuche zu spotten schien. Es bietet sich dabei gewöhnlich folgendes 
Bild: Man sieht auf einer Strecke von 5, 10, ja selbst 100 und 
mehr Metern eine ununterbrochene Kette von Ameisen zwischen 
Nest und Ziel (gewöhnlich ein Blattlausstrauch) hin- und herwandern; 
dabei folgt jedes Tier, fortwährend den Boden mit den Fühlern ab- 
tastend, genau seinem Vordertier, ohne auch nur einen Finger breit 
vom Weg abzuweichen. Dass die Ameisen dabei in der Tat eine 
auf dem Boden deponierte materielle Geruchsspur verfolgen, geht 
aus einem einfachen Versuch hervor, den der Genfer Gelehrte 
Ch. Bonnet schon vor mehr als 100 Jahren machte. Zieht man 


232 Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen ete. 


nämlich mit dem Finger einen Strich quer über die Straße, so 
stauen sich die Ameisen zu beiden Seiten desselben an; sie suchen 
aufgeregt mit den Fühlern herum, bis endlich eine es wagt, das 
Hindernis langsam, zögernd zu überschreiten, worauf die übrigen 
folgen und der Verkehr sich allmählich wieder herstellt. Neuer- 
dings (1911) hat übrigens Santschı durch aufmerksame Beobach- 
tung mit der Lupe festgestellt, dass viele Ameisen ihre Spur 
aktiv markieren, indem jedes Individuum von Zeit zu Zeit stehen 
bleibt und ein winziges, wahrscheinlich den Analdrüsen entstammen- 
des Sekrettröpfehen auf dem Boden deponiert. Über die Flüchtig- 
keit, bezw. die Zähigkeit des Festhaftens des Spurgeruches gewann 
ich selbst auf folgende Weise einige Anhaltspunkte: Ich ließ Ameisen 
(Lasius niger) durch ein System kommunizierender Glasröhren wan- 
dern, schaltete dann einzelne Röhren für eine bestimmte Zeit aus 
und sodann wieder ein. Ich fand, dass der Spurgeruch der aus dem 
Verkehr ausgeschalteten Röhre noch nach 2, 4 und 8 Stunden in fast 
unverminderter Stärke anhaftete; auch durch Ausblasen mit dem 
Munde, ja selbst durch 5 Minuten langes Auswaschen in kaltem 
Wasser wurde er nicht völlig entfernt. Um eine vollständige Ver- 
kehrsunterbrechung zu bewirken, musste ich das Lumen der Röhre 
nach der Spülung mit Watte ausreiben! 

Nach alledem sollte man denken, dass die Orientierung auf 
Geruchsspuren ein sehr einfacher, vielleicht gar reflektorischer Vor- 
gang sei. Nun hat aber Bethe (l. c.) im Jahre 1898 die merk- 
würdige Entdeckung gemacht, dass die Ameisen nicht allein die 
Spur als solche, sondern auch die beiden Richtungen derselben 
anscheinend unmittelbar zu unterscheiden vermögen, und zwar 
nicht etwa mit Hilfe zufälliger Nebenwahrnehmungen anderer Sinne 
(z. B. Wahrnehmung der Lichtrichtung), sondern auf rein olfaktivem 
Wege. Infolge dieser wichtigen Entdeckung Bethe’s gestaltete 
sich die Frage der Orientierung auf Geruchsspuren zu einem der 
schwierigsten und umstrittensten Probleme der Insektenpsychologie. 

Bethe leitete eine Fährte von ZLasius niger, dıe zu einem Blatt- 


lausstrauch führte, über drei aufeinanderfolgende schmale Brettchen, 
a, b und 


(Blattläuse) + | < c — | - b - | — a <| (Nest) 


Drehte er nun eines dieser Brettchen (z. B. b) rasch um 180°, 


(Bl.) os ze 5 .- (N.) 


so entstand an den beiden Grenzen des Drehstückes jedesmal eine 
sehr deutliche Verkehrsstörung, ähnlich wie im Bonnet’schen 
Versuch, obschon ja durch das Drebungsmanöver die Spur als solche 
nicht unterbrochen wurde. Dagegen bewirkte die bloße Vertauschung 








Brun, Das Örientierungsproblem im. allgemeinen etc. 233 


der Brettehen keine Verkehrsstörung, so lange dieselben nicht gleich- 
zeitig auch gedreht wurden: 


Nun legte Bethe die Brettehen b und e nebeneinander, 
und zwar b nicht gedreht, ce um 180° gedreht: 


RT SONENEIRE FAR b 
(Bl.) DT > ine a -| + (N.) 


Die Folge war natürlich einmal eine komplette Verkehrsunter- 
brechung an der Stelle, wo e früher gelegen hatte, seitens der von 
den Blattläusen heimkehrenden Ameisen. Die vom Nest her auf 
dem Teilstück a ankommenden Ameisen hingegen gingen von a 
sämtlich auf das nicht gedrehte Teilstück b über, suchten an dessen 
Ende eine Weile nach der unterbrochenen Spur und wanderten 
dann aufec wieder nach a zurück. Daselbst neue Verwirrung, 
abermaliges Übergehen nach b, wiederum Zurückwandern auf ce 
u.s. w., „wie in einem Circulus vitiosus gefangen“. 

Aus diesen merkwürdigen Resultaten seiner Experimente glaubte 
Bethe den Schluss ziehen zu müssen, dass die chemischen Duft- 
teilchen der Ameisenspur eine polare Anordnung besitzen, so 
zwar, dass alle in der Richtung vom Nest nach den Blattläusen 
verlaufenden Spuren negativ polarisiert seien, alle in der umge- 
kehrten Richtung (nestwärts) führenden dagegen positiv polarisiert. 
Die olfaktive Rezeption dieser Polarisation sollte dann in den 
Ameisen einen „Chemoreflex“ auslösen, welcher sie zwingen würde, 
die verschiedenen Fährten stets nur im Sinne ihrer „Polarität“ zu 
verfolgen. 

Die Bethe’sche Polarisationshypothese hat indessen trotz ihrer 
bestechenden Einfachheit bei den Kennern des Ameisenlebens eben- 
sowenig Anklang gefunden, wie die übrigen nihilistischen An- 
schauungen dieses Autors über das psychische Leben der Insekten. 
Sie wurde insbesondere durch Wasmann?) als theoretisch wie 
sachlich gleichermaßen unbegründet vollständig widerlegt. Auf 
die scharfsinnige und gründliche Beweisführung Wasmann’s brauche 
ich hier nicht näher einzugehen, da Bethe’s Polarisationslehre, 
wie seine Reflextheorie überhaupt, längst von allen Forschern ver- 
lassen ist und heute nur noch historisches Interesse besitzt. Nur 
ein Hauptpunkt der Wasmann’schen Kritik sei hier wenigstens 
angedeutet, die Tatsache nämlich, dass ja die Ameisen auf ıhren 
Geruchsfährten stets in beiden Richtungen verkehren, so dass 
somit eine beim Hinweg allenfalls entstandene Polarisation der 


22) Wasmann, Die psychischen Fähigkeiten der Ameisen. II. Aufl. — 
Schweizerbart’scher Verlag (E. Nägele), Stuttgart 1909. 


234 Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen etc. 


„Hinspuren* durch die umgekehrt polarisierten „Rückspuren“ der 
heimkehrenden Ameisen vorweg wieder aufgehoben würde; — 
es sei denn, dass die beiden en stets säuberlich getrennt neben- 
einander herlaufen würden. Das ist aber keineswegs der Fall; 
vielmehr überkreuzen und überlagern sich auf dem sehr schmalen 
Terrainstreifen natürlich Tausende von Hin- und Herspuren in 
wirrem Durcheinander. 

Wasmann’s Erklärung des Bethe’schen „Polarisationsphäno- 
mens“ gipfelt in der Annahme, dass die Ameisen imstande seien, 
die „Geruchsform“ ihrer Fußspuren zu unterscheiden. Die- 
selbe müsste natürlich für die hin- und zurückführenden Spuren 
verschieden sein (d. h. eine verschiedene Richtung haben), da die 
Stellung der Füße in beiden Fällen eine entgegengesetzte ist. Nimmt 
man nun außerdem noch an, dass dıe Hinspuren wahrscheinlich einen 
gewissen Nestgeruch, die Rückspuren dagegen mehr einen Blatt- 





Fig. 4. Schema zur Veranschaulichung der „Fußspurentheorie“ von 

Wasmann: Das Mittelstück der Fährte N Z: a # y ö ist um 180° gedreht. Weiße 

Keile: Die mit Nestgeruch behafteten „Hinspuren“. Schwarze Keile: Die nach 

Futter duftenden „Rückspuren“. Die bei ab, bezw. cd vor dem Drehstück an- 

kommenden Ameisen treffen dort plötzlich verkehrt stehende ‚„Geruchsformen“ 

(Hin- und Rückspurformen) an. — (Aus Brun, Raumorientierung der 
Ameisen.) 


lausgeruch an sich haben, so wären durch eine solche Kombination 
zweier verschieden gerichteter Spurformen mit zwei verschiedenen 
Geruchsqualitäten die beiden Richtungen der Fährte allerdings un- 
mittelbar eindeutig erkennbar. Die Sache wäre dann nämlich, um 
ein Gleichnis aus unserer Sinneswelt zu gebrauchen, ungefähr so, 
wie wenn auf einer Landstraße alle von der Stadt nach dem Dorfe 
wandernden Passanten mit roter Farbe angestrichene Schuhe an- 
hätten und somit rote, dorfwärts gerichtete Fußabdrücke hinter- 
lassen würden, alle in der umgekehrten Richtung wandernden Leute 
dagegen blaue (Fig. 4). 

Es ist ohne weiteres zuzugeben, dass diese „Fußspurentheorie* 
Wasmann’s (wie wir sie nennen wollen) sämtliche von Bethe 
beobachteten Erscheinungen in befriedigender Weise erklärt. Be- 
denkt man aber anderseits, dass die Gehspur einer Ameise sechs- 
füßig ist und dass auf einer vielbegangenen Fährte nicht zwei, 
sondern Tausende von solchen sechsfüßigen Einzelspuren sich ın 
wirrem Durcheinander überlagern, so wird man zugeben müssen, 
dass der Wasmann’sche Erklärungsversuch doch zum mindesten 
ein sehr gewagter und gekünstelter ist. 


Brun, Das Orientierungsproblem im ‚allgemeinen etc. 235 


Noch anders, wiewohl ebenfalls auf der Grundlage seiner topo- 
chemischen Theorie, suchte Forel das Bethe’sche Phänomen zu 
erklären. Im Gegensatz zu Wasmann verlegt er das Hauptgewicht 
nicht auf die Spur selbst, sondern auf den benachbarten Raum 
links und rechts neben der Spur und stellt sich vor, dass die 
Ameisen bei häufiger Begehung einer bestimmten Fährte von den 
sukzessive angetroffenen Gegenständen links und rechts der Spur 
allmählich eine gewisse Summe assoziierter topochemischer 
Engramme gewinnen werden. Sie werden, mit anderen Worten, 
allmählich eine förmliche „Geruchskarte“ ihres Weges aufnehmen, 
mit deren Hilfe sie sich jederzeit darüber orientieren können, was 
links und rechts, was vorn und hinten ist und sie werden also, 
wenn man nun plötzlich eine Teilstrecke des Terrains um 180° 
dreht, offenbar „eine plötzliche Umkehrung des Raumes verspüren, 
die sie notwendig desorientieren muss“, da jetzt die Reihenfolge 
der links und rechts angetroffenen Geruchsformen sich nicht mehr 
in Übereinstimmung befindet mit der in ihrem Gedächtnis engra- 
phierten Sukzession. 

Auch durch diese geistreiche Theorie wird m. E. das Zustande- 
kommen des Bethe’schen Phänomens nicht in allen Fällen erklärt. 
Denn wenn es auch zweifellos richtig ıst, dass die Ameisen auf 
ihren Reisen von der sukzessive wechselnden allgemeinen Be- 
schaffenheit des Bodens, über welchen sie gewandert sınd?), viel- 
leicht auch von gewissen, besonders charakteristischen Örtlichkeiten 
topochemische Engramme fixieren, so ist doch schwer einzusehen, 
wie eine sukzessive Engraphie zahlreicher differenter Einzelengramme 
auch unter den künstlich vereinfachten Bedingungen des Bethe’- 
schen Versuchs zustande kommen soll, wo die Spur über drei 
ganz gleichartige homogene Brettchen führte. 

Diese kritischen Bedenken, die ich sowohl der Wasmann’schen 
wie der Forel’schen Deutung des Spurdrehungsphänomens ent- 
gegenhalten musste, veranlassten mich, die merkwürdige Erschei- 
nung unter variablen Versuchsbedingungen nochmals nachzuprüfen 
und genauer zu analysieren. Ich ging dabei von den folgenden 
Überlegungen aus: 

Falls die Ameisen wirklich, wie Wasmann annımmt, die Ge- 
ruchsform ıhrer Fußspuren zu unterscheiden vermögen, so müssten 
sie offenbar auch imstande sein, die beiden Richtungen ihrer Fährte 
augenblicklich, vom Fleck weg, wo man sıe hinsetzt, zu er- 
kennen, und zwar ganz gleichgültig, ob sie die betreffende Fährte 
von früheren Gängen her „kennen“ oder nicht. Hätte dagegen 
Forel recht, so wäre die Richtungsunterscheidung den Ameisen 
natürlich nur auf solehen Fährten möglich, welche sie von früher 


23) Ich werde hierfür weiter unten noch nähere Beweise anführen. 


236 Brun, Das Örientierungsproblem im allgemeinen etc. 


her kennen, nicht aber auf solchen, die sie früher nie begangen 
haben (da sie ja keine Engramme von solchen besitzen). Aber 
auch auf „bekannten Fährten“ wäre ıhnen die Entscheidung zwischen 
den beiden Richtungen jedenfalls nicht sofort, vom Fleck weg, wo 
man sie hinsetzt, möglich, sondern sie wären zweifellos genötigt, 
durch kurzes Hin- und Herwandern in beiden Richtungen zu- 
nächst den Gang der topochemischen Sukzession festzustellen. 
Meine Versuche, die ich ın ihrer Gesamtheit als den „mne- 
mischen Versuch“ bezeichnet habe, bestanden demnach im Prin- 
zıp darin, dass ich Ameisen auf irgendeinen Punkt bald einer ihnen 
im obigen Sinne „bekannten“, bald einer sicher unbekannten Fährte 
setzte und nun beobachtete, ob und auf welche Weise sie eine 





Fig. 5. (Aus Brun, Raumorientierung der Ameisen.) 


Richtungsentscheidung zu treffen imstande waren. Zu diesem 
Zwecke teilte ich eine Kolonie der glänzend schwarzen Lasius fuli- 
ginosus (eine Art, die sich fast ausschließlich auf Geruchsfährten 
bewegt) in zwei getrennte Abteilungen A und B. Die Abteilung A 
kam in einen provisorischen Behälter, aus dem ich nach Be- 
darf Ameisen und Brut entnehmen konnte. Die Abteilung B da- 
gegen etablierte ich ın einem künstlichen Beobachtungsnest (N) 
dessen gläserne Ausgangsröhre auf den Anfang einer 1 m langen 
schmalen Papierbrücke mündete (Fig. 5). Diese Brücke verlief 
quer über den Mittelpunkt eines nach meinen Angaben konstruierten 
kreisrunden Experimentiertisches zu einer kleinen Plattform (Pl), 
auf welcher ich den Ameisen nach Bedarf Honig reichte. Der zen- 
trale Kreis des Tisches samt dem über ıhn führenden Brückenstück 
konnte für sich gedreht werden. 


Brun, Das Örientierungsproblem im allgemeinen etc. 237 


Um eine rein olfaktorische Orientierung zu haben, musste ich 
natürlich alle übrigen Orientierungsmöglichkeiten durch geeignete 
Maßnahmen sicher ausschließen, in erster Linie die optische Orien- 
tierung. Dies geschah erstens dadurch, dass ich in einem Dunkel- 
zelt arbeitete, dessen gleichmäßig schwarze Wände und Gewölbe 
keinerlei visuelle Anhaltspunkte boten und zweitens durch „bipo- 
lare“ Beleuchtung, indem ich statt einer Lichtquelle deren 
zwei an genau symmetrischen Punkten links und rechts am Tische 
(quer zur Achse der Brücke) aufstellte. Bei dieser Versuchsanord- 
nung ist es klar, dass eine von der Mitte der Brücke abgehende 
Ameise in beiden Augen streng symmetrische Lichteindrücke 
empfangen muss, deren sinnliche Lokalisation sich gleichbleibt, ob 
sie nun in der Richtung N oder in der entgegengesetzten Richtung 
läuft; mit anderen Worten die Orientierung wird hinsichtlich der 
sinnlichen Lokalisation der Lichtquelle zweideutig bestimmt sein 
und keinerlei Indikation der relativen Richtungen gewähren. 

Die Ameisen zögerten nicht, eine lebhaft begangene „Futter- 
fährte* zu dem Honig auf P! zu etablieren. Nun führte ich die 
oben angedeuteten Versuche wie folgt aus: 

I. 1. Ich fing Ameisen, die eben, vom Honig gesättigt, nach 
dem Nest zurückkehren wollten, bei Pl vermittelst eines Bleistifts 
ab und ließ sie von dessen Spitze auf die Mitte der Brücken- 
fährte absteigen, und zwar in der falschen Richtung, d. h. gegen 
Pl. Resultat: Alle Ameisen behielten diese falsche Rich- 
tung zunächst noch eine Strecke weit bei. Nach einer Weile 
aber stutzten sie, schwankten ein- oder mehrmals, indem sie kurze 
Schleifen nach beiden Richtungen beschrieben und kehrten dann 
schließlich definitiv nestwärts um. Sie benahmen sich also genau 
so, wie wir es nach der Forel’schen Hypothese erwartet hatten: 
Als ob sie den Gang der topochemischen Sukzessionen feststellen 
wollten. 

2. Ich lasse die Ameisen näher beim Nest auf die Brücke ab- 
steigen. Gleiches Resultat, doch erfolgt jetzt die Umkehr aus der 
falschen Richtung viel früher als von der Mitte aus. 

3. Abstieg von der Mitte in der Richtung N: Die im Ver- 
such 1 beobachteten Schwankungen werden zumeist vermisst; 
die Ameisen verfolgen die gute Richtung anfangs zögernd, dann 
immer sicherer bis zum Nest. 

II. Ich wiederholte die gleichen Versuche mit Ameisen aus der 
Abteilung A, denen also die Brücke vollständig „unbekannt“ (im 
Sinne Forel’s) sein musste. Um eine eindeutige Reaktion zu haben, 
benutzte ich aber zu diesen Versuchen nur solche Ameisen, die 
gerade eine Larve trugen, denn diese können selbstverständlich 
nur ein Ziel haben: Das schützende Nest. Resultat: Diese 
Ameisen benahmen sich genau ebenso wie die Ameisen B, d.h, 


238 Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen etec. 


auch sie erkannten, nach anfänglichem Falschgehen, regelmäßig 
ihren Irrtum und korrigierten nach N. Folglich kann diese 
olfaktorische Richtungsunterscheidung nicht auf 
dem Vorhandensein einer topochemischen Engramm- 
sukzession beruhen, wie es anfangs den Anschein hatte. 
Aber auch Wasmann hat Unrecht, denn diese Richtungs- 
unterscheidung erfolgte in keinem einzigen Falle un- 
mittelbar vom Fleck weg, wo die Ameisen hingesetzt 
wurden, sondern erst nach Zurücklegung einer gewissen 
Wegstrecke und eventuell unter wiederholtem Schwan- 
ken zwischen beiden Richtungen. 

Iil. Nunmehr ersetzte ich den Honig auf der Plattform durch eine 
große Menge Larven, welche die Ameisen sofort ins Nest abzuholen be- 
gannen. Nach einigen Stunden war der Larventransport noch in vollem 
Gange. Ich wiederholte die verschiedenen Varianten des mnemischen 
Versuchs und war überrascht zu sehen, dass jetzt alle in der falschen 
Richtung abgestiegenen Ameisen diese falsche Richtung bis zur 
Plattform beibehielten, ohne unterwegs jemals zu schwanken oder 
gar zu korrigieren, mit anderen Worten, dass auf Fährten, über 
welche längere Zeit Brut getragen wurde, eine olfakto- 
rische Richtungsindikation vollständig zu fehlen schien. 
Das wurde noch deutlicher, als ich nun die Larven, anstatt von der 
Plattform, von der Mitte der Fährte abholen ließ: Die vom Nest 
her bei dem Larvenhaufen ankommenden Ameisen stutzten, stiegen 
auf den Larven herum, ergriffen schließlich eine und wollten mit 
ihr nach Hause eilen. Gut die Hälfte gingen aber nach der 
falschen Seite ab, gelangten zur Plattform, wo sie lange nach 
dem Nesteingang suchten und kehrten dann erst nestwärts um oder 
verirrten sich gänzlich °%). 

Nun brachte ich an der einen Seite der Brücke eine 5 mm 
hohe Brüstung aus steifem Papier an, so zwar, dass die vom Nest 
zur Plattform wandernden Ameisen dieses Geländer links hatten, 
die heimkehrenden Ameisen dagegen zur Rechten. 3 Tage ließ ich 
diese Versuchsanordnung bestehen und wiederholte sodann den Ver- 
such des „Larvenabholens aus der Mitte“. Und siehe da! Diesmal 
ging nur etwa ein Viertel bis ein Fünftel der Ameisen aus der 
Mitte nach der falschen Seite ab und auch von diesen falsch ge- 
gangenen korrigierten die meisten, sobald sıe zufällig mit dem 
Fühler ans Geländer stießen. Sie stutzten dann, traversierten 
schräg zur geländerfreien Seite hinüber, stutzten abermals und 
kehrten um! Der merkwürdige Vorgang wiederholte sich so kon- 
stant, dass ein Zufall vollkommen auszuschließen ist. Die Probe 


24) Ich erinnere hier nochmals, dass sämtliche Versuche im Dunkelzelt unter 
bipolarer Beleuchtung ausgeführt wurden. 


Brun, Das Örientierungsproblem im allgemeinen etc. 239 


w 


aufs Exempel erhielt ich übrigens sofort, als ich das Geländer mit 
der Schere wieder abschnitt: Sofort gingen wieder 50%, der Ameisen 
falsch und keine einzige stutzte unterwegs oder kehrte um. Dieser 
Versuch beweist somit, dass die Ameisen die topoche- 
mischen Eindrücke ıhrer linken Körperseite von den- 
jenigen der rechten unterscheiden und dass sie auch ım- 
stande sind, solche konstant einseitig lokalisierten 
Eindrücke mit der entsprechenden Wegrichtung zu asso- 
ziieren, bezw. die Wegrichtung daraus zu erkennen. 

Diese verschiedenen Varianten des mnemischen Versuchs haben 
uns über die Natur des Bethe’schen Phänomens eigentlich mehr 
negative Aufklärung gebracht, neben einigen positiven Hinweisen. 
Wir wissen jetzt, dass diese geheimnisvolle Richtungsindikation 
nicht vom Fleck weg, sozusagen von Millimeter zu Millimeter, ent- 
steht, dass sie (auf gleichförmig begrenzter Fährte) nicht auf dem 
Vorhandensein einer topochemischen Engrammsukzession beruht, 
dass sie näher beim Nest rascher zustande kommt als in der Mitte 
der Fährte und endlich, dass sie auf Fährten, über welche längere 
Zeit Brut getragen wurde, vollständig fehlt. 

Zum Zwecke einer weiteren Aufklärung der Erscheinung 
wiederholte ich nun auf meiner Brückenfährte auch die Bethe’- 
schen Drehungsexperimente, und zwar einerseits auf der 
„Futterfährte“, andererseits auf der „Brutfährte“, mit folgenden 
Modifikationen: Ich legte auf das Nestende und auf das Platt- 
formende der Brücke gleichbrete mobile Papierstreifen 
von sukzessive zunehmender Länge. Nachdem sich der Ver- 
kehr notgedrungen seit einigen Stunden über diese Hindernisse 
wieder hergestellt hatte, drehte ich erstens jeden Streifen an Ort 
und Stelle um 180° sodann vertauschte ich beide Streifen mit- 
einander, bald um 180° gedreht, bald nicht gedreht. Es wurde 
jedesmal an beiden Orten beobachtet, ob eime Verkehrsstörung ein- 
trat oder nicht und der Grad derselben zahlenmäßig (nach den 
Reaktionen der 12 ersten bei den Drehstücken ankommenden Ameisen) 
festgestellt, wobei ich vier verschiedene Grade des Stutzens unter- 
schied. So erhielt ich eine fortlaufende Serie zahlenmäßiger Be- 
lege, aus deren Vergleichung im wesentlichen folgendes her- 
vorgeht: 

1. Es zeigte sich, wie im mnemischen Versuch, dass das 
Bethe’sche Phänomen auf der „Brutfährte“ vollständig 
negativ ist, indem alle Ameisen sowohl die an Ort und Stelle 
gedrehten als die miteinander vertauschten Streifen stets passierten, 
ohne ım geringsten zu stutzen. 

2. Dagegen ıst das Phänomen auf der Futterfährte aller- 
dings durchweg positiv, jedoch mit folgenden wichtigen Besonder- 
heiten: | 


240 Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen etc. 


a) Im Gegensatz zu Bethe’s Angaben kam eine starke Re- 
aktion auch dann zustande, wenn der Neststreifen mit dem Platt- 
formstreifen ohne Drehung vertauscht wurde ?°). 

b) Die Reaktion nımmt zu mit zunehmender Länge des ge- 
drehten Spurabschnittes; 

c) sie fällt stärker aus nach Vertauschung der (gedrehten) Teil- 
stücke als nach bloßer Drehung derselben an Ort und Stelle; 

d) sie ıst am Nestende der Fährte um das Vielfache intensiver 
als am Futterende; 

e) und endlich reagieren die vom Nest zum Futter wandernden 
Ameisen an beiden Orten stets viel intensiver als die heimkehren- 
den Ameisen. 

M.H.! Alle diese Tatsachen lassen sich m. E. in befriedigender 
Weise nur durch die Annahme erklären, dass der Geruchskom- 
plex der Ameisenspur im Verlaufe seiner Kontinuität ein 
sukzessives Intensitätsgefälle gewisser Komponenten 
aufweist, und zwar wahrscheinlich nach beiden Rich- 
tungen: Beim Ausgehen vom Neste verschleppen Tausende von 
Ameisen den Nestgeruch an den Füßen und Fühlern in sukzessive 
abnehmender Intensität ın der Richtung des Zieles, und umgekehrt 
verschleppen die heimkehrenden Ameisen den Honiggeruch in 
abnehmender Stärke nestwärts. Die Fährte wird also ın der Nähe 
des Nestes starken Nestgeruch und keinen oder nur schwachen 
Honiggeruch aufweisen, während in der Nähe des Zieles das Um- 
gekehrte der Fall sein wird. Dreht man nun sagen wir in der 
Nähe des Nestes — ein Teilstück der Fährte um 180°, so werden 
die vom Nest her bei demselben ankommenden Ameisen plötzlich 
eine starke Intensitätsschwankung wahrnehmen, die natürlich 
um so stärker ist, je länger das gedrehte Teilstück ıst. Betreten 
sie aber das Drehstück trotzdem, so werden sie bei weiterer Ver- 
folgung der Fährte anstatt zunehmenden Honiggeruchs wieder zu- 
nehmenden Nestgeruch verspüren, was sie vollends desorien- 
tieren muss. In der Nähe des Zieles liegen die Verhältnisse ähnlich 
mit Bezug auf den Honiggeruch, doch dürfte dieser letztere sich 
der Fährte mit viel geringerer Intensität mitteilen, als der Geruch 
des Nestes, in dem sich die Ameisen den größten Teil des Tages 
über aufhalten. Auch werden die Ameisen in der Nähe des Zieles 
nicht mehr in dem Maße fähig sein, auf kleinste Intensitätsschwan- 
kungen zu reagieren wie beim Nest, teils wegen direkter Ermüdung 
der Geruchsorgane, teils weil sie, nach Zurücklegung des größten 
Teiles des Weges, ihrer Sache nunmehr sicherer geworden sind. 
So erklärt sich die viel geringere Reaktion der Ameisen in der 





25) Dieser Widerspruch mit Bethe’s Resultaten dürfte sich so erklären, dass 
bei meinen Versuchen die beiden Teilstücke viel weiter auseinanderlagen als in den 
3ethe’schen Experimenten. 


Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen etc. 341 


Nähe des Zieles, verglichen mit der Reaktion beim Nesteingang. 
In noch höherem Maße wird das zuletzt erwähnte — mnemische — 
"Moment sich bei den heimkehrenden Ameisen ‚geltend machen, 
denn diese alle haben ja die gesamte Strecke schon einmal beim 
Hinweg durchmessen und dürften daher ım Besitze gewisser aktueller 
Engramme sowohl von der allgemeinen topochemischen Beschaffen- 
heit der Fährte als von deren Länge sein. Sie haben es daher 
nicht mehr nötig, die Spur so sklavisch mit den Antennen zu ver- 
folgen wie beim Hinwege und so werden ihnen feinere Intensitäts- 
schwankungen ın der Zusammensetzung des Spurgeruches leicht 
entgehen. Daher die geringe Reaktion der heimkehrenden Ameisen 
auf die Spurdrehung. 

Wesentlich anders legen die Verhältnisse auf der „Brut- 
fährte*. Hier wird der Zielgeruch (in diesem Falle also der 
Larvengeruch) nicht bloß ın Gestalt spärlicher Geruchspartikel auf 
die Spur verschleppt, sondern die Fährte wırd, infolge des Trans- 
portes der Larven, mit diesem Zielgeruch ın gleichmäßiger 
und originärer Stärke gleichsam bestrichen. Die Fährte 
wird daher in allen ihren Abschnitten allmählich einen vollkommen 
homogenen Brutgeruch annehmen, welcher den Nestgeruch um so 
eher übertäuben wird, als dieser letztere, infolge der Gegenwart von 
vielen tausend Larven ım Neste, im wesentlichen wohl selbst einen 
„Brutgeruch“ darstellt und welcher weder ın der einen noch ın 
der anderen Richtung ein merkliches Intensitätsgefälle darbieten 
wird. — 

Damit haben wır das geheimnisvolle Spurdrehungsphänomen, 
wie ich glaube, ın einfacher und befriedigender Weise erklärt, — 
ohne Herbeiziehung eines physiologisch unfassbaren, mystischen 
Prinzips, wie es die Bethe’sche „Polarisation“ ım Grunde ist und 
ohne andererseits den Ameisen irgendwelche außerordentlichen sınn- 
lichen oder psychischen Fähigkeiten zuzuschreiben. Glauben Sie aber 
nicht, dass die Frage der Orientierung auf Geruchsfährten damit 
erschöpft sei; — der olfaktorısche Faktor ıst nur eine, allerdings 
sehr wesentliche Komponente dieses verwickelten Mechanismus, 
welche nötigenfalls für sich allein zur Indikation der relativen Rich- 
tungen ausreicht. Die übrigen Faktoren, welche hier noch eine 
Rolle spielen, werden wir bei der Orientierung auf Einzelwande- 
rung kennen lernen, deren experimenteller Analyse wir uns nun- 
mehr zuwenden wollen. 


2. Die Orientierung auf Einzelwanderung. 

Die Rolle des Geruchssinnes bei der Orientierung der Ameisen 
wurde früher ım allgemeinen überschätzt, obschon man längst wusste, 
dass es sogar gewisse Formen der Massenorientierung gibt, bei 
welchen dieser Sinn von sekundärer Bedeutung zu sein scheint. 

XXXV. 16 


342 Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen ete. 


So versagt z. B. der Bonnet’sche Fingerversuch auf den Heerstraßen 
der roten Waldameise (Formica rufa) vollkommen. Bei der gleichen 
Art blendete Forel die Fazettenaugen, indem er sie mit schwarzem 
Lack überzog; er fand, dass die so behandelten Tiere die größte 
Mühe hatten, die Ameisenstraße zu verfolgen und alle Augenblicke 
seitwärts abirrten. Forel?®) sowie Fabre?’) berichten ferner über- 
einstimmend, dass die von ihren Raubzügen heimkehrende Armee 
der Amazonenameise (Polyergus rufescens) durch Abschwemmen des 
Bodens mit dem Wasserstrahle in der Einhaltung ihrer Richtung 
keineswegs beeinträchtigt wird. Auch Miss Fielde°®), die Ameisen 
auf der Heimkehr durch Unterwassersetzen des Bodens zum 
Schwimmen zwang, konstatierte die gleiche Erscheinung. Was- 
mann (l. ce.) wies in seiner Kritik der Bethe’schen Polarisations- 
theorie unter anderm auch auf die Saisonumzüge der Formica san- 
guinea hin, welche keineswegs auf einer schmalen Fährte erfolgen. 
Alle diese Autoren kamen zu dem Schlusse, dass, zum mindesten bei 
den genannten Arten, auch der Gesichtssinn, bezw. ein gewisses 
Maß von visuellem Ortsgedächtnis, bei der Orientierung wesent- 
lich beteiligt seı. 

Man wusste ferner längst, 


Nenn! )_ x en dass"Ameisen? Schr Xof Jauch 
einzeln vom Nest ausgehen 


R x1 und dass sie dabei oft so- 

gar recht weite Wanderungen 

Fig. 6. unternehmen; man setzte aber 

ohne weiteres voraus, dass 

diese Einzelgänger auf ihrer eigenen Hinspur zum Neste zurück- 

finden. Diese durch nichts begründete Annahme wurde dann durch 

den französischen Psychologen H. Pi@eron?’) zum ersten Male 
experimentell widerlegt. 

Pieron fing einzeln wandernde Ameisen auf der Heimkehr 
zum Nest bei irgendeinem Punkt & ab und versetzte sie mehrere 
Meter seitwärts, auf einen Punkt x, (Fig. 6): 

Die so transportierten Ameisen setzen ihre Reise ruhig fort, 
jedoch nicht mehr in der Richtung des Nestes, sondern in einer 
Richtung, welche der vor dem Transport eingehaltenen 
genau parallel ıst und noch ungefähr so weit, als der 
Distanz («—N) entspricht, die sie, ohne Transport, noch 
bis zum Neste hätten zurücklegen müssen. Dann beginnen 


26) Forel, Fourmis de la Suisse, Geneve 1874. 

27) Fabre, Souvenirs entvmologiques Il; Paris, Delagrave 1870. 

28) Fielde, Experiments with ants induced to swim. Proc. Acad. Nat. 
Sc. Philadelphia 1903. 

29) Pieron, Du röle du sens musculaire dans l’orientation des Fourmis. 
zull, Inst. gen. Psychol. 1904. 


Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen etc. 345 


sie wirre „konzentrische Kurven“ zu beschreiben, als ob sie das 
Nest suchen wollten. Mit anderen Worten: Die Ameisen verhalten 
sich nach dem seitlichen Transport genau so, als ob sie einen 
inneren Kompass hätten, an dem sie die absolute Richtung ihrer 
Orientierung ablesen könnten und als ob sie einen Schrittmesser 
(Podometer) besäßen, der ihnen die noch zurückzulegende Distanz 
in Streckendifferenzen anzeigen würde. 

Von dieser interessanten Erscheinung ausgehend hat dann der 
algerische Ingenieur V. Cornetz°®) die Einzelwanderung bei Ameisen 
eingehend studiert. Er bediente sich dabei der graphischen 
Methode, indem er die von den Ameisen beschriebenen Kurven 
jeweilen dicht hinter den Tieren im Terrain markierte, sodann aufs 
Genaueste ausmaß und in verkleinertem Maßstab in einen geo- 
metrischen Plan einzeichnete. Er erhielt so überaus exakte Bilder 
der gesamten Reise mit allen Einzelheiten ihres Verlaufs. Das 
erste, was Cornetz feststellte, war die Tatsache, dass die Einzel- 
wanderer nicht auf einer Geruchsspur gehen, denn man 
kann den ganzen Boden vor ihnen her ausgiebig mit dem Besen 
bearbeiten, ohne dass sie davon im geringsten Notiz nehmen. Die 
Reise ist kein regelloses Umherirren, sondern sie lässt gewöhnlich 
eine bestimmte Hauptrichtung erkennen, zu welcher das Tier 
nach vorübergehenden seitlichen Abschweifungen immer wieder 
mit bemerkenswerter Genauigkeit zurückkehrt. Die Rückkehr 
zum Nest erfolgt niemals auf der „Hinspur“, sie verläuft 
jedoch in der Nähe derselben und ist ihr im großen ganzen parallel. 
Selten kommt es vor, dass eine Ameise ım Verlaufe der Reise 
nacheinander zwei (oder drei) verschiedene Hauptrichtungen ein- 
schlägt, die dann meist senkrecht aufeinander stehen. Beı der 
Rückkehr wird das so entstandene Dreieck oder Polygon nie direkt 
vermittelst der Diagonale geschlossen, sondern die verschiedenen 
Hauptachsen werden sukzessive in der umgekehrten Reihenfolge 
und auf ungefähr gleiche Distanzen wieder aufgenommen. Hat sich 
die Ameise dem Nest wieder bis auf eine gewisse (wechselnde) 
Distanz genähert, so verlässt sie ın der Regel die meist etwas 
fehlerhafte Hauptrichtung plötzlich an irgendeinem Punkte und 
korrigiert genauer nach N; meist schießt sie jedoch etwas am Ziele 
vorbei, wodurch eine neue Korrektur nötig wırd; der gleiche Vor- 
gang kann sich noch einige Male wiederholen, so dass die Ameise 
das Nest in immer engeren konzentrischen Kurven umkreist, bis 
sie schließlich genau den Nesteingang trifft. Interessant ist dabei, 
dass diese Korrekturen von den betreffenden Punkten aus (aber 
nur von diesen!) immer in der gleichen Richtung erfolgen: Ver- 


30) Cornetz, Trajets de fourmis et retours au nid. Me&moires de l’Institut 
gen. Psychol. 1910. 


16* 


44 Brun, Das Örientierungsproblem im allgemeinen etc. 


27 


setzt man beispielsweise eine Ameise, die von Y nach Z (Fig. 7) 
korrigiert hat, wieder nach Y zurück, so läuft sie wieder nach Z, 
bringt man sie aber auf irgendeinen Punkt der Strecke zwischen 
Y—Z, so läuft sie in einer beliebigen anderen Richtung?!). 

Was den Pıeron’schen Parallellauf betrifft, so wıll Cornetz 
denselben selbst im tiefsten Waldesschatten, sowie nach Transport 
aus der Sonne in den Schatten, oder umgekehrt, beobachtet haben. 
Dagegen versagt dıe Erscheinung meist vollständig, wenn der Trans- 
port auf einen dem früheren ganz unähnlichen Boden (z. B. von 
Sandboden auf eine Wiese) erfolgt, — m. E. ein Beweis, dass 
die Ameisen auf ihren Wanderungen die allgemeine 
Bodenbeschaffenheit engraphieren. Nach primärem Trans- 
port vom Nest weg fand Cornetz die Ameisen stets vollständig 
desorientiert, mit Ausnahme eines einzigen Falles, der sich folgender- 
maßen verhielt: Eine Ameisenfährte überquerte in schräger Rich- 
tung eine Landstraße; das Nest befand sich unter einem Randstein 
des Trottoirs. Als Cornetz einige Tage später den Ort wieder 

.N aufsuchte, war diese Fährte einge- 
Zn ES WR gangen. Er nahm nun einige Ameisen 

Y direkt beim Nesteingang und setzte 

rn sie mitten auf die Landstraße, einige 

Meter seitlich von der früheren Fährte. 

Die Tiere liefen sofort zum Randstein zurück und zwar in einer Rich- 

tung, welche der alten Fährte genau parallel war, und am Rand- 

stein angekommen bogen sie nach links ab, genau wie auch jene 
Fährte verlaufen war. — 

So tüchtig und gewissenhaft sich Cornetz als Beobachter er- 
wiesen hat, so ratlos ließen ıhn die von ıhm beobachteten Tatsachen 
bezüglich ihrer Deutung. Der Pieron’sche Parallellauf und die 
Konstanz der Reiserichtung sind für ıhn Rätsel, die uns zur An- 
nahme eines uns noch ganz unbekannten Richtungssinnes zwingen 
sollen. Und so stellt Cornetz denn allen Ernstes die folgenden 
erstaunlichen Behauptungen auf: 

Die Orientierung der einzeln wandernden Ameise sei 
ım Prinzip gänzlich unabhängig von irgendwelchen sınn- 
lichen Anhaltspunkten in der Außenwelt, — sie erfolge 
vielmehr kraft eines unbekannten, absoluten, inneren 
Richtungssinnes, einer Richtungsangabe, welche während 
der Hinreise ım Sensorium des Tieres entstehe und ıhm 
erlaube, eine früher einmal innegehaltene absolute Rich- 
tung des Raumes jederzeit (selbst nach Tagen) wieder 
aufzunehmen. 


31) Cornetz, La connaissancee du monde environnant son gite pour une 
fourmi d’espece sup£rieure. Revue des Idees 1912. 


Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen etc. 945 


Diese Lehre, die schon erkenntnistheoretisch völlig unhaltbar 
ist, wurde in neuester Zeit von Dr. Santschi°?), einem in Tunis 
lebenden Myrmekologen, aufs heftigste angegriffen und durch glän- 
zende Gegenexperimente vollständig widerlegt. 

Für Santschi stand es von vornherein fest, dass jede orien- 
tierte Lokomotion sich auf irgendwelche in der Außenwelt wirkende 
Reizquelle beziehen muss. Wenn also eine Ameise nach seitlichem 
Transport von einem Punkte x nach x, vom letzteren Ort aus ohne 
weiteres ihre frühere Richtung wieder aufnimmt, so kann es hier- 
für logischerweise nur eine Erklärung geben: Nämlich die, dass der 
bei x wirkende tropische Reizkomplex auch bei x, in genau der 
nämlichen räumlichen Beziehung (zum sinnlichen Rezeptor des 
Tieres) gegenwärtig ist. Ein solcher allgegenwärtiger und an jedem 
beliebigen Ort aus der gleichen Richtung fallender tropischer Reiz 
ist z. B. das Licht, speziell das Licht der Sonne. Sollten sich 
nicht die einzeln wandernden Ameisen nach dem Lichte orientieren? 
Alles, was wir über die Anatomie und Physiologie des Insekten- 
auges wissen, scheint Santschi zugunsten dieser Hypothese zu 
sprechen: 

Wir haben gesehen, dass die Fazettenaugen hauptsächlich für 
das Sehen von Bewegungen, d.h. der relativen Ortsverände- 
rungen des Netzhautbildes eingerichtet sind. Wenn dies 
richtig ist, so scheinen sie aber auch umgekehrt geeignet, bei gerad- 
liniger Fortbewegung des eigenen Körpers, große, entfernte stabile 
Objekte oder entfernte direkte Lichtquellen ın ungemein 
exakter Weise räumlich zu lokalisieren. Da nämlich die 
schmalkonischen Ommatidien nur den mehr oder minder senkrecht 
einfallenden Strahlen den Zutritt zur lichtempfindenden Sinnesfläche 
gestatten, alle schrägen Strahlen dagegen in ihren pigmentumhüllten 
Wänden absorbieren, so wird sich eine solche Lichtquelle jeweilen 
nur in wenigen Fazetten abbilden, und zwar wird diese Lokalisation 
— bei geradliniger Fortbewegung — konstant die nämliche sein, 
dank der unendlichen Entfernung der Lichtquelle. Mit anderen 
Worten: um eine bestimmte gerade Richtung einzuhalten, hat das 
Tier nur dafür zu sorgen, dass das Sonnenbild konstant in die 
nämlichen Fazetten fällt. Und wenn es sich ferner bei der Rück- 
kehr nun so zur Lichtquelle einstellt, dass deren Bild jetzt ebenso 
konstant die diametral entgegengesetzten (korrespondierenden) 
Fazetten des andern Auges trifft, so ıst klar, dass sein Kückweg dem 
Hinweg parallel sein wird und es somit ziemlich genau zum Aus- 
gangspunkte zurückführen muss. Und nun formuliert Santschi 
aus diesen Prämissen seine geistreiche Theorie wie folgt: 


32) Santschi, Comment s’orientent les fourmis. Revue Suisse de Zoo- 
logie 21, 1913. 


246 Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen ete. 


Die Fazettenaugen der Ameisen sind gewissermaßen 
Lichtkompasse, welche den Tieren mit Hilfe einer exak- 
ten sinnlichen Lokalısation der Lichtquelle und — bei 
der Rückkehr — vermittelst sinnlicher Reversion dieses 
lokalisierten Lichteindruckes auf diametral symme- 
trische Sinnesflächen eine geradlinige Richtungseinhal- 
tung und eine sichere Rückkehr zum Ausgangspunkte 
ermöglichen. Der Pıieron’sche Parallellauf aber ist nichts 
anderes als eine virtuelle Orientierung nach der Licht- 
quelle. 

Unter den zahlreichen experimentellen Tatsachen, durch welche 
Santschi die Richtigkeit seiner „Lichtkompasstheorie“ be- 
legt, will ich hier nur seine Spiegelexperimente®®), als die be- 
weiskräftigsten, hervorheben: 

Bei einzeln heimkehrenden Ameisen beschattete Santschı das 
Terrain durch einen großen Schirm und projizierte sodann das Bild 
der Sonne vermittelst eines großen Spiegels auf die andere Seite. 
Der Erfolg war jedesmal der, dass die Tiere sofort umkehrten und 
so lange in der entgegengesetzten Richtung (also jetzt gerade vom 
Neste weg) liefen, als Santschi die falsche Sonne einwirken ließ. 
Drehte Santschi den Spiegel so, dass die falsche Projektion der 
Sonne nur 90° betrug, so wichen die Ameisen dementsprechend 
auch nur in einem rechten Winkel aus ihrer Richtung ab. Der 
Spiegelversuch ergab Santschi selbst auf Ameisenstraßen und mir 
sogar auf Geruchsfährten (bei Zasius fuliginosus) noch positive 
Resultate, — ein Umstand, der beweist, dass die Lichtorientierung 
selbst hier noch der ausschlaggebende Indikator der relativen Rich- 
tung ist! 

Santschi ist übrigens nicht der erste, der die Orientierung nach 
dem Lichte bei Ameisen nachgewiesen hat; er hat sie aber physio- 
logisch näher begründet. Lubbock°*) (nachmals Lord Avebury) 
hatte nämlich schon vor mehr als 30 Jahren gezeigt, dass Ameisen 
augenblicklich auf ihrem Weg umkehren, wenn man die relative 
räumliche Lokalisation der Lichtquelle um 180° ändert, sei es 
durch Umstellung des Lichtes auf die andere Seite, sei es durch 
Drehung der Unterlage bei feststehendem Licht. Die Ameisen ant- 
worten dann sofort mit einer entsprechenden Gegendrehung im 
umgekehrten Sinne, welche ausbleibt, wenn man die Lichtquelle in 
geeigneter Weise verdeckt oder wenn die Lichtquelle die Drehung 
mitmacht. Hätte Bethe diesen letzteren Umstand beachtet, so 
hätte er nicht, ın gänzlicher Missverstehung der Experimente Lub- 
bock’s, aus der Erscheinung einen „Drehreflex“ gemacht. Gegen 


33) Revue Suisse de Zoologie 19, 1911. 
34) Ants, bees and wasps. — London 1881. 


Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen ete. 937 


29 


einen solchen spricht auch die Tatsache, dass blinde Ameisenarten 
auf Drehungen der Unterlage niemals mit einer Gegendrehung 
reagieren. 

Auf noch anderem Wege gelang es mir selbst, bei Ameisen 
die Tatsache der Orientierung nach der Sonne nachzuweisen 
und zugleich zu zeigen, wie exakt der eben geschilderte Mechanis- 
mus der sinnlichen Reversion des Lichteindrucks arbeitet. Es war 
mir aufgefallen, dass die Rückkurve der von mir vermittelst der 
Cornetz’schen Methode verfolgten Einzelwanderer von der 
Hinweglinie meist um einen kleinen Winkel nach rechts ab- 


wich. Ich ging nun so vor, dass mA 

= = > = RG Da L 

ich eine Ameise, die — fast gerad- no u Zu2 
linig der Sonne entgegen — über 7 


einen mit Sand bestreuten Spiel- 
platz wanderte, an einem Punkte x 
fixierte, indem ich eine kleine 
runde Schachtel über ihr ın den r 
Sand stülpte. Es war genau 3 Uhr 
nachmittags. Ich ließ die Ameise ‚30 
genau 2 Stunden gefangen. Als ich . 
um 5 Uhr das Schächtelchen weg- / 
nahm, saß die Ameise unbeweglich X 
im Zentrum des kleinen Kreises. Sie 
drehte sich langsam um und wan- o 
derte wiederum fast geradlinig über 5"pm 
den Sandplatz zurück, in der Rich- arm 
tung des Beetrandes, an dem sich fig. 88 Nachweis der Orien- 
ihr Nest befand. Doch wich ıhre tierung nach der Sonne durch 
Rückweglinie von der Hin- den „Fixierversuch“. (Nach 
kurve um 30° nach rechts ab, Brun, Raumorientierung der 
E Ameisen.) 

d.h. um genau so viele Bogen- 
grade, als dieSonne während der 2Stunden am Firmament 
nach links gewandert war (Fig. 8). Ich wiederholte den Ver- 
such, indem ich den Zeitraum der Fixierung variierte: Der Ab- 
weichungswinkel der Rückkurveentsprach in allen Fällen 
dem betreffenden Sonnenwinkel, mit einem Fehler von meist 
nur !/,—1 Bogengrad (nur in einem Falle betrug er 6 Bogengrade). 
— Dass die Ameisen die Zeit ihrer Gefangenschaft und die Tat- 
sache, dass die Sonne inzwischen am Firmament weiter wandert, 
nieht in Rechnung bringen, ist nicht verwunderlich; — es wäre im 
Gegenteil wunderbar, wenn sie diesen logischen Schluss machen 
würden! 

Ich denke, diese Beobachtungen dürften vollkommen genügen, 
um die Richtigkeit der Lichtkompasstheorie von Santschi darzu- 
tun. Bedarf es da noch positiver Beweise gegen die Cornetz’sche 


248 Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen ete. 


Lehre von der Existenz eines (erkenntnistheoretisch unmöglichen 
und physiologisch undenkbaren) absoluten Richtungssinnes? Ich 
bin indessen im Falle, auch solche positive Gegenbeweise anzu- 
führen, und zwar haben wir dieselben bereits kennen gelernt. Sie 
erinnern sich an jene Brückenfährte, auf welcher wir das Bethe’sche 
Polarisationsphänomen analysierten. Wir hatten damals die Mög- 
lichkeit der Lichtorientierung vermittelst der Methode der bipolaren 
Beleuchtung vollständig ausgeschaltet. Trotzdem waren die Ameisen 
zur Not noch imstande, die beiden Richtungen ihres Weges zu 
unterscheiden, da ihnen das „Wärmer- und Kälterwerden“ des Nest- 
geruchs noch immer eine gewisse Richtungsangabe vermittelte. Als 
‘wir ihnen aber, durch Verwandlung der Futterfährte ın eine Brut- 
fährte auch diese letzte Möglichkeit genommen hatten und nun 
Larven von der Mitte der Brücke abholen ließen, da zeigte es sich, 
dass die Ameisen vollständig dem Zufall ausgeliefert waren, ob sie 
in der Richtung des Nestes oder in der entgegengesetzten Richtung 
aus der Mitte abgingen, denn 50% gingen eben falsch. Dieses 
Falschgehen von 50% aller Ameisen nach Ausschaltung 
aller äußeren sinnlichen Orientierungszeichen beweist, 
dass etwas ähnliches wie ein absoluter innerer Rich- 
tungssinn nicht existiert. 

Andererseits versagt aber mein „Fixierversuch“* gerade 
bei den mit den besten Augen ausgestatteten und auch psychisch 
höherstehenden Arten der Gattung Formica meist vollständig, 
indem die Tiere nach der Fixierung ihre frühere Richtung ohne 
merkbare Abweichung wieder aufnehmen. Auch sonst deutet 
manches darauf hin, dass diese Ameisen sich auf ihren Einzel- 
gängen meist in viel freierer Weise orientieren als dies mit dem 
Lichtkompassmechanismus von Santschi vereinbar wäre. Es 
gelang mir hier auch verhältnismäßig selten, einen typischen 
Pieron’schen Parallellauf zu erzeugen, namentlich dann nicht, 
wenn der seitliche Transport nur einige Meter betrug, indem die 
Ameisen dann nicht selten die seitliche Abweichung durch ent- 
sprechendes Traversieren prompt ausglichen. Kurz, man hat den 
Eindruck, dass die Fernorientierung hier größtenteils durch diffe- 
renzierte visuelle Komplexe vermittelt wird, vielleicht durch 
-die mehr oder weniger verschwommene Wahrnehmung gewisser 
entfernter großer Objekte (Bäume, Häuser o. dgl.), mit deren Stand- 
ort die räumliche Lage des Nestes assoziiert wird. Zugunsten dieser 
Annahme sprechen auch die Resultate gewisser anderer Experi- 


mente, die ich — ursprünglich, um den Einfluss kinästhetischer 
Winkelregistrierungen zu studieren — bei Formica sangutnea VOr- 


nahm. Dieselben bestanden darin, dass ich eine Ameise vom Nest 
fortjagte und durch Lenken mit den Händen zwang, auf dem oben 
erwähnten freien Sandplatz einen in bestimmter Weise kurvierten 


Brun, Das Örientierungsproblem im allgemeinen etc. 349 


Weg zurückzulegen, den ich vorher in den Sand gezeichnet hatte. 
Zu meiner Überraschung kehrten die Ameisen nach Absolvierung 
eines solchen „Zwangslaufes“ stets ohne weiteres und auf der 
direktesten Linie zum Neste zurück, obwohl der Endpunkt, wo 
ich sie freigab, oft recht weit, 20—34 m, vom Nest entfernt war. 
Und zwar erfolgte die Rückkehr nach rechtwinkligem (zwei- 
achsigem) Zwangslauf merkwürdigerweise nicht mittelst sukzes- 
siver Reversion der beiden Schenkel des Weges, sondern gegen die 
Cornetz’sche Regel, in der Diagonale, also durch direkte 
Schließung des Polygons (Fig. 9). Nun ließ ich die Ameisen 
große Kreisbögen oder in anderen Fällen sehr komplizierte viel- 
winklige Kurven mit zahlreichen Gegenrichtungen beschreiben; die 
Rückkehr geschah in den ersten Fällen prompt in der Sekante, in 
den zweiten Fällen in 
der ungefähren Resul- 
tante der Hinkurve, also 
wiederum ziemlich di- 
rekt in der Richtung des 
Nestes. Wurden die Ameı- 
sen vor Ausführung des 
Zwangslaufes, direkt vom 
Nest auf den Endpunkt 
der Kurve transportiert, 
so zeigten sie sich voll- x 
ständig desorientiert; — Fig.9. Das „Zwangslaufexperiment“. Zwei- 
ein Beweis, dass das allge Ze ms Nr (gestrichelte Linie). 
eireffönde Bichtimes Rückkehr in der Diagonale (ausgezogene Linie). 

: oO (Nach Brun, Die Raumorientierung der 
engramm tatsächlich wäh- Ameisen.) 


rend des Zwangslaufes 
erworben wurde. Nun blendete ich mehreren Ameisen die Fazetten- 
augen nach Forel’s Methode und ließ sie dann einen einfachen zwei- 
achsigen Zwangslauf ausführen: Sie waren absolut unfähig zur Heim- 
kehr, nur ein einziges Tier machte einen mühsamen Versuch, den 
zweiten Schenkel der Reise zu revertieren. Folglich kann der 
Diagonallauf nicht etwa auf komplizierter Assoziation kinetischer 
Winkelengramme beruhen! Und endlich ließ ich eine Ameise einen 
zweiachsigen Zwangslauf auf sehr große Distanz ausführen, einen 
Weg, dessen zweiter Schenkel weit über jenen freien Sandplatz 
hinausführte. Der Erfolg war der, dass das Tier bei der Rückkehr 
zunächst nicht die Diagonale einschlug, sondern den zweiten Schenkel 
des Weges revertierte und erst nach Wiederankunft auf dem 
freien Platz plötzlich in der Richtung des Nestes korrigierte. 
Und nun zur Frage: Ist bei Ameisen auch ein echtes, aus 
sukzessiv assoziierten Engrammen aufgebautes individuelles Orts- 
gedächtnis, wie es bekanntlich bei Bienen in einwandfreier Weise 





250 Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen ete. 


festgestellt werden konnte, nachweisbar? Unsere bisherigen Beob- 
achtungen scheinen nicht dafür zu sprechen, sie zeigen höchstens, 
dass einige psychisch hochstehende Arten imstande sind, im Laufe 
einer aktuellen Reise gewisse visuelle Richtungszeichen zu engra- 
phieren, mit welchen sie die Lage des Nestes simultan assozileren; 
doch schienen sie nicht mehr fähig, im weiteren an diesen Rich- 
tungskomplex nun auch die Örtlichkeit, welche den Endpunkt ihrer 
Reise bildete, zu assoziieren und somit einen sukzessiv asso- 
zuerten Engrammkomplex a—b—-ec zu fixieren, — ein Vorgang, 
welcher allein den Namen eines echten Ortsgedächtnisses verdient. 
Auch Cornetz hat die Existeuz eines solchen ohne weiteres ver- 
neint, gestützt auf seine Erfahrung, dass Ameisen nach Transport 
vom Nest weg sich in allen Fällen vollständig desorientiert zeigen. 
Demgegenüber verfüge ich aber über eine ganze Reihe 
von Beobachtungen bei Formica, in welchen diese Ameisen 
sich nach dem besagten primären Transport auf 30 m Ent- 
fernung fast augenblicklich auf dem kürzesten Wege 
nach dem Nest reorientierten. Allerdings hatte ich meine 
Ameisen nicht wahllos an irgendeinen beliebigen Ort x versetzt, 
sondern auf eine Örtlichkeit, die von der betreffenden 
Kolonie früher einmal nachweislich sehr häufig besucht 
worden war, und von der somit noch am ehesten zu er- 
warten war, dass zahlreiche Individuen individuelle 
Engramme von derselben besaßen. Natürlich führte ich aber 
die Experimente jeweilen erst dann aus, nachdem dieser Verkehr 
seit Wochen gänzlich eingestellt war und wandte auch dann 
noch alle Kautelen an, um die Möglichkeit, dass die Tiere vielleicht 
doch eine noch vorhandene Geruchsspur verfolgten, mit Sicherheit 
ausschließen zu können. 

Es ıst somit diesen Tieren ein individuelles, auf suk- 
zessiv assoziierten Richtungsengrammen aufgebautes 
echtes Ortsgedächtnis unbedingt — wenn auch in be- 
scheidenem Umfange — zuzuschreiben. Wie wir uns diesen 
Mechanismus im einzelnen vorzustellen haben, darüber kann ich 
mich vorläufig nur vermutend äußern. Wahrscheinlich wird der 
Engrammkomplex der betreffenden entfernten Örtlichkeit zunächst 
auf topochemischem Wege ekphoriert; hierauf stellen sich die 
weiteren, vermutlich in erster Linie visuellen, Richtungsengramme 
ein, welche diese Örtlichkeit mit einer zweiten intermediären oder 
mit dem Neste assoziativ verknüpfen. Die diesen Engrammen ent- 
sprechenden (homophonen) Komplexe in der Außenwelt (bestimmte 
Baumgruppen, das verschwommen perzipierte Bild einer weißen 
Hauswand u. s. w.) werden aufgesucht und nun wird dieser, aus 
drei, event. noch mehr Gliedern bestehende Richtungsengramm- 
komplex sukzessive wieder abgewickelt. — 


- 


Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen ete., 251 


Haben wir jetzt alle ÖOrientierungsmittel, über welche die 
Ameisen möglicherweise verfügen, erschöpft? Keineswegs! Noch 
haben wir eine wichtige Gruppe — die kinästhetischen Rich- 
tungszeichen — kaum erst erwähnt. Allerdings ist die Frage 
der kinästhetischen Orientierung bei Ameisen noch sehr mangelhaft 
studiert und auch die wenigen bisher vorliegenden Angaben der 
Autoren sind m. E. nicht einwandfrei. Man hat sich lange darüber 
gestritten, ob Insekten imstande seien, die Schwerkraft zu 
empfinden und man glaubte im allgemeinen diese Frage verneinen 
zu müssen im Hinblick auf das ungemein geringe Körpergewicht 
der Insekten, das bei der relativ ungeheuren Muskelkraft, welche 
diese Tiere bekanntlich entwickeln, gar nicht in Betracht komme. 
Demgegenüber gelang es mir, den Nachweis zu erbringen, dass 
Ameisen nicht allein fähig sind, schon mäßige Terrain- 
steigungen auf rein kinästhetischem Wege wahrzu- 
nehmen, sondern dass sie zur Not — d.h. bei Ausschluss 
aller übrigen Richtungszeichen — auch imstande sind, 
sich auf Grund dieses einzigen dürftigen kinästhetischen 
Engramms allein noch einigermaßen zu orientieren. 

Meine Versuchsanordnung war folgende: Ich befestigte am 
Rande meines großen Experimentiertisches ein künstliches Nest 
mit einer kleinen Kolonie von F. rufa. Die Ausgangsröhre des 
Nestes mündete auf die Tischplatte. Dieser Tisch ist so konstruiert, 
dass seine Platte in allen Ebenen des Raumes drehbar ist und 
zwar sind alle Bewegungsachsen genau zentriert. Bei diesen Experi- 
menten nun war die Tischplatte in der Ausgangsstellung um 
20° nach der Nestseite geneigt, derart, dass der Nesteingang die 
tiefste Stelle bildete. Die Tiere mussten von hier zum Honig, der 
sich genau im Zentrum des Tisches in einem runden Näpfchen 
befand, ansteigen. Durch bipolare Beleuchtung, die in der Trans- 
versalebene des Tisches zu beiden Seiten desselben angebracht war, 
wurde für Ausschaltung der Lichtorientierung gesorgt und das ganze 
System befand sich im Zentrum eines Dunkelzeltes. Ich wartete 
nun jeweilen, bis eine Ameise am Honig saß und kehrte dann 
die Neigung des Tisches geräuschlos in die entgegen- 
gesetzte um, so dass sich das Nest jetzt oben befand. Die Tiere 
wollten, nachdem sie genug gefressen hatten, natürlich nach Hause; 
aber da war guter Rat teuer! Die Ameisen schwankten zunächst 
eine geraume Zeit unentschlossen zwischen beiden Richtungen hin 
und her, indem sie nach jeder Seite nur einige Zentimeter zurück- 
legten und immer wieder zum Honig zurückkehrten. (Man beachte 
hier die Differenz mit den Lasius unserer Brückenspur, die gewöhn- 
lich ohne weiteres aufs Geratewohl in einer Richtung davonrannten; 
— die Formica dagegen schienen sich offenbar eines Dilemmas 
bewusst zu sein.) Endlich entschlossen sie sich aber doch für eine 


359 Emery, Können weisellose Ameisenvölker die fehlende Mutter ete. 


Richtung, und zwar gingen alle ohne Ausnahme abwärts, ziem- 
lich genau nach dem tiefsten Punkt, wo sie lange Zeit 
eng begrenzte Kurven beschrieben, ganz als ob sie den 
verschwundenen Nesteingang suchten! Sie hatten somit in 
der Tat eine virtuelle Orientierung nach der Schwerkraft 
ausgeführt! 

Damit will ich meine Ausführungen schließen. Die Aufgabe, 
das verwickelte Thema im knappen Rahmen einer Stunde vorzu- 
führen, gestattete mir nicht, auf zahlreiche interessante Einzelfragen 
näher einzugehen. Ich denke aber, Sie werden nach allem, was 
Sie eben gehört haben, doch die Überzeugung gewonnen haben, 
dass die Fernorientierung der Ameisen ein ungemein 
komplizierter psychophysiologischer Vorgang ist, bei 
welchem je nach den vorwaltenden Umständen und je 
nach der Organısation der betreffenden Art, Erfahrungen 
der verschiedensten Sinnesgebiete: topochemische, topo- 
graphische, visuelle, kınästhetische Eindrücke bald für 
sich allein, häufiger aber kombiniert zur individuellen 
Engraphie und Ekphorie gelangen. Wir haben es in der 
Hand, in jedem Einzelfalle die Art der Mitbeteiligung jedes einzelnen 
dieser Faktoren durch geeignete Versuchsanordnungen festzustellen 
und so allmählich zu einer befriedigenden Analyse des ganzen kom- 
plexen Mechanismus fortzuschreiten. 

Dank der Anwendung solcher ım streng physiologischen Sinne 
exakter Versuchsanordnungen in Verbindung mit der neutralen 
Terminologie von Semon sind wir nunmehr auch ein- für allemal 
der Versuchung enthoben, unsüber vergleichend-psychologische Fragen 
in unfruchtbaren Spekulationen zu verlieren; die vergleichende 
Psychologie ist zur exakten Wissenschaft geworden, zur 
vergleichenden Physiologie der individuellen Mneme. 


Können weisellose Ameisenvölker die fehlende Mutter 
aus eigenen Mitteln ersetzen? 
Von €. Emery (Bologna). 

Anfang November 1910 erhielt ich aus Porticı eine Anzahl 
Arbeiterinnen und viele kleine Larven von Messor barbarus minor 
Er. Andr& aus einem Nest; kein Weibchen war vorhanden. 
Ich setzte die Ameisen in ein Janet-Nest und hielt es, während des 
Winters, in meinem geheizten Studierzimmer. Die Larven ent- 
wickelten sich sehr langsam; die erste Puppe sah ich am 6. Juni 
1911, die ersten Arbeiterinnen erst Mitte Juli. Eine Larve wurde 
gewaltig groß; daraus entwickelte sich am 11. August ein geflügeltes 
Weibchen. 

Am 3. März hatte ich einen Klumpen von ungefähr 30 Eiern 
bemerkt, die jedenfalls von den Arbeiterinnen gelegt waren; andere 


Emery, Können weisellose Ameisenvölker die fehlende Mutter ete. 353 


Eier kamen dann und wann hinzu. Die Eier der Arbeiterinnen 
entwickelten sich und die Larven, dıe daraus ausschlüpften, wuchsen 
verhältnismäßig rasch. Einmal groß geworden, wurden sie aber 
sehr verschieden von den gewöhnlichen Larven, d. h. von den Ar- 
beiterinnen- und Weıibchen-Larven. Sie schwollen an, wurden sozu- 
sagen hydropisch; ‚die meisten wurden von den Arbeiterinnen auf- 
gefressen oder an andere Larven verfüttert; eine einzige gelangte 
endlich zum Puppenstadium und lieferte Ende September ein Männ- 
chen, leider mit geschrumpften Flügeln. Im Oktober sah ich 
mehrere hydropische Larven, welche sich zu Männchen-Puppen 
umwandelten, aber gefressen oder verfüttert wurden; keine wurde 
zur lmago!'). 

Ich weıß nicht, ob das Weibchen, das anscheinend normal ent- 
wickelt war (es hatte nur ein verkrüppeltes Bein) und unterdessen 
seine Flügel zum Teil verloren hatte, mit dem Männchen kopuliert 
hatte. Ich glaube nicht, dass das Weibchen bis zu seinem Tod 
Eier gelegt hat; es lebte bis zum 25. Juni 1912. 

Diese Beobachtung ist deswegen interessant, weil sie vermuten 
lässt, dass gewisse Ameisen, falls ihre Königin durch irgendwelchen 
Zufall stirbt und sie junge Larven haben, nicht nur ein junges 
Weibchen erziehen, sondern fast gleichzeitig aus den parthenogene- 
tischen Eiern der Arbeiterinnen Männchen bekommen können. 
Letztere mögen mit den Weibehen ım Nest kopulieren und die- 
selben befruchten. So würde eine echte befruchtete Königin zu- 
stande gebracht werden. 


Wasmann berichtet?), dass P. E. Deckelmeyer beim Um- 
wälzen eines Steines bei Barro in Portugal einen merkwürdigen 
Fund machte. Ein starkes Nest von Pheidole pallidula enthielt, 
außer Arbeiterinnen und Soldaten, einige Männchen-Puppen und 
5 sonderbare Individuen (2 ausgefärbte, 2 unausgefärbte und eine 
ganz weiße Puppe), die Wasmann als ergatoide Weibchen deutet; 
sie waren durch das Vorhandensein einer Stirnocelle, sowie eines 
langen Hinterleibes ausgezeichnet. Kein geflügeltes Weibchen und 
keine Königin war vorhanden. 

Wasmann nimmt an, die Männchen und die ergatoiden Weib- 
chen seien Schmarotzerameisen einer arbeiterinnenlosen Art (Phei- 
dole symbiotica Wasm.), die im Nest von Ph. pallidula haust. Er 
ist in seiner Annahme bestärkt durch kleine Unterschiede in den 
Fühlern der Männchen-Puppen von Ph. symbiotica gegen Ph. palli- 
dula. Die .Fühler sind nämlich schlanker, das erste Geißelglied 
weniger verdickt und das Endglied ist länger (doppelt so lang wie 
das vorletzte). 

l) Vergl. Rend. Accad. Se. Bologna, Anno 1911—12, p. 108. 

2) Diese Zeitschrift, Bd. 29, p. 693; Bd. 30, p. 515 (1909—1910). 


254 Nöller, Die Übertragungsweise der Rattentrypanosomen. 


Die Fühler des Männchens von Pk. pallidula sind aber ın 
ihrem Bau ziemlich veränderlich; ich finde nämlich Charaktere, 
wie die, welche von Wasmann bei Ph. symbiotica beschrieben 
wurden, bei einem Männchen von var. Zristis For. aus Tunesien 
und bei Männchen aus Portugal, die mit normal geflügelten Weib- 
chen gefangen wurden. 

Der Bau der Männchen beweist also nichts für die Anschauung 
Wasmann’s, aber er beweist auch nichts dagegen. 

Das von Wasmann abgebildete ergatoide Weibchen bietet eine 
auffallende Ähnlichkeit mit den Individuen von Ph. absurda For. aus 
Costa Rica, die ich damals ebenfalls als ergatoide Weibchen beschrieben 
und abgebildet habe und die sich nachträglich als mit Mermis infi- 
zierte Weibchen (oder Soldaten) entpuppt haben. Diesen Verdacht 
teilte ich Herrn Wasmann mit. Er hatte die Güte, eines seiner 
Exenplare ın Zedernöl zu legen und dadurch durchsichtig zu machen, 
um, falls der vermutete Wurm vorhanden wäre, ıhn unter dem 
Mikroskop zu erkennen. Das Resultat war vollständig negativ; die 
ergatoiden Weibchen von Ph. symbiotica enthielten keinen Mermis. 

Wasmann’s Ansicht, dass die ergatoiden Weibchen und die 
Männchen, die sich in demselben Nest vorfanden, einer besonderen 
parasitischen arbeiterinnenlosen Ameise angehören, ıst ganz gut 
annehmbar, aber sie ıst durchaus nicht bewiesen. 

Ich möchte eine andere Erklärung resp. Hypothese äußern. 
Ph. pallidula hat ın jedem Nest, wie ich beobachtet habe, stets nur 
eine Königin; wenn sıe stirbt und nicht ersetzt wird, ıst das Volk 
weisellos. Ich vermute, dass das Nest von Barro im Winter 
oder im Beginn des Frühlings weisellos wurde. Die 
ergatoiden Weibchen würden aus dem Rest von Larven 
der toten Königin stammer, welche nicht jung genug 
waren um zu normalen, geflügelten Weibchen gezüchtet 
zu werden. Die Larven der Männchen dagegen würden 
sich aus parthenogenetischen Eiern der Soldaten ent- 
wickelt haben. ' 

Die hypothetische Erklärung, die ich vorschlage, ist ungefähr 
dieselbe, die in meinem künstlichen Nest sıch als Tatsache ereignete, 
aber mit einem Unterschied: dass ım Fall von Messor das Weib- 
chen normal geflügelt ist, im Fall von Ph. symbiotiea die Weibchen 
ergatoid sind. Ich habe versucht, durch meine Vermutung den 
Grund des Unterschiedes klarzulegen. 


Wilhelm Nöller: Die Übertragungsweise der 
Rattentrypanosomen. 
Jena 1914, Gustav Fischer, gr. 8, 33 S., S Textfig. u. 2 Tafeln. 
Als Broschüre sind hier zwei Abhandlungen vereinigt, die 1912 
und 1914 im Archiv für Protistenkunde veröffentlicht worden sind. 
Besonders wichtig ist zunächst die Technik des Verfassers: er be- 


Nöller, Die Übertragungsweise der Rattentrypanosomen. 355 


schreibt genau, wie es ıhm gelang, in Nachahmung des Verfahrens 
der Flohzirkusleute, Flöhe, und zwar vorzugsweise Hundeflöhe, in 
ein Drahtgestell zu fesseln, in diesem regelmäßig an Versuchstieren 
zu füttern und sie so einzeln wochenlang in Gefangenschaft zu 
halten. Auch über die Präparation der Flöhe zur mikroskopischen 
Untersuchung und über die zweckmäßige Fesselung von Ratten für 
solche Versuche finden sich genaue Angaben. 

Diese technischen Fortschritte haben es ermöglicht, sichere Er- 
gebnisse zu gewinnen über die Bedeutung der Flöhe für die Über- 
tragung von Trypanosomen; sie werden sich auch auf andere, meist 
oder zuweilen durch Flöhe übertragene Infektionskrankheiten an- 
wenden lassen. Ein Seitenzweig der Forschungen N.s betrifft die 
Flagellaten als Darmparasiten der Flöhe: mehr oder weniger aus- 
führliche Angaben über Leptomonas Aenocephali Fantham, eine 
noch unbenannte Leptomonas aus Ceratophyllus gallinae und colum- 
bae, Legerella parva N., Nosema pulicis N., Malpighiella refringens 
Minchin sind in der Arbeit enthalten. 

Die Hauptergebnisse sind, dass Trypanosoma Lewisi zunächst ım 
Flohmagen eine intrazelluläre Entwickelung und Vermehrung durch- 
macht, wie schon Minchin und Thomson beobachtet hatten, dann 
aber die jungen Flagellaten sich im Enddarme frei an dem Epithel fest- 
heften und sich hier (nicht bei allen infizierten Flöhen) derart vermehren, 
dass sie ein Hindernis für den Kot darstellen und nach mehreren Tagen, 
während oder nach einem neuen Saugakt, in großen Mengen mit 
dem Kot entleert werden. Die Ratten erwerben die Infektion durch 
das Ablecken der trypanosomenhaltigen Flohfäces. Wahrscheinlich 
kann auch Verspritzen der Fäces auf Schleimhäute (wie die Augen- 
bindehaut) oder Einreiben derselben in die Stichwunde die Infektion 
übertragen. Ein direktes Einimpfen durch den Flohstich, infolge 
einer Überwanderung der Trypanosomen durch das Cölom der 
Flöhe in Speicheldrüsen oder infolge Regurgitierens von Magen- 
inhalt kommt nicht vor oder nur ganz ausnahmsweise. Diese Ver- 
mehrung der Trypanosomen im Floh scheint aber ın der Regel nur 
beim Saugen auf einer ziemlich frisch infizierten Ratte einzutreten. 
Flöhe, die an vor längerer Zeit infizierten, chronisch kranken 
Ratten saugen, werden nicht infektiös. 

Das Ergebnis, dass die Flöhe nach Ablauf einer nichtinfektiösen 
Periode leicht durch ihre Fäces infizieren, erscheint dem Verfasser 
für die phylogenetische Ableitung der Blutflagellaten interessant. 
Er sıeht darin den einfachsten Weg, auf dem Insektenflagellaten 
zu Blutparasiten der Wirbeltiere werden konnten. Mit den Floh- 
fäces ausgestoßene Trypanosomen seien auf den Schleimhäuten des 
Säugetierwirts in günstige Lebensbedingungen geraten und seien 
dann in die Blutbahn eingedrungen, von der aus sie wiederum den 
blutsaugenden Insektenwirt infizieren konnten. 

Die Versuche v. Prowazek’s über die Übertragung des Tryp. 
Lewisi durch die Rattenlaus, Hämatopinus spinulosus Burm., kann 
Verfasser, wie schon andere Forscher, ım ganzen bestätigen. Er 
glaubt aber doch „die Entwickelungsformen“ in der Laus nicht als 
solche im spezifischen Hauptwirt, sondern als Degenerations- oder 


256 Lindau. Kryptogamenflora für Anfänger. 


Kulturformen deuten zu sollen. Sein Hauptargument ist, dass die 
infizierten Läuse nur kurze Zeit, allerhöchstens 20 Tage infektions- 
tüchtig bleiben und sich m ihnen eine Steigerung der Infektions- 
tüchtigkeit der Trypanosomen durchaus nicht zeige, die dagegen im 
Kote der infizierten Flöhe sehr deutlich sei. Auch bei den infi- 
Ben Läusen finden sich die Trypanosomen im Kot; den von 

„. Prowazek beobachteten Übertritt in die Leibeshöhle der Läuse 
ee N. immer auf Verletzungen (beim Fangen der Läuse) zurück- 
führen zu müssen. 

Seiner Arbeit schließt N. eine versuchsweise Einteilung der 
Trypanosomen nach ihrer Übertragungsweise an; dieser Versuch 
soll hauptsächlich zu einer genaueren Beachtung der letzteren bei- 
tragen, denn selbstverständlich will der Verfasser Morphologie und 
Tierpathogenität i in ihrer systematischen Bedeutung nicht erschüttern. 
Die Frage, ob ein Trypanosoma in zwei Blutsaugern, die ganz ver- 
schiedenen Tiergruppen angehören, beidemal eine echte Entwicke- 
lung durchmachen könne, sieht er für noch nicht entschieden an. 
Ein ausführliches Literaturverzeichnis bis Ende 1913 schließt die 
Abhandlung. W.R. 


G. Lindau, Kryptogamenflora für Anfänger. 
Bd. IV,2. Die Algen. 8, 200 S. mit 437 Fig. Berlin 1914, J. Springer. 

Der vorliegende Band der Kryptogamenflora enthält einige 
besonders schwierige Familien, z. B. die Desmidiaceen und Oedo- 
goniaceen, in denen es für den Anfänger schwer ist, sich zurecht- 
zufinden. Um so notwendiger ist eine Anordnüng der Bestimmungs- 
tabellen, die praktische Zwecke verfolgt, ohne die wissenschaftliche 
Grundlage vermissen zu lassen. Das dürfte gut gelungen sein. 
Nur erscheint es dem Ref. zweifelhaft, ob es gut ist, die heute 
als Mesotaeniaceen zusammengefassten Gattungen, die eine recht 
natürliche Gruppe bilden, wieder unter die Desmidiaceen einzuordnen 
und die Gattungeu Penium und Closterium zwischen sie einzuschieben, 

Wer physiologisch und ökologisch zu denken gewöhnt ist, 
kann das Bändchen nicht durchbl: ättern ohne den Wunsch zu hegen, 
dass recht viele dieser hier aufgeführten, z. T. recht sonderbaren, 
fast wie durch eine Laune der Natur geschaffenen Formen hinsicht- 
lich ihrer Bedürfnisse und Standortsverhältnisse auf Grund von 
Beobachtungen und Züchtungsversuchen erforscht werden möchten. 
Es sind das Aufgaben, zu denen gar keine großen Mittel gehören, 
die größtenteils selbst ohne eigentliches Laboratorium in Angrift 
genommen werden können. Einige Glasgefäße und Salze sowie ein 
Destillierapparat zur Herstellung reinen Wassers genügen neben 
dem natürlich unentbehrlichen Mikroskop. Und welche Fülle von 
Anregungen und Ergebnissen, die erst in ihrer Gesamtheit volle 
Früchte tragen werden, erwarten den, der die nötige Geduld hat. 

Möge die Lindau’sche Flora in diesem Sinne anregend wirken! 

E. G. Pringsheim. 


Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Antonstraße 15. — Druck der kgl. bayer. 
Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen. 


Biologisches Gentralblatt. 


Begründet von J. Rosenthal. 


In Vertretung geleitet durch 


Prof. Dr. Werner Rosenthal 


Priv.-Doz. für Bakteriologie und Immunitätslehre in Göttingen. 


Herausgegeben von 


DESK, Goebel und... ‚Dr.’R& Hertwie 

Professor der Botanik Professor der Zoologie 
in München. 

Verlag von Georg Thieme in Leipzig. 





Der Abonnementspreis für 12 Hefte beträgt 20 Mark jährlich. 
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. 


Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an 

Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Menzingerstr. 15, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, 

vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München, 

alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Werner Rosenthal, z.Z. Erlangen, Auf dem 
Berg 14, einsenden zu wollen. 


Bd. XXXV. 20. Juli 1915. 


E7TT 











Inhalt: Heikertinger, Die Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln gegen Tierfraß und 


ihre Lösung. — Toenniessen, Uber Vererbung und Variabilität bei Bakterien. — War- 
ming's Lehrbuch der ökologischen Pflanzengeographie. — v. Buttel-Reepen, Leben und 
Wesen der Bienen. — Hinneberg, Die Kultur der Gegenwart, ihre Entwicklung und ihre 


Ziele, III. 4. I. Allgemeine Biologie. 








Die Frage von den natürlichen Pfianzenschutzmitteln 
gegen Tierfrals und ihre Lösung. 

Erörtert in kritischer Besprechung von W. Liebmann’s Arbeit 
„Die Schutzeinrichtungen der Samen und Früchte gegen unbefugten 
Tierfraß“. 

Von Franz Heikertinger in Wien. 

Die nachfolgende Abhandlung bildet die Ergänzung einer 
anderen, die im Vorjahre unter dem Titel „Über die beschränkte 
Wirksamkeit der natürlichen Schutzmittel der Pflanzen 
gegen Tierfraß“ ın dieser Zeitschrift erschien. Wie dort 
E. Stahl’s Studie „Pflanzen und Schnecken“, so bildet hier die ım 
Untertitel genannte Arbeit Liebmann’s!) Ausgangspunkt und Grund- 
lage der Darlegungen. 





1) Jenaische Zeitschr. f. Naturwissensch., Bd. 46, S. 445—510, Jahrg. 1910, 
und Bd. 50, 8. 775—838, Jahrg. 1913. — Liebmann hat seine Untersuchungs- 
ergebnisse überdies in populärer Form in einer selbständigen Broschüre „Die Be- 
ziehungen der Früchte und Samen zur Tierwelt“ (Leipzig 1914, Verl. 
Quelle & Meyer) veröffentlicht. Da dieselbe im wesentlichen nur ein Auszug aus 
seiner erstgenannten Publikation ist, habe ich sie im folgenden nicht besonders be- 
rücksichtigt. 

XXXV. 17 


258 Heikertinger, Die Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln ete. 


Was meine seinerzeit?) zum Ausdrucke gebrachte Auffassung 
der Dinge anbelangt, so finde ich auch im gegenwärtigen Falle 


nicht nur keinen Anlaß, von meinem — übrigens völlig theorien- 
losen — Standpunkte abzugehen, sondern glaube im Gegenteile 


mit Vorliegendem einen neuen Beweis für die Richtigkeit desselben 
erbracht zu haben. Das Urteil hierüber will ich allerdings dem 
Leser überlassen, den ich um nichts als um Vorurteilslosigkeit bitte. 
Er möge sich von manchem, das er früher gelesen oder vielleicht 
sogar geschrieben hat, frei und unabhängig machen. 

Einigen Einwänden, die meinen früheren Artikeln gegenüber 
gemacht wurden, bin ich hier erläuternd begegnet und glaube alles 
in allem die Lösung der so hoffnungslos scheinenden Frage wenn 
nicht gegeben, so doch angebahnt zu haben. 

Was die Arbeit Liebmann’s selbst anbelangt, so fühle ich 
mich verpflichtet, ausdrücklich zu erwähnen, dass dieselbe, sofern 
positive, experimentell gewonnene Feststellungen in Betracht kommen, 
außerordentlich hochwertig ist. Seine Untersuchungen über den 
Geschmackssinn der Vögel sind von weittragender Bedeutung und 
ich werde mir gestatten, mich bei anderer Gelegenheit auf sie zu 
berufen. Dass Liebmann zu (meines Erachtens) falschen Schluss- 
folgerungen gelangte, war lediglich die Folge falscher Voraus- 
setzungen, war das Dogma von dem unbedingten Vorhandensein 
natürlicher Pflanzenschutzmittel, von dem er ausging. 

Nochmals stelle ich fest: Hier wie in meinen eingangs genannten 
Abhandlungen handelt es sich mir nicht um Verfechtung einer vor- 
gefassten Meinung, einer Theorie, sondern lediglich um ein ein- 
faches, unbefangenes Ergründen der wahren Zusammenhänge der 
Dinge. Und was an scharfen Worten fallen sollte, gilt keiner 
Person, sondern nur einer Sache, die ich als Irrtum mit voller 
Kraft bekämpfen zu müssen glaube. 


I. Die Grundlagen der Schutz- und Anloekungsmitteltheorie. 


Der Standpunkt, auf dem Liebmann von vornherein steht, 
ist derjenige der typischen Schutzmitteltheorie. 

Ich zitiere aus der Einleitung zu seiner Abhandlung: 

(S. 445.) „... Es ıst jedoch bekannt, dass sämtlichen Pflanzen, 
auch scheinbar ganz wehrlosen, irgendwelche Einrichtungen zu Ge- 
bote stehen, mittels deren sie die wichtigsten tierischen Feinde 
abhalten können; eine Pflanze ohne jedes Schutzmittel wäre ganz 


2) „Über die beschränkte Wirksamkeit der natürlichen Schutz- 
mittel der Pflanzen gegen Tierfraß. Kine Kritik von Stahl’s biologischer 
Studie ‚Pflanzen und Schnecken‘ im besonderen und ein zoologischer Ausblick auf 
die Frage im allgemeinen.“ Biol. Centralbl. XXXIV, S. 8S1—-108; 1914. — „Gibt 
es natürliche Schutzmittel der Rinden unserer Holzgewächse gegen 
Tierfraß? Ein Beitrag zur Frage des ‚Kampfes ums Dasein‘ zwischen Pflanze 
und Tier.“ Naturwiss. Zeitschr. f. Forst- und Landwirtsch. XII, S. 97”—113, 1914. 


Heikertinger, Die Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln ete. 959 


undenkbar, weil sie sofort ihres guten Geschmackes und ihrer 
leichten Erreichbarkeit halber von den Tieren ausgerottet werden 
würde. Keine von diesen Einrichtungen ist so vollkommen, dass 
sie alle Feinde abschrecken könnte; meist geht der Schutz nur so 
weit, dass die Erhaltung des Individuums gerade gesichert ist.“ 

Nach dieser Schutzmitteltheorie sind die „Schutzmittel“ also 
das arterhaltende Prinzip im Daseinskampfe der Pflanze gegen das 
Tier. Welcher Art diese Schutzmittel sind, ıst bekannt genug. 
Wir haben chemische in Gestalt von abwehrendem Geruch oder 
Geschmack oder von Giften, wir haben mechanische in Gestalt von 
harter Oberhaut, von Haaren, Stacheln, Dornen u. s. f. — Es ist ja 
ın den letzten Jahrzehnten genug darüber geschrieben worden. 

Im Falle der Schutzmittel der Früchte, die den Gegenstand 
der folgenden Abhandlung bilden sollen, kompliziert sich die Frage 
jedoch ein wenig. Neben hartschaligen, schutzfarbenen, trockenen 
Früchten, die in jeder Hinsicht kampfbereit der Tierwelt gegen- 
überzustehen scheinen, finden sich auch weiche, angenehm riechende 
und schmeckende Früchte von auffälliger Färbung. Wie bestehen 
diese im Kampfe? 

Die Frage ist scheinbar leicht zu lösen. Diese schönen, wohl- 
riechenden und wohlschmeckenden Früchte haben im Innern relativ 
kleine, harte Samen. Die Tiere nun, die diese weichen Früchte 
fressen, kümmern sich um die Samen nicht; diese letzteren werden 
entweder zurückgelassen oder mitgefressen und gehen im letzteren 
Falle meist unverdaut und ohne Beeinträchtigung ihrer Keimfähig- 
keit durch das Tier. Die fleischige Frucht bedarf also keiner Schutz- 
mittel, da ihr Untergang nicht zugleich auch die Samen trifft und 
mithin die Existenz der Pflanzenart nicht gefährdet. Der nächste 
Schritt auf dem Wege dieser Überlegungen war die Erkenntnis, 
dass die Pflanzen durch das Besen derartiger Früchte 
sogar Nutzen davontragen, indem sie durch die Tiere weiter ver- 
breitet werden — und weiters der nächste Schritt war die An- 
nahme, dass die Pflanzen überhaupt nur darum fleischige, grell- 
farbige, wohlschmeckende Früchte ausgebildet haben, um sich diesen 
Verbreitungsvorteil durch Tiere zu sichern. In mehr oder minder 
teleologischer Fassung finden wir diese Annahme, von manchem 
Autor zur Gewissheit gestempelt, allenthalben wieder. Streng 
selektionistisch, also kausal-mechanistisch, den Weg des Werdens 
solcher Eigenschaften zu verfolgen, daran denkt kaum jemand. 
Nicht einmal die zur Klarheit des Ganzen so unbedingt notwendige 
reine, selektionistische Stilisierung findet stets Anwendung. Die 
Stilisierung treibt vielfach die üppigsten Blüten teleologischer, also 
die wirklichen Verhältnisse völlig verschleiernder Redewendungen. 

Um nur ein Beispiel gleich aus der hier besprochenen Arbeit 
zu geben: 

me: 


260 Heikertinger, Die Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln ete. 


(S. 447.) „... Jedoch auch für pflanzliche Gebilde ist es unter 
Umständen vorteilhaft, an einen anderen Ort zu gelangen, wenn 
es sich nämlich um die Verbreitung der Samen und Früchte handelt. 
Manche Pflanzen haben sıch nun die größere Beweglichkeit ihrer 
tierischen Feinde, ın unserem Falle also der Vögel und Säugetiere, 
zu nutze gemacht um diesen Zweck zu erreichen.. .?).* 

„Sich etwas zu nutze machen“ „um einen Zweck zu erreichen“, 
einen Zweck, der wie hier noch dazu den Interessen des Individuums 
an sich völlig fern und ın weiter Zukunft liegt, das wären Bewusst- 
seinshandlungen so komplizierter Natur, dass selbst der weitestgehende 
Pflanzenseelenverteidiger sie für einen beerentragenden Strauch 
nicht in Anspruch nehmen wird. Ich weiß wohl, dass der. Autor 
es nicht in diesem Sinne gemeint hat; aber bei Dingen, bei denen 
es wie hier lediglich auf die Auffassung ankommt, ist es unbe- 
dingtes Erfordernis, dass die Auffassung des Autors in der Stili- 
sierung klar und eindeutig zum Ausdruck komme. Nachlässigkeiten 
in der Stilisierung oder unüberlegte Redeblumen rächen sich schon 
am Autor selbst, indem sie unbewusst die Klarheit seiner Vor- 
stellungen und dadurch die Exaktheit seiner Schlüsse beeinträch- 
tigen; sie veranlassen vollends aber erst die oft recht wenig 
kritischen Leser, die ganze Sache von einer schiefen Seite aufzu- 
fassen. Und dann schießen von solcher Basıs aus die kühnsten, 
unbedachtesten Schlussfolgerungen empor. 

Gewisse Früchte haben also angeblich — wie der oft ge- 
brauchte Ausdruck lautet: — „Anlockungsmittel ausgebildet“, um 
sich die endozoische Verbreitung zu sichern. 

Das ıst der Stand der Sache von den Pflanzen aus gesehen. 
Von den Tieren ausgehend, sagt die Schutzmitteltheorie folgender- 
maßen: 

Es gibt Tiere, die Samen fressen und damit den Arterhaltungs- 
kampf der bezüglichen Pflanzen erschweren. Ein solcher Tierfraß 
ist für die Pflanzen sozusagen unerwünscht. Kerner*) sprach noch 
von „unberufenen* Gästen, Liebmann spricht bereits von einem 
„unbefugten“ Vogelfraß. Das Adjektivum „unbefugt“ bringt die 
zunehmende Selbstsicherheit der Theorie zum Ausdrucke. 

Es gibt aber anderseits auch Tiere, die große, fleischige Früchte 
fressen und deren Samen endozoisch verbreiten — und das ist der 
„befugte“ Tierfraß. 

Der „unbefugte“ Tierfraß wird seitens der Pflanze durch „Schutz- 
mittel“ erschwert, der „befugte* durch „Anlockungsmittel“ begünstigt. 

Das ist, kurz gesagt, der Gedankengang der Theorie. 


3) Sperrdruck von mir. 
4) A. Kerner, Die Schutzmittel der Blüten gegen unberufene 
Gäste. Festschr. z. 25jähr. Best. d. k. k. zool.-botan. Ges. Wien, 1876, S. 189ff. 


Heikertinger, Die Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln ete. 261 


Ohne mich hier über die Berechtigung der Ausdrücke „befugt“ 
und „unbefugt“ und ihre begrifflichen Grundlagen zu verbreiten, 
möchte ich nur kurz erwähnen, dass ich dieselben selbst vom 
Standpunkte der Schutzmitteltheorie aus ziemlich unglücklich ge- 
wählt finde. 

Meiner ablehnenden Haltung gegenüber der Schutzmitteltheorie 
überhaupt habe ich an den angegebenen Orten genügend Ausdruck 
gegeben. Es erübrigt mir daher nur noch eine kurze Darlegung 
jener Prinzipien, die ich an Stelle dieser Theorie als wirklich maß- 
gebend für die dauernde Arterhaltung im Pflanzen- wie auch im 
Tierreiche anerkenne und die ich als Ersatz für die abgelehnte 
Schutzmitteltheorie bieten will. Nach einem kurzen Streiflicht auf 
diese theoretische Grundlage möchte ich den Erklärungswert der 
von mir aufgestellten Sätze an Liebmann’s Arbeit praktisch er- 
proben. 

11. Die Prinzipien der Arterhaltung. 

Da ich die Schutzmitteltheorie als Prinzip der Arterhaltung 
ablehne, obliegt mir die Pflicht, die Tatsache der Arterhaltung ın 
ihren natürlichen Bedingungen klar darzulegen und die wirklichen 
Prinzipien dieser Arterhaltung offen zur kritischen Beurteilung vor- 
zuführen. 

Ohne in den Fehler zu verfallen, einer Theorie wieder eine 
Theorie entgegenzustellen und so den Teufel durch Beelzebub aus- 
treiben zu wollen, möchte ich nur mit etlichen wenigen Erfahrungs- 
sätzen arbeiten, die so einfach, so selbstverständlich, so alltäglich 
und naiv sind, dass sie des üblichen Arsenals der Theorien, der 
zusammengesuchten „Belege“, gar nicht bedürfen. Es macht fast 
den Eindruck, als wären sie der Wissenschaft allzu alltäglich, allzu 
einfach gewesen. Nur so lässt es sich denken, dass man an der 
verblüffend einfachen Lösung der ganzen Frage bis zur Stunde 
vorübergegangen ist. 

Drei Sätze sind es, die ich als klare Richtpunkte aufstellen 
möchte: 

1. Den Satz vom erschwinglichen Tribute oder der zu- 
reichenden Überproduktion. 
2. Den Satz von der@eschmacksspezialisation der 

Tiere. 

3. Den Satz von der Bevorzugung des Zusagenderen. 

Diese Sätze wollen weder neu noch originell, sie wollen nichts 
als klar und einleuchtend sein. Mit diesen Sätzen möchte ich nun 
— wie gesagt —- moderne Theorien ersetzen und auf der solcher- 
gestalt neu geschaffenen Basis zu arbeiten versuchen. 

1. Für die Theorie vom „Kampfe ums Dasein“ setze 
ich die Lehre vom ständigen, ersehwinglichen Tribute und 
der zureiehenden Überproduktion. 


262 Heikertinger, Die Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln etc. 


Jede Organismenart zahlt schutz- und kampflos ihren Tribut 
an andere. Die Art als solche kämpft nicht, bedarf darum auch 
keines mechanischen oder chemischen Schutzes und sucht auch 
keinen. Was zu kämpfen oder zu entrinnen sucht, ist nur das 
Individuum für sich; es sucht rein persönlich nicht unter den 
Tribut zu geraten. Das mag als „Auslese“ wirken, das Artbild 
modifizieren, aber mit der Herausbildung eines „Schutzes“ der Art 
hat es nichts zu tun. Denn der Tribut wird trotz aller Modi- 
fikationen bei Heller und Pfennig von der Art eingetrieben. Und 
die Art kann ihn leisten, denn dieser Tribut ist keine Geißel, 
sondern nur ein wohltätiger Regulator, der die Art von dem Über- 
schuss der Nachkommenschaft befreit, der von jeder Generation 
erzeugt wird und der keinen Lebensraum und keine Erhaltungs- 
möglichkeiten fände. Dieser Überschuss soll ja sozusagen gar 
nicht geschützt sein, er soll ja untergehen, er muss untergehen, 
damit das Gleichgewicht im Naturleben erhalten bleibt. Das ist 
doch der erste Satz, mit dem Darwin’s Selektionstheorie beginnt, 
auf dem sıe fußt. 


Wir haben also eine Auslese, die ein Artbild ändern mag, 
wir haben aber keinen Schutz, weil die ausgelesenen Formen von 
ihren natürlichen Feinden noch genau so gut gefunden und ge- 
fressen werden wie einst die Urform und weil dieser Tribut als 
Ablenkung des Überschusses heute wie damals im „Naturwillen“ 
liegt. 

Als Arterhaltungsproblem betrachtet, stellt sich die Sache so: 
Organismen, die nicht dauernd eine Nachkommenschaft erzeugten, 
welche zahlreich genug war, um den Ausfall zu decken (den Tribut 
zu erschwingen) und sich außerdem noch fortzupflanzen — solche 
Organismen traten vom Schauplatz ab. Übrig konnte nur dasjenige 
bleiben, bei dem die Produktion stets größer war als der 
Konsum durch feindliche Mächte. Die absoluten Ziffern 
beider sind vollständig gleichgültig — die hinreichend hohe aktive 
Bilanz ist das einzig Wesentliche. Das ist der Satz von der 
„zureichenden Überproduktion“. 

Welche Faktoren sichern nun diese Bilanz? 


Ich denke, es gibt nur eine ehrliche Antwort hierauf: Wir 
wissen heute nicht das mindeste Sichere darüber. Die 
ökologischen Lebensbedingnisse jeder einzelnen Art sind so unend- 
lich kompliziert, so verworren ineinandergewoben und so ver- 
schleiert, und wir wissen so beschämend wenig davon, dass es ge- 
radezu naiv erscheint, aus tausend untrennbar ineinandergreifenden 
Faktoren einen beliebigen herauszureissen und dem staunenden 
Leser zu sagen: „Nun will ich dir einmal zeigen, wie von dem da 
alles abhängt!“ 


Heikertinger, Die Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln ete. 26: 


Welche Anmaßung, welches Verkennen der Wege und Auf- 
gaben der Wissenschaft liegt doch in solchem Beginnen! Und 
welch krause Irrwege muss ein solcher Gedankengang im weiteren 
Verfolge einschlagen, wie viele muss er irreführen, die ihm ver- 
trauend folgen! 

Was wir tun können ist: Teil um Teil vornehmen und einzeln 
erforschen. Und was die Betrachtungsweise anbelangt, so darf sıe 
weder final noch kausal, sondern muss einzig konditional sein. Wir 
dürfen nie auf ein Ganzes schließen, das sich aus hundert ver- 
schiedenartigen Faktoren zusammensetzt — wenn wir nur einen 
einzigen Faktor notdürftig kennen. Das lehrt uns die Mathe- 
matik, das Musterbild exakter Wissenschaft. Welcher Mathematiker 
würde den verstehen, der aus einem gegebenen Produkte von hundert 
Faktoren den Wert eines einzigen Faktors herausrechnen wollte, 
wenn ihm die neunundneunzig anderen unbekannt sind?! 

Um ein Beispiel zu geben: Ich habe jahrelange Mühe der Er- 
forschung der Nährpflanzen meiner erwählten Spezialgruppe, der 
Haltieinen, gewidmet, habe ein nach Möglichkeit klares Bild von 
ihnen erhalten und weiß, dass jede Art nur auf ganz bestimmten 
Pflanzenarten lebt. 

Warum aber lebt jede Halticinenart nur auf gewissen Pflanzen- 
arten? Nichts erschien (und erscheint mir heute noch) zweck- 
loser, unverständlicher als ein „Warum?“ an solcher Stelle. Wer 
diese Frage im Ernste stellt, ist entweder ein Kind oder der allzu- 
eifrige Diener einer Theorie. Aber damit kommen wir bereits zum 
nächsten Punkte. 

2. Für die Theorie von den „natürlichen Schutz- 
mitteln der Pflanzen gegen Tierfraß“ setze ich die Tat- 
sache der Gesehmacksspezialisation der Tierwelt. An anderer 
Stelle habe ich die Frage bereits eingehend behandelt, stelle daher 
hier nur kurz fest: Nicht mechanische und chemische Schutzmittel 
schützen eine Pflanze, sondern der angeborene Geschmackssinn der 
Tiere. Jedes Tier greift normal nur einen bestimmten Kreis von 
Organismen als Nahrung an, unbekümmert um „Schutz“, und 
kümmert sich um alle anderen Pflanzen, ob „geschützt“ oder „un- 
geschützt“, überhanpt nicht, greift sie gar nicht an. Im ersten 
Falle, bei der Normalnahrung, ist ein „Schutz“ logisch undenkbar. 
Im zweiten Falle ist er unnütz, denn wo regulär kein Angriff er- 
folgt, ist auch kein „Schutz“ nötig. 

Eine Kiefernraupe verschmäht das schutzlose, saftige, weiche Salat- 
blatt und will starrsinnig die harte, harzig-bittere Kiefernadel. „Sie frisst 
keinen Salat“ sagt der gemeine Mann ruhig und denkt mit Recht 
nie. daran, „warum“ sie ihn nicht frisst. Das sind eben Geschmacks- 
geheimnisse, deren jedes Tier sein besonderes hat und für die es 
weder eine Erklärung noch einen einheitlichen Maßstab von „gut“ 


264 Heikertinger, Die Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln etc. 


oder „schlecht“ schmeckend gibt, weil der Geschmack jedes Tieres 
ein anderer ist. Man hat die „Spezialisten“ — die Monophagen 
und Oligophagen meiner Auffassung’) — als Ausnahme hingestellt®). 
Das ist ım tiefsten Grunde unrichtig. Engere oder weitere Spe- 
zıalısation ist allgemeime Regel ın der Tierernährung und wirkliche 
„Omnivoren“ gibt es wohl überhaupt nicht. 

Durch die Tatsache der Geschmacksspezialisation in der Tier- 
welt nun werden die Angriffe verteilt — auf jeden Organismus 
fällt nur eine gewisse Anzahl von Feinden. Und die Tatsache der 
effektiven Existenz eines Organısmus beweist, dass er imstande 
war, bis zur Stunde alle seine natürlichen Feinde zu befriedigen 
und mit dem verbleibenden Reste von Individuen seine Art fort- 
zupflanzen. Die „geschütztesten“ Pflanzen aber haben durchschnitt- 
lich nicht weniger Feinde als die „ungeschütztesten“. Man werfe 


einen Blick in die lebendige Natur hinaus oder nehme — wenn 
dies etwas umständlich scheint — den alten, aber immer noch 


mustergültigen Kaltenbach’) zur Hand. So veraltet er auch ist, 
diese Tatsache geht klar aus ihm hervor. 

3. Zur Erklärung des anscheinend tierabwehrenden 
Charakters der heutigen Pflanzenwelt setze ich die Lehre 
von der Bevorzugung des Zusagenderen. 

Ein Gleichnis wird den einfachen Gedanken am besten ver- 
mitteln. 

Auf einem Markte werden zu einem Einheitspreise Äpfel feil- 
geboten. Die Frauen kommen, wählen aus, kaufen. Die schönsten 
Äpfel gehen zuerst ab. In den späten Vormittagsstunden wird die 
(Qualität des Vorhandenen (im Vergleiche zum ursprünglichen Ge- 
samtangebot) bereits erheblich gesunken sein. Die Äpfel mit 
„käuferabwehrenden“ Eigenschaften wiegen auffällig vor. Sind diese 
Äpfel nun „geschützt“? Sicherlich nicht. Die Käufer, die nun 
kommen, passen sich der verschlechterten Qualität an und wählen 
unter dem Vorhandenen weiter aus. Gegen Mittag sind nur wenige 
Reste mehr, das „Käuferabwehrendste“, vorhanden. Aber dieses 
ist nun „geschützt“?! Mit nichten. Das gibt die Äpfelfrau den 
Jungen, die sich um ihren Standplatz drücken, und macht ihnen 
immer noch eine Freude damit. 

Das aber ıst die simple Lösung der Frage von dem tier- 
abwehrenden Habıtus der heutigen Pflanzenwelt: Unter sonst 
gleichen Verhältnissen werden Pflanzen, die an einem Orte von 
einer dominierenden Tierart bevorzugt werden, am stärksten leiden. 


5) Vergl. meinen Artikel über die Standpflanze (Wien. Entom. Zeit. XXXI, 
S. 207 £f., 1912); ferner „Zoologische Fragen im Pflanzenschutz“ (Centralbl. 
f. Bakt., Paras. etc., II. Abt., 40. Bd., 8. 233 f., 1914). 

6) Stahl, Ludwig u.a. 

‘) Die Pflanzenfeinde aus der Klasse der Insekten. Stuttgart 1874. 


Heikertinger, Die Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln ete. 265 


Wir können uns unbedenklich vorstellen, dass eine Anzahl Pflanzen 
einer dauernden Bevorzugung schließlich sogar erlag. Man wird 
sagen, dieser Satz von der Bevorzugung des Zusagenderen sei nichts 
als das einfache Selektionsprinzip. Und man hat recht, insoferne 
es sich um nichts anderes als um eine „Auslese“ allein handelt. 
Wenn es sich jedoch um den Begriff „Selektion“ handelt, wie er 
heute zur Erklärung aller erdenklichen Dinge angewendet wird, so 
muss ich ihn rundweg ablehnen. 

Denn es wird uns ferne liegen, alle anscheinend tierabwehren- 
den Eigenschaften solchergestalt mit Auslese erklären zu wollen. 
Ein großer Teil davon wäre sicherlich ohne tierische Auslese ım 
gleichen Ausmaße vorhanden wie mit derselben; es sind eben 
Struktureigentümlichkeiten, die von selbst entstehen und die gar 
keinen Selektionswert zu haben brauchen, um erhalten zu bleiben. 
Wieviele von den solchergestalt richtungslos entstandenen Merk- 
malen ohne Selektion da wären, vermag niemand auch nur an- 
nähernd zu beurteilen. Doch nehmen wir für den vorliegenden 
Fall eine Wirksamkeit der Auslese ım weitestmöglichen Ausmaße an. 

Es wird sich nun lediglich darum handeln, festzustellen, was 
jetzt geschah. Waren die nun übrigbleibenden Pflanzen durch ihre 
missliebigen Eigenschaften „geschützt* ? 

Sie waren es in keiner Weise. Nachdem das Bevorzugte ver- 
schwunden war, musste das minder Bevorzugte heran. Und mangels 
des Besseren ıst das Gute auch stets willkommen und ersetzt 
ersteres vollständig. Den Beweis liefert uns ein einziger Blick ın 
die Natur: da wimmelt es von „Schutzmitteln“ — nach Versiche- 
rung der Schutzmitteltheoretiker ıst ja keine einzige Pflanze ganz 
ohne „Schutzmittel“, weil sie dann sofort unterliegen würde °) — 
und da wimmelt es aber auch gleichzeitig von phytophagen Tier- 
arten, die mit einem Appetit, den keine Theorie hinwegzuleugnen 
vermag, in dieser „geschützten“ Pflanzenwelt fressend wüten. 
Stahl’) sagt selbst, dass es „denn auch wohl keine einzige Pflanze 
gibt, welche der Tierwelt nicht ihren Tribut zu zahlen hätte“. Die 
sonderbare Ausflucht, die „Schutzmittel“. seien nur „bedingt“ wirk- 
sam, schützten nur gegen einige, nicht aber gegen alle Tiere, ıst 
leicht zu widerlegen. Man fasse jene Tiere, gegen die die „Schutz- 
mittel“ angeblich wirksam sind, nur einmal zoologisch kritisch ıns 
Auge und man wird leicht nachweisen können, dass diese Tiere 
ihre Normalnahrung ganz anderswo finden, einer anderen, vielleicht 
noch kräftiger „geschützten“ Nahrung von Natur aus angepasst 
sind, dieselbe schonungslos vernichten und darum die angeblich 


8) Stahl, Liebmann u. a. 
9) Pflanzen und Schnecken. ‚Jenaische Zeitschr. f. Naturw. u. Med. XXII, 
INCH. SNV..Bep.ıD. 2, 


266 Heikertinger, Die Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln etc. 


„geschützte“ Pflanze normal gar nicht benötigen und daher auch 
gar nicht angreifen. 

Jedes phytophage Tier besitzt seine angestammte Normalnahrung 
normal in Fülle, mehr verlangt es gar nicht. Diese den Bedarf in 
der Natur vollauf deckende Normalnahrung aber ist dem Tiere 
gegenüber absolut ungeschützt — bezw. nur durch ihre Masse „ge- 
schützt“ —, wird in Unmengen vernichtet. In Spezialfällen mag 
ja das Leben einer Pflanze einmal von ihrer Bedornung oder ihrem 
scharfen Safte abhängen, wenn nämlich den ortsbewohnenden Tieren 
ihre Normalnährpflanzen ausgehen. Aber das ist eben ein Zufall 
und kein Naturprinzip. 

Wir Zoologen vermögen angesichts des unermesslichen, ver- 
nichtenden Tierfraßes an einen wirksamen bewaffneten Schutz der 
Pflanzenwelt gegen Tiere nicht zu glauben. Gerne aber wollen wir 
an eine hier und dort wirksam gewesene „Auslese“ glauben, die 
das am meisten Begehrte verschwinden machte und das minder 
Bevorzugte — aber darum keineswegs Verschmähte oder gar „Ge- 
schützte* übrig ließ. Dieses minder Bevorzugte gibt nun der 
heutigen Pflanzenwelt ihren anscheinend tierabwehrenden Zug, mit 
dem sich die heutige Tierwelt aber, wie das Naturleben zeigt, in 
vollem Umfange abgefunden hat und der den Pflanzen nunmehr 
nicht das mindeste nützt. 

Ich habe das Wort „Auslese“ gebraucht und habe gezeigt, 
wie weit man mit meiner Auffassung der Dinge an die Lehre 
Darwin’s, soweit sie das Walten einer im ausmerzenden Sinne 
wirksamen Selektion betrifft, heran kann. Wir können deren Grund- 
lagen anerkennen, bis das Wort „Schutz“ fällt — dann scheiden 
sich die Wege. Die Auslese erzeugt minder begehrenswert scheinende 
Formen — einen wirksamen Schutz gegen wirkliche Feinde aber er- 
zeugt sie nicht, weil die feindliche Tierwelt jeden Schutz durch stete 
unvermerkte Gegenanpassung zu nichte macht. Wohl kaum ein 
Tier der Erde ist durch dieses allmähliche Verschwinden des von 
ihm Bevorzugten und das Vortreten des von ihm minder Bevor- 
zugten zugrunde gegangen. Wohl aber kann ein durch seinen Ge- 
schmackssinn (ohne Rücksicht auf Schutz, der ja bei Spezialisten 
gänzlich außer Betracht fällt) angepasster Spezialist bei Ver- 
schwinden seiner Pflanze mit verschwinden. 

Das sind die Gedankengänge, die ich dem Leser zur reiflichen 
Erwägung vorführen möchte. 

Und nun will ich mich der Kritik des experimentell-sachlichen 
Teiles des Liebmann’schen Artikels zuwenden. An ıhm soll 
das soeben Entwickelte die Probe auf seinen Erklärungswert be- 
stehen. 


Heikertinger, Die Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln ete. 267 


II. Der Gesehmackssinn der Vögel und die Wirksamkeit der 
„chemischen Schutzmittel“. 

Die Einleitung zu dem Artikel Liebmann’s gibt neben einer 
Darlegung der leitenden Gesichtspunkte der Arbeit einen allge- 
meinen Überblick über den Verdauungsapparat und die Sinnes- 
organe der Vögel, soweit letztere in Beziehung zur Nahrungsauf- 
nahme stehen. 

Der Autor kommt zu dem sehr interessanten, für die Abwehr- 
und Anlockungstheorie indes doch vielleicht ein wenig unbequemen 
Schlusse, dass bei den Vögeln zum Auffinden der Nahrung das 
Auge die wichtigste Rolle spielt, dagegen Geruchs- und Geschmacks- 
sinn nur eine ganz untergeordnete. Das Innere der Mundhöhle 
samt der Zunge der Vögel ist hart und verhornt, Speichel wird 
sehr wenig abgesondert. Für die geringe Empfindlichkeit des Ver- 
dauungstraktes spricht schon die Tatsache, dass Sand und Steinchen 
ihm nichts anhaben, sondern von den Tieren vielfach freiwillig 
aufgenommen werden. 

Ein sprechendes Beispiel für die ganz unerwartet große Ge- 
schmacksstumpfheit der Vögel geben die Experimente, die der Autor 
mit verschiedenen Vogelarten (vgl. S. 486ff.) anstellte. Ich zitiere 
kurz hieraus. 

(S. 487 ff.; Tannin.) „... Alle Vögel fraßen die gerbsäure- 
haltige!‘) Nahrung vollständig auf; kein einziger ließ etwa nach 
dem ersten Bissen ab, was er getan haben würde, wenn er ihm 
schlecht schmeckte.“ 

„Kein Vogel erlitt irgendwelchen sichtbaren Schaden durch 
diese Experimente, trotzdem teilweise ganz beträchtliche Quantitäten 
Tannin vertilgt worden waren.“ 

(S. 4389—490; Zitronensäure.) „... wirkt in solchen Kon- 
zentrationen, wie sie in den folgenden Versuchen angewandt wurden, 
sehr scharf und ätzend.“ 

Gequetschter Hanf und Ameisenpuppen, die 6 Stunden in einer 
etwa 7prozent. Lösung von Zitronensäure gelegen waren, wurden 
von drei Meisenarten, Stieglitz und Dompfaff, bezw. drei Meisen- 
arten, Kleiber und Rotkehlchen, „scheinbar gern“ verzehrt; zurück- 
gelassen wurden nur die Hanfschalen. 

„Endlich bekamen alle Vögel als Trinkwasser eine etwa 
2!/,prozent. Zitronensäurelösung; sie verweigerten dieselbe durchaus 
nicht.“ 

(S. 490; Ameisensäure.) „Ferner warf ich Mehlwürmer in 
reine Ameisensäure hinein; die Kohlmeise holte mit dem Schnabel 
die sich lebhaft krümmenden Tiere heraus und fraß sie ohne wei- 
teres mit Behagen stückweise auf.“ 


10) D. h. künstlich mit Tannin vermischte Nahrung. 


268 Heikertinger, Die Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln ete. 


(S. 490; Pıkrinsäure.) „Einen äußerst widerlichen Geschmack 
zeigt die Pikrinsäure, welche auch noch giftig ist. Selbst ın mini- 
malen Mengen genossen schmeckt sie entsetzlich ... Deshalb 
scheint sie zu Experimenten über den Geschmack besonders ge- 
eignet, wenn man sie auch, soviel mir bekannt, bis jetzt im Pflanzen- 
reiche noch nicht nachgewiesen hat.“ 

„In einer etwa 3prozent. Lösung von dieser Säure wurde 
„Wealdfutter“ !!) eine Nacht über hen gelassen... Die aufge- 
nommene Nahrungsmenge blieb beträchtlich Finer der normalen 
zurück !?). Immerhin aber hatten beide Vögel (Kohlmeise und Grün- 
fink) so viel verzehrt, dass Schnabel und Exkremente hochgelb 
gefärbt waren... Mehlwürmer, mit einem dünnen Pikrinsäurebrei 
bestrichen, wurden von der Meise anstandslos vertilgt. Irgendeinen 
sichtbaren Nachteil trugen die Tiere nicht davon.“ 

(S. 492; Kaliumbioxalat, Sauerkleesalz.) „Da es sehr scharf 
schmeckt und außerdem giftig ist, scheint es als Schutzmittel sehr 
geeignet zu sein.“ 

In einer bei Zimmertemperatur gesättigten Lösung dieses Salzes 
wurden Ameisenpuppen und gequetschte Hanfkörner mehrere Stunden 
lang eingeweicht. Erstere wurden hierauf an drei Meisenarten, 
letztere an diese und an Stieglitz und Dompfaff verfüttert. „Alle 
Tiere nahmen wiederholt davon, als ob es gewöhnliches Futter 
wäre; hätte es ihnen zu schlecht geschmeckt, so würden sie gleich 
nach dem ersten Versuche von ıhrem Vorhaben abgelassen haben.“ 

Die Versuche wurden noch mit größeren Salzmengen vorge- 
nommen. „Schädliche Folgen traten nirgends ein, trotz der Giftig- 
keit für andere Tiere.“ 

Lediglich der Milchsaft von Euphorbia Myrsinites konnte den 
Versuchstieren das Futter verekeln. 

Zusammenfassend sagt der Autor selbst (S. 494): 

„Was geht nun aus diesen Versuchen hervor? Jedenfalls so 
viel, dass der Geschmackssinn der Vögel nur sehr wenig 
ausgeprägt ist, wenn auch nicht behauptet werden kann, 
dass er vollständig fehlt. In solchen Quantitäten, wie sie hier 
verwandt wurden, kommen chemische Substanzen ın Samen und 
Früchten kaum vor... Man kann also nicht erwarten, dass irgend- 
welche Substanzen, die als chemische Schutzeinrichtungen ange- 
sehen werden können, auf Vögel irgendwie einwirken .. .* 

Ich habe den Worten des Autors nichts zuzufügen. Seine 
Worte besagen klar: Es gibt keine wirksamen chemischen 
natürlichen Schutzmittel der Pflanzen gegen Vogelfraß. 

1) Käufliche Nahrung der Körnerfresser, der Hauptsache nach Samen von 
„Picea excelsa, Phalaris canariensis, Panicum miliaceum, Brassica-Arten, Can- 
nabis sativa, Linum usitatissimum, Dipsacus laciniata und Lactuca sativa“. 

12) Hier spielt möglicherweise die durch die Pikrinsäure verursach te auffallende 
intensive elbfärbung des Futters mit. 


Heikertinger, Die Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln ete. 269 


Wir halten diese Konstatierung schon hier fest und legen da- 
mit die gesamten „chemischen Schutzmittel* gegen Vogelfraß ebenso 
berechtigt als gänzlich unwirksam ad acta, wie wir seinerzeit die 
„chemischen Schutzmittel“ der Rinden unserer Holzgewächse gegen 
Säugetierfraß ad acta gelegt haben'?). Und in beiden Fällen habe 
ich den Nachweis allein mit den eigenen Worten der Autoren, die 
doch ausgezogen waren, um die Wirksamkeit der Schutzmittel 
nachzuweisen, führen können. Beiden Autoren muss voll und ganz 
eines zugestanden werden — die unbedingte wissenschaftliche Wahr- 
haftigkeit, mit der sie die Ergebnisse ihrer Experimente darlegen, 
auch dann, wenn sie ihrer Theorie entgegenlaufen. Nur diese 
Wahrhaftigkeit, dieses Nichtsverschweigen hat den Nachweis er- 
möglıcht. 

Seinen eigenen Untersuchungen fügt der Autor noch die Er- 
wähnung gleichsinniger Forschungsergebnisse anderer an. Man hat 
überhaupt erst im Jahre 1904 Geschmacksorgane in der Mundhöhle 
— nicht auf der Zunge! — der Vögel nachgewiesen; diese Sinnes- 
organe stehen jedoch hinter jenen der Säugetiere weit zurück. 

Dr. O. Heinroth (zitiert auf S. 497) schreibt: „... Wäre der 
Geschmack für den Vogel wirklich sehr wichtig, so würden Beeren, 
Mehlwürmer, Eicheln und andere festschalige Futtermittel nicht 
unzerstückelt verschluckt werden, wie dies bekanntlich doch meist 
geschieht.“ 

Und auf S. 498 sagt der Autor: 

„Bei den Körnerfressern aber, die ihre Nahrung zerbeißen, ist 
ein Schmecken deshalb nicht möglich, weil nur nasse oder einge- 
speichelte Substanzen mittels des Geschmackssinnes wahrgenommen 
werden können; die fleischigen Früchte und Tierchen jedoch, die 
diese Bedingung erfüllen, werden von Körnerfressern verschmäht, 
von Weichfressern dagegen unzerkleinert verschluckt, wobei eine 
Einwirkung auf den Geschmack auch nicht stattfindet.“ 


IV. Die „.Abwehrmittel** gegen Körnerfresser. 

Auf S. 449ff. bespricht der Autor die Einteilung der Vögel in 
„Körnerfresser“ und „Weichfresser*“. 

Die Körnerfresser besitzen einen kurzen, starken Schnabel, 
einen sehr kräftigen Muskelmagen und nähren ‚sich von hartem 
Futter, vorwiegend Körnern und harten Früchten, die sie zumeist 
mit dein Schnabel zerstückeln und mit dem Muskelmagen zermahlen. 

Die Weichfresser besitzen einen längeren, dünneren, zum 
Hervorholen von kleinen Tieren, nicht aber zum Zerkleinern ge- 
eigneten Schnabel, einen muskelschwachen Magen und nähren sich 


13) Vergl. meine eingangs zitierte kritische Abhandlung über die Arbeit 
A. Räuber’. 


370 Heikertinger, Zur Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln ete. 


in erster Linie von Insekten, Würmern u. dgl., in zweiter von 
fleischigen Früchten, also durchwegs von weicheren Objekten, die 
sie in der Regel unzerstückelt hinunterschlucken. 

Mit dem Blicke des Unbefangenen sehen wir hier zweierlei. 

1. Fall. — Vögel, die vorwiegend von Samen leben. Wenn 
sie davon leben, zerstören sie zweifellos die Samen. Und wenn 
sie davon leben, können die Samen ihnen gegenüber nicht „ge- 
schützt“ sein. Also: „unbefugter“ Fraß, d. ı. reine Vernichtung, 
Fehlen wirksamer Schutzmittel, Weiterbestand der Pflanze 
durch Überproduktion gesichert. 

2. Fall. — Vögel, die normal von Kleintieren, ausnahmsweise 
— oder sagen wir fallweise — von fleischigen Früchten leben '*). 
Der Befall der Fleischfrüchte ist wohl weit nıinder belangreich als 
der Samenbefall im vorigen Falle. da dort eine Normalnahrung, 
hier aber nur eine Eventualnahrung vorliegt. Es ist absolut nicht 
einzusehen, warum für diesen sicherlich viel schwächeren Befall 
der ım vorigen Falle wirksam gewesene allgemein gültige Modus 
der Arterhaltung nicht hinreichen sollte — warum dem Zufalle, 
dass hier die Samen keimfähig durchgehen, eine prinzipielle Be- 
deutung zugemessen werden soll. Dieser Zufall mag die Zahl der 
Individuen dieser Sträucher vermehren — für die Sicherstellung 
der Artexistenz aber genügt, wie im vorigen Falle, so auch hier, 
ganz gewiss die einfache Überproduktion an Samen. Ich wenig- 
stens sehe nicht ein, warum das, was dort weit heftigeren Angriffen 
standhielt, hier für den schwächeren Befall nicht genügen sollte. 
Niemand kann beweisen, dass — einzelne ganz spezialisierte Fälle 
extremer Anpassungen ausgenommen!) — der sogen. „befugte“ 
Fraß für das Bestehen der Pflanzenarten notwendig ist. Und 
um die Notwendigkeit allein handelt es sich doch. Eine ein- 
fache Förderung mag das Vegetationsbild beeinflussen, ist aber 
prinzipiell bedeutungslos. 

Wir haben eine so ungeheure Fülle von Pflanzen, die ohne 
„befugten“ Fraß auskommen, ja die sogar „unbefugt“ aufs äußerste 


14) Erst im Herbst (früher reifen die Früchte in der Regel nicht) nehmen die 
Weichfresser neben der Kerbtiernahrung auch fleischige Früchte an. 

15) An anderer Stelle möchte ich mich ausführlicher über solche Fälle — ein 
Beispiel für dieselben ist die Mistel — äußern. Hier sei nur kurz erwähnt, dass 
die völlige Abhängigkeit einer Pflanze von der Verbreitung durch Tiere nichts Pri- 
märes, nichts Prinzipielles an sich haben kann, sondern nichts ist als ein Zufall. 
Primär kann sie nicht sein, denn ehe ein Vogel eine Frucht fraß und dadurch ver- 
breitete, musste diese Frucht doch gewachsen sein und die Pflanze musste ohne 
Vogel bereits Erdalter hindurch gelebt und sich fortgepflanzt und verbreitet haben. 
Der Vogel hat ihre Verbreitung darum nicht gesichert, sondern nur modifiziert, 
von sich abhängig und damit in gewissem Sinne sogar unsicher gemacht. Das ist 
kein Prinzip, sondern dasjenige, was wir — ohne uns vor dem deutschen Worte zu 
scheuen — „Zufall“ nennen, 


Heikertinger, Zur Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln ete. 274 


geplündert werden und die doch gemeiner, häufiger und weiter ver- 
breitet sind als viele „befugt“ gefressene, eine solche Fülle, dass 
wir nicht begreifen können, warum gerade die wenigen „befugt“ 
gefressenen unbedingt auf diesen Fraß angewiesen sein sollten, 
weshalb gerade bei ihnen die Natur ein neues Erhaltungsprinzip 
nötig gehabt haben sollte. 

Überlegungen solcher Art indes liegen abseits vom Wege des 
Autors der rezensierten Arbeit. 

Ein kurzer Blick auf den Weg, den er gekommen, lässt uns 
seinen Standpunkt verständlich erscheinen. 

Er kommt aus der Schule der Selektion. 

In Pflanzen- und Tierwelt tobt der Daseinskampf; die Pflanze 
kämpft so gut wie das Tier. Hätte sie keine Waffen, so ginge sie 
unter. Jede Pflanze muss demnach Waffen haben. Sein Thema 
lautet: Suchet die Abwehrmittel der Pflanzen und zeiget ihre Wirk- 
samkeit im einzelnen. 

Die Körnerfresser vernichten nun die Samen gewisser Pflanzen. 
Um nicht unterzugehen, müssen diese Pflanzen an Früchten und 
Samen „Abwehrmittel“ gegen die Körnerfresser ausbilden. 

Anders liegt der Fall bei den Weichfressern. Die Weichfresser 
vernichten mit ihrem Fraß keine Samen, sie verbreiten solche ım 
Gegenteile.. Um Vorteile zu haben, um im Daseinskampfe zu be- 
stehen, haben nun diese Pflanzen die Weichfresser in ıhren Dienst 
gestellt, sie haben an den Früchten „Anlockungsmittel“ für diese 
ausgebildet. 

Es ist nicht zu leugnen, dass die Sache in dieser Form nicht 
nur interessant, sondern auch völlig plausibel klingt. Wenn man 
nämlich den Detailgang der einzelnen hierzu notwendigen selek- 
tiven — (an anderes als an Selektion kann ja hier nicht gedacht 
werden) — Vorgänge nicht weiter verfolg. Dann kann man 
ohne weiteres an den Nachweis der „Anlockungsmittel“ einerseits, 
der „Schutzmittel“ anderseits gehen. Man kann sicher sein, auf 
jeder Seite übergenug zu finden, das sich derart deuten lässt. 

Der kritische Geist aber sollte sich vorerst wohl doch noch 
einige Gedanken machen. Er sollte vorerst doch überlegen, ob 
dasjenige, was weiter oben über die beschränkte Wirksamkeit von 
Schutzmitteln ausgeführt wurde, nicht vielleicht auch hier Geltung 
habe. Die „Schutzmittel“ wären ja hochwertvoll, wenn wir es nur 
mit körnerfressenwollenden Vögeln zu tun hätten. So aber haben 
wir es mit tatsächlich körnerfressenden zu tun — und die 
fressen die Körner wirklich und kümmern sich nicht im mindesten 
um die vielen „Abwehrmittel“, die wir Menschen mit einigem Eifer 
an den Körnern ausfindig machen. Was aber die Wirksamkeit der 
„Abwehrmittel“ gegenüber den „anderen“ Vögeln anbelangt, so 
sind diese „anderen“ Vögel eben keine Körnerfresser oder doch 


372 Heikertinger, Zur Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln ete. 


keine, die von solehen Körnern leben. Sie brauchen und suchen 
unsere Körner gar nicht, sondern suchen und fressen andere Körner, 
die vielleicht noch viel hübschere „Abwehrmittel“ besitzen als 
unsere. 


Die Körner also werden gefressen — ob mit oder ohne „Schutz- 
mittel“ ıst gleichgültig. Dass die Pflanze darum nicht ausstirbt, 
verdankt sie also nicht den an maßgebender Stelle ganz unwirk- 
samen „Abwehrmitteln“, sondern der einfachen Tatsache, dass sie 
so viel Samen produziert, dass außer den von Vögeln (und anderen 
Tieren) gefressenen immer noch genug zur Fortpflanzung des Ge- 
wächses übrig bleiben. 


Was aber die anscheinend abwehrenden Eigenschaften dieser 
Früchte und Samen anbelangt, so ıst beispielsweise ihre Harthäutig- 
keit meines Erachtens gar nichts so Verwunderliches und ohne 
weiteres auch ohne tierische Selektion leicht verständlich. Ein Same 
muss den Winter überdauern, muss Kälte, Hitze, Feuchtigkeit, 
mechanische und chemische Einflüsse u. s. w. überstehen — wie 
sollte er anders sein als hart und trockenhäutig?! Sind nicht 
auch die Tiereier harthäutig?! Und gewiss würden wır auch an 
den Tiereiern alle möglichen Zierraten und Anhängsel finden, wie 
an den Samen, wenn das Tierei nicht den Eileiter passieren müsste. 
Ich erinnere nur an die Skulptur und Form mancher Schmetter- 
lingseier. Der Ausbildung aller möglichen Anhänge an den Samen 
aber steht so wenig entgegen, wie den bizarrsten Ausbildungen an 
Pflanzenblättern und Blüten. 


Und sind trockenhäutige Pflanzenteile, z. B. Hüllschuppen, 
Rinden u. s. w. nicht in der Regel auch unscheinlich gefärbt?! 
Bräunlich ist eben die Hauptfarbe trockenhäutiger Gewebe nicht 
nur ım Pflanzenreich, sondern auch im Tierreich (z. B. Orthopteren- 
flügel ete.). Braucht man da unbedingt eine tierische Selektion 
zur „Erklärung“? 

Aber gesetzt auch, wir liebten die Selektion so sehr, dass wir 
sie auch hier um keinen Preis missen möchten, — an einen „Schutz“ 
und eine „Abwehr“ ıst immer noch kein Gedanke. 


Die Selektion arbeitete einfach so, dass das Bevorzugte all- 
mählich unterging und das minder Bevorzugte — eben die Dinge 
in ıhrer heutigen, anscheinend abwehrenden Form — übrig blieb. 
Wird dies nicht gefressen? Ein Blick auf die Körnerfresser zeigt 
uns, dass es genau so gut gefunden und gefressen wird, wie einst 
das minder Selektierte, Einladendere, von dem die Vorfahren unserer 
Vögel (vielleicht) lebten. Die Gestalt mag sich zum minder Ein- 
ladenden geändert haben — ein „Schutz“ ist hieraus in keiner 
Weise erwachsen, denn die heutigen Vögel sind eben wieder den 
heutigen Früchten angepasst und fressen sie. 


Heikertineer, Zur Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln ete. 97: 
> X zhu 


Diese Überlegungen — für uns alles Wiederholungen von 
weiter oben bereits Dargelegtem — haben für uns etwas so über- 
raschend Einfaches, Natürliches, Zwingendes, dass uns der Eifer, 
mit dem die Wissenschaft „Schutzmittel“ sucht, seltsam verwunder- 
lich berührt. 

Und seltsam verwunderlich sind uns viele Vermutungen und 
Schlüsse, die der Autor ım zweiten Teile seiner Arbeit, der von 
den nichtfleischigen, mit „Abwehrmitteln“ gegen Körnerfresser ver- 
sehenen Früchten und Samen handelt, äußert. Ich überlasse es 
dem nunmehr aufmerksam gemachten Leser, diese Dinge kritisch 
dort nachzulesen. An dieser Stelle würde ihre Erörterung zu weit 
führen. 


Dass aber das ım voraus gegebene Thema „Selektion“ und 
„Sehutzmittel“ auch die Logik beeinflusst, mag nur an etlichen 
Proben dargelegt werden. 


S. 776. — „Die nichtfleischigen Samen und Früchte sind 
also nicht an den Tierfraß. speziell Vogelfraß, angepasst und 
müssen lästige Feinde fernzuhalten suchen. Wie aber schon am 
Anfang der Arbeit hervorgehoben wurde, bieten alle Schutzein- 
richtungen nur einen relativen, keinen absoluten Schutz. Man 
darf sich deshalb nicht wundern, wenn man durch Beobachtungen 
findet, dass große Mengen nichtfleischiger Samen und Früchte, be- 
sonders kleinere, den körnerfressenden Vögeln als willkommene 
Speise dienen. Diese Tatsache ist für die Landwirtschaft 
von weittragendster Bedeutung, weil auf diese Art zahl- 
lose Unkrautsamen vernichtet werden...!P).“ 

Größere Bedeutung für die Landwirtschaft dürfte vielleicht 
doch der Fraß an Kultursämereien beanspruchen. Übrigens ist die 
Tatsache der Vernichtung „zahlloser Unkrautsamen“ ein etwas ein- 
seitiger Trost und sicher keine Empfehlung für die Wirksamkeit 
von Schutzmitteln. Denn der Vogelfraß unterscheidet ja nicht 
kritisch Kultursämereien und Unkrautsamen, sondern trifft rück- 
sichtslos beide. 

S. 782. — „Eine Familie, die von Vögeln besonders gern 
heimgesucht wird, ist die der Compositen; daher zeigt ge- 
rade diese Familie die verschiedensten Organe zum 
Schutze gegen solchen unbefugten Vogelfraß!*).“ 

Der Schluss ist etwas seltsam; ein Unbefangener könnte kaum 
anders sagen als: Je mehr Schutzorgane da sind, desto weniger 
gerne werden wohl die Pflanzen von Vögeln heimgesucht. Der 
Autor verwechselt unbewusst das supponierte Heimsuchen wollen 
mit dem effektiven Heimsuchen; letzteres kann nur ein Beweis 


16) Sperrdruck von mir. 


XXXV. 18 


974 Heikertinger, Zur Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln etc. 


dafür sein, dass die Pflanzen den Vögeln zusagen, also keine wirk- 
samen Schutzmittel gegen dieselben besitzen. 

Mehr als einmal geht der Autor an der einfachen Lösung des 
Problems durch den Satz von der zureichenden Überproduktion vor- 
bei, ohne sie aufzugreifen. 

S. 789. — „... Taraxacum und die übrigen Früchte fielen 
allen verwendeten Tieren (Dompfaff, Stieglitz, Meisenarten) verhält- 
nismäßig leicht zum Opfer; auch in der Natur werden sie massen- 
haft von Körnerfressern vertilgt ... Trotzdem weiß jeder, dass 
gerade die genannten Pflanzen zu unseren gemeinsten Unkräutern 
gehören. Das liegt daran, dass die Früchte von der Pflanze 
in großen Mengen erzeugt werden...“ 

S. 798. — „... Die Pflanze (es ist von den Früchten von 
Dipsacus laciniatus die Rede) entgeht der Vernichtung dank 
ihrer massenhaften Erzeugung. Jeder Körnerfresser verzehrt 
sie gern, weshalb sie in dem für diese Tiere bestimmten, käuflichen 
Futter enthalten zu sein pflegen.“ 

Auch an anderen Orten ist dieser klare Gedanke ausgedrückt, 
leider aber unangewandt geblieben. 

Der Autor ist indes ın allen Fällen streng gerecht und führt 
auch jene Fälle, die seinen Voraussetzungen widersprechen, ge- 
wissenhaft auf. 

S. 805. — „Nach allen hier angestellten Erörterungen dürfte 
soviel sicher sein, dass den meisten ätherischen Ölen der Umbelli- 
feren neben etwaigen anderen Funktionen die des sehr wirksamen 
Schutzes gegen unbefugten Vogelfraß zukommt...“ 

Und hierzu S. 806. — „Ob die ätherischen Öle der Früchte 
ihren stammesgeschichtlichen Ursprung lediglich der auslesenden 
Wirksamkeit der Vögel verdanken, erscheint einigermaßen fraglich, 
da auch alle anderen Teile der Doldengewächse von äthe- 
rischen Ölen durchtränkt sind'!*),“ 

Es, wäre in diesem Falle zweifellos recht erzwungen, wollte 
man den Ölgehalt speziell der Samen mittels Selektion durch Vögel 
erklären. 

Auch an der Tatsache der Geschmacksspezialisation der Tiere 
mit ihren unerforschlichen, im Tierbau und nicht ım Pflanzenbau 
begründeten Geheimnissen gleitet der Autor vorüber. 

S. 807. — (Es ist die Rede von den Samen der Papeliona- 
ceen. Der Autor findet es begreiflich, dass die Vögel den großen, 
festen Hülsen mancher Arten nicht beikommen können; ebenso 
können sie manche besonders harte Samen nicht zerbeißen.) „Ganz 
neu und unerwartet ist jedoch die Tatsache, dass die übrigen 
(kleineren) reifen Samen und sämtliche halbreifen verweigert wurden, 
obgleich sıe leicht zu bewältigen sind und weder besonders scharf 
riechen noch schmecken, wenigstens unseren Sınnesorganen nach 


Heikertinger, Zur Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln ete. 275 


zu urteilen. Auch durch Aussehen und Form unterscheiden sie 
sich nicht wesentlich von anderen Samen und Früchten; daher 
wurden sie ja von den Tieren auch zunächst probiert und erst 
dann verschmäht.“ 

Die Schutzmitteltheorie erklärt solche Tatsachen nicht. Sie 
lässt das Thema einfach fallen. Im Satze von der Spezialisation 
der Tiere jedoch liegt die natürliche, ungezwungene Erklärung für 
alle Ablehnungen. 

S. 810. — „Manche Forscher, besonders Focke und Buch- 
wald, vertreten die sonderbare Ansicht, dass die Ausbreitung der 
Leguminosen-Samen durch umkommende Vögel erfolgt, so bei 
Erbsen, Bohnen und anderen Hülsengewächsen mit nahrhaften 
Samen. Weil viele Vögel ıhre Nahrung vor der eigentlichen Ver- 
dauung eine Zeitlang im Kropfe behalten, soll die Möglichkeit ge- 
geben sein, dass bei gestorbenen Tieren die Samen von hier aus 
ins Freie gelangen und dort keimen. Focke selbst hat einen 
solchen Fall beobachtet, glaubt aber wegen der Zufälligkeit dieser 
Verbreitungsart nicht, dass sie häufiger vorkommt; Buchwald 
jedoch hält sie für wichtiger.“ 

Ich denke doch, es wird niemand behaupten, dass auf diesem 
etwas gar zu seltsamen Wege eine Selektion wırksam sei. Man 
sollte kaum vermuten, dass derlei abgequälte Erklärungen im Ernste 
abgehandelt werden. 

S. 814. — „Chenopodium glaucum wurde vom Dompfaff 
angenommen, vom Stieglitz aber zurückgewiesen'*). 
Das Chenopodiaceen-Beet ist als Futterplatz bei Sperlingen recht 
beliebt.“ 

Noch klarer sprechen folgende Stellen dafür, dass die Ab- 
weisung auf Grund der Geschmacksspezialisation von vornherein, 
ehe noch ein Schutzmittel wırksam sein konnte, erfolgt. 

S. 825. — „Schwartz beobachtete oft, dass die Versuchstiere 
manche Samen schon beim bloßen Anblick verschmähten, ohne sie 
erst gekostet zu haben.“ 

„Vögel, welche von den gewöhnlichen ‚Körnern‘ leben, werden 
alle Samen, die nicht die Normalform eines ‚Kornes‘ haben, un- 
beachtet lassen!°), weil sie sie nicht als genießbar erkennen.“ 

Was ist dies wohl anders als die Bestätigung der weiter oben 
aufgestellten Behauptung, dass ein Tier nur seine Normalnahrung 
suche und annehme, alles andere aber gar nicht beachte?! 

„Auch Samen, die von der für jede Vogelart normalen Größe 
abwichen, fanden keine Berücksichtigung ''). Die klein- 
schnäbligen Körnerfresser kümmerten sich nicht im geringsten um 
die großen Samen der Eichen und Zirbelkiefer... Der Kreuz- 
schnabel verweigerte von Anfang an alle Samen, welche nicht 
größer waren als ein Hirsekorn .. .“ 

18* 


376 Heikertinger, Zur Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln ete. 


„Oft ist auch die Normalfarbe der Sämereien von ausschlag- 
gebender Bedeutung.“ (Der Kreuzschnabel bevorzugte dunkelbraune 
Körner, die Koniferensamen ähnelten, ließ dagegen hellgelbe liegen; 
Stieglitz und Hänfling wiesen lange Zeit trotz Hungers ein sonst 
gern gefressenes Futter zurück, als es blau gefärbt worden war. 
Auch durch Pikrinsäure hochgelb gefärbtes Futter wurde ohne 
Kostprobe verschmäht.) 

Diese Versuchsergebnisse zeigen klar, wie hoch die Ernährungs- 
spezialisation der Tiere gediehen ist und wie verfehlt es ist, alle 
möglichen Tiere mit allen möglichen Pflanzen einfach zusammen- 
zustellen und nun mit menschlichem Raten und Deuten ergründen 
zu wollen, wodurch das eine vor den anderen „geschützt“ ist. 

Als erste, wichtigste gegebene Tatsache muss die Ernährungs- 
spezialisation jeder einzelnen Tierart untersucht und kritisch in 
Rechnung gestellt werden, und zwar dies ehe überhaupt mit 
einem Fütterungsversuch auch nur begonnen wird. Jedem 
Tier darf nur die seinem natürlichen Geschmack entsprechende 
Spezialnahrung vorgelegt werden, sonst ist der Versuch ebenso 
wertlos, wie wenn man einem Menschen Gras und Regenwürmer 
vorlegen würde und untersuchen wollte, wodurch diese beiden vor 
ihm „geschützt“ sind. Sie sind sicher nicht „geschützt“, und er 


nimmt sie dennoch nicht an — einfach weil er sie nicht mag, weil 
sie nicht zu seiner normalen Nahrung gehören. 
S. 827. — „In Übereinstimmung mit der guten Ausbil- 


dung des Vogelauges'°) sind Schutzfarben äußerst wichtig, weil 
sie die Körner vor den Blicken der Vögel verbergen'*).“ 

Dementgegen möchte ich folgendes festlegen: 

Wenn ein scharfäugiges Tier — und die Scharfsichtigkeit 
stoßender Raubvögel, nächtlich jagender Eulen u. dgl. ist zuweilen 
eine für uns Menschen nahezu unfassbare — wenn ein scharfäugiges 
Tier sucht, dann findet es die Samen auch nach der Form alleın 
und bedarf der Hilfe der Färbung nicht. 

Wir nehmen ja auch im Grün der Wiese jede bestimmte Blatt- 
form wahr, wenn wir danach suchen, und wir sehen die unreifen 
Äpfel im gleichfarbigen Laub’ ganz gut, wenn wir überhaupt auf 
den Baum blicken. Unansehnliche Färbung mag einen Gegenstand 
vor einem achtlos Vorübergehenden verbergen, vor einem unab- 
lässig danach suchenden Spezialisten aber sicherlich nicht. 

S. 827. — „Selbstverständlich ist keine der genannten Schutz- 
einrichtungen vollkommen zuverlässig. Besonders die kleinen Samen 
und Früchte haben viel unter Vogelfraß zu leiden, aber 
diese Tatsache ist von größter Bedeutung einerseits für 
die Erhaltung unserer Körnerfresser im Winter... und 
anderseits für die Vernichtung zahlreicher Unkraut- 
samen!P).“ 


Heikertinger, Zur Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln ete. 277 


Ich möchte niemanden kränken — aber dieser Satz erscheint 
mir wie ein Bocksprung der Logik. Die Samen sind geschützt — 
aber wie gut ist es, dass sie nicht geschützt sind, weil dadurch 
die Körnerfresser ım Winter die nötige Nahrung finden und Un- 
kräuter vernichtet werden. 

Auch aus dem Anhange zur Arbeit des Autors — worin etliche 
Einrichtungen besprochen werden, die „ohne weiteres als Schutz- 
mittel gegen Tierfraß erkennbar sınd“ (S. 833), gegen Vögel aber 
nichts nützen, daher „anderen Tieren“ gegenüber wirksam sein 
müssen — ließe sich leicht eine Lese bedauerlicher Erzwungen- 
heiten herausgreifen. 

Nur etliche Beispiele. 

Auf S. 833 spricht der Autor von den Borstenhaaren im Innern 
der Rosenfrüchte. 

„Über die Funktionen dieser Haare ist meines Wissens bis 
jetzt nichts bekannt. Nach eingehender Untersuchung der Frage 
glaube ich ihre Bedeutung darin gefunden zu haben, dass 
sie als Schutzeinrichtung gegen Mäuse wirken"), welche 
unbefugterweise den harten Kernen (nicht dem Fleische!) der 
Hagebutten nachstellen.“ 

Ich kann mir mit aller redlichen Mühe nicht vergegenwärtigen, 
wie sich ein Unbefangener ernstlich das Entstehen der Borsten- 
haare in den Rosenfrüchten im Wege einer Selektion durch Mäuse 
vorstellt. Man halte sich vorurteilsfrei das Walten der Auslese 
vor Augen — und man wird nicht begreifen, wozu solche abge- 
quälte Unbedingtdeutungen nur ersonnen werden. Gedient ist doch 
niemandem damit, am allermindesten der Wissenschaft. 

Auf S. 834 wırd die Tannirhaltigkeit der peripheren Schichten 
mancher Samenschalen besprochen; gegen Vögel wirkt sie nicht, 
da diese die Früchte unzerkleinert verschlingen. 

„Die Bedeutung der geschilderten Einrichtungen erhellt viel- 
mehr aus Erfahrungen, die jedermann selbst schon gemacht hat. 
Wenn man beim Verzehren von Johannis-, Stachel- oder Wein- 
beeren zufällig einmal auf einen Kern beißt, nımmt man sofort 
einen intensiv bitteren und zusammenziehenden Geschmack wahr 
und hütet sich deshalb, ein zweites Mal einen Kern zu verletzen. — 
Ebenso dürfte es den Säugetieren beim Vertilgen solcher 
und ähnlicher Fleischfrüchte ergehen'®. Auf diese Art 
wird die drohende Vernichtung!‘) der Kerne durch Säugetiere 
vermieden...“ 

Zerbeißen wir und die Säugetiere (welche?) die Weinbeeren- 
kerne wirklich darum nicht, weil sie bitter sind? Und würden 
wir wirklich alle zerbeißen, wenn sie nicht bitter wären? Wurden 
wirklich alle nicht bitteren zerbissen und starben aus — nur so ist 
doch Selektion denkbar? Ich glaube, es kümmert sich kein Wein- 


278 Heikertinger, Zur Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln etc. 


trauben fressendes Tier um die Kerne dieser Früchte; es spuckt sie aus 
oder verschluckt sie, gleichgültig, ob sie bitter sind oder nicht, 
worauf sie sicher vielfach, wie beim Menschen, unverdaut den Darm 
passieren. Dass in diesem Falle irgendwo eine „drohende Ver- 
nichtung“, die durch Bitterwerden abgewehrt wird, gesehen werden 
könnte, wird jedem Unbefangenen befremdlich scheinen. 

Noch ein Beispiel für Annahmen und Beweise, die sich um 
sich selbst drehen. 


S. 835. — „Bei den unreifen Fleischfrüchten ist der Wert 
dieser Eigenschaften des Fruchtfleisches (es handelt sich um den 
Gehalt an schlechtschmeckenden oder giftigen Stoffen) völlig klar. 
Es darf nicht verzehrt werden, weil die Samen noch nicht die 
nötige Ausbildung erfahren haben. Schwieriger liegen die Verhält- 
nisse bei denjenigen reifen Früchten, welche den schlechten Ge- 
schmack bewahrt haben. Vielleicht soll der unbefugte Fraß ge- 
wisser Tiere verhindert werden, die das Fleisch stückchenweise 
vertilgen, ohne dabei die Kerne zu verbreiten; z. B. wäre an manche 
gefräßige Schneckenarten, mehrere Raupen, Würmer und einige 
kleinere Säugetiere zu denken. Die widerlich schmeckenden Arten 
haben vor den angenehmen den Vorteil, dass sie von solchen Tieren 
nicht angegangen werden können und trotzdem für Vögel genießbar 
bleiben. Allerdings ist dann ebensogut der befugte Fraß der Säuge- 
tiere unmöglich; wenn wir aber bedenken, dass schlecht schmeckende 
Fleischfrüchte gewöhnlich an Standorten wachsen, die nur für Vögel 
leicht erreichbar, für Säugetiere aber unzugänglich sind, so scheint 
dieser Einwand wesentlich gemildert zu sein.“ 

Wohl nicht zu mildern ist indessen der Einwand, dass wir mit 
solehen Betrachtungen nicht vorwärts kommen können, sondern 
nur ım Kreise gehen. 

Lassen wir es bei diesen Proben — deren wir ungezählte 
herausgreifen könnten — bewenden und zitieren wir, was der Autor 
zusammenfassend über die vorangegangenen Versuche, die unreife 
und halbreife Samen zum Gegenstande hatten, sagt. 

S. 320. — „Als Schutzmittel gegen unbefugten Vogelfraß ist 
die chemische Beschaffenheit also kaum zu deuten. Diese Fest- 
stellung ist insofern wichtig, als die chemischen Eigenschaften der 
reifenden Früchte wiederholt als Schutzeinrichtung gegen Vögel 
angesprochen wurden und gegenüber anderen Tieren!) (Säuge- 
tieren, Schnecken, Raupen) tatsächlich auch wirksam sind.“ 

Hier — beim Versagen der chemischen Schutzmittel — stellen 
sich wieder die typischen „anderen Tiere“ der Schutzmitteltheorie 
ein, um die Theorie zu retten. 

Was die reifen Samen anbelangt, so fasst sich bei diesen 
der Autor experimentell kürzer. 


Heikertinger, Zur Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln ete. 279 


S. 821. — „Größere Samen und (nichtfleischige!) Früchte aller 
Familien sind ıhrer gelblichen oder bräunlichen Farbe halber schlecht 
sichtbar und bieten wegen ihrer Härte dem Schnabel der Körner- 
fresser manche unüberwindliche Schwierigkeiten. — Kleine Samen 
und Früchte besitzen ebenfalls eine Schutzfarbe, sind aber oft nach- 
giebig und müssen massenhaft gebildet werden, damit eine 
genügende Anzahl am Leben bleibt. Von großer Bedeutung 
sind auch gute Verbreitungseinrichtungen . .. u. S. w. 

Das ist alles, restlos alles, was uns von den „Schutzeinrich- 
tungen“ der nichtfleischigen Samen und Früchte gegen „unbefugten“ 
Vogelfraß geblieben ist. 

Die chemischen Schutzmittel — Geruch, Geschmack, Giftig- 
keit — haben uns bei genauem Hinsehen vollkommen im Stiche 
gelassen. Nicht nur uns Zweifler, sondern auch den Forscher, der 
auszog, ihre Wirksamkeit zu erweisen. Auch die mechanischen 
Waffen — Haare, Stacheln und andere dräuende Gebilde — sind 
laut experimentell gewonnener Erfahrung desselben Forschers ın 
Anbetracht der Unempfindlichkeit der Mundhöhle der Vögel nicht 
als wirksame „Sehutzmittel“ anzusprechen. 

Bleibt uns nichts, nichts als die dürftigen Eigenschaften einer 
unansehnlichen Färbung und — nicht einmal für alle — einer 
harten Samenschale. 

Beide gewinnen uns wohl kaum mehr ab als ein zweifelndes 
Lächeln. 

Was die unansehnliche Färbung anbelangt, so denke ich da 
an die Spechte und Spechtmeisen, die ich im benachbarten Wald- 
parke des kaiserlichen Lustschlosses Schönbrunn so oft beobachtete. 
Ihre Nahrung ist nicht unansehnlich gefärbt — sie ist überhaupt 
unsichtbar. Sie ist verdeckt unter Baumrinde u. dgl. — und die 
Vögel finden sie doch! 

Wenn alle Tiere verhungern müssten, deren Nahrung nicht 
greli und auffällig gefärbt vor ihnen liegt — dann könnten wir 
den Umfang unserer Zoologiebücher wohl gewaltig reduzieren. 

Nein — jedes Tier weiß seine Normalnahrung zu finden, sie 
mag grellfarbig, schutzfarben oder überhaupt nicht sichtbar, ver- 
borgen in Holz oder Erde sein. Es hat ja den ganzen Tag nichts 
zu tun als seine Nahrung zu suchen. Überdies sehen und kennen 
ja die körnerfressenden Vögel schon von weitem die Pflanzen, deren 
Samen ihnen zur Nahrung dienen. Diese Samen unter den ihnen 
bekannten Pflanzen aufzupicken, haben sie Scharfblick und Zeit 
genug. 

Überdies beweist ein naiver Blick in die Natur: die unansehn- 
liche Färbung der Samen ist kein Hindernis, dass nicht ungemessene 
Vogelscharen diese Samen wirklich zu finden und von ihnen zu 
leben wüssten. 


280 Heikertinger, Zur Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln ete. 


Und gleiches gilt von der harten Samenschale. Die Samen 
werden gefressen trotz der harten Schale und wenn ein Same wirk- 
lich einmal für einen Vogel zu hart ist, so ist dies eben Zufall. 
Einen Vorteil gegenüber den anderen, gefressenen Samen aber hat 
der harte Same nicht, denn die Pflanzen mit weicheren Samen sind 
genau so existenzfähig wie die hartsamigen — und einzig und allein 
nur darum handelt es sich doch. Zudem sagt der Autor selbst, 
dass viele dieser Samen „nachgiebig“ seien. 

Nein — wir sind mit der ganzen Schutzmittelhistorie — man 
verzeihe das drastische Wort — Karussell gefahren und steigen 
nun, etwas schwindlig noch, ab. Und zum Absteigen reicht uns 
der Autor, der unsere Kreisfahrt geführt, unabsichtlich und unbe- 
wusst, selber dıe Hand. 

Er weiß es wohl nicht, dass er mit den Worten, die er dieser 
Schutzmittelzusammenstellung anfügte, das ganze Problem gelöst hat. 

y„:.. Sie müssen massenhaft gebildet werden, damit 
eine genügende Anzahl am Leben bleibt. 

Das ıst alles, das ganze Um und Auf der Lösung des Pro- 
blems — es ist der Satz von der „zureichenden Überpro- 
duktion“, den ich weiter vorne aufgestellt habe. 

Die „Schutzeinrichtungen“ aber sind endgültig versunken. 


* * 
* 


Und nun noch ein letztes Wort. 

Was verliert die Deszendenzlehre, wenn ihr die Schutzmittel- 
theorie genommen wird? 

Ich denke, wohl nichts. 

Dass es Dinge gibt, die man nicht mit Selektion erklären kann, 
hat die heutige Wissenschaft längst zur Kenntnis genommen. Dass 
es ein Substanzproblem gibt, eine unlösbare Frage nach dem Wesen 
der Materie und der Energien, und dass die unendliche Formen- 
und Farbenfülle der Natur ein Teil dieses unlösbaren Problems 
der Materie ist und bleiben wird -—— das konnte die biologische 
Wissenschaft wohl nur vorübergehend vergessen. Formen und 
Farben ohne Bedeutung weist uns das Mineralreich zur Genüge. 

Und der „Kampf ums Dasein“ darf kein Schlagwort sein, das 
uns blind für alles andere macht. Es ist nicht wahr: Die Pflanze 
kämpft gar nicht mit dem Tier, sondern sie zahlt kampflos einen 
Tribut. Und sıe kann ıhn zahlen, weil sie neben dem Tribut noch 
Individuen genug hat, die ihre Art in gleicher Fülle fortpflanzen. 

Und wenn wir die letzten Ursachen hereinziehen, die den 
Kampf der Theorien einst entfacht, die Ursache, warum die Selek- 
tionstheorie einst geschaffen wurde — nämlich das eifrige Ver- 
teidigen und Begründen der damals jungen, stark bekämpften Des- 
zendenztheorie — dann müssen wir uns wohl fragen, ob der Lärm 


4 
Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 351 


mit dem Selektionsproblem nicht heute schon etwas überlebt, zu 
spät, im Grunde schon zwecklos ist. 

Denn die Deszendenztheorie, die damals verteidigt werden 
musste mit allen Mitteln, sie ıst heute die unbeschränkte Herrscherin 
im Reiche der biologischen Wissenschaften. Wir brauchen nicht 
mehr zu fürchten, sie zu verlieren, auch wenn wir an die Allmacht 
der Selektion niımmermehr glauben wollen, auch wenn wir den 
Kampf ums Dasein in etwas anderem Lichte sehen als die nächst- 
vordere Forschergeneration. 

Wir dürfen uns frei fühlen und unbeschwert — das was an 
echten Werten die Naturwissenschaft des letzten Halbjahrhunderts 
errungen, die neue Blüte seit Darwin, das kann uns nicht mehr 
genommen werden und das nehmen auch wir ıhr nicht. Auch dann 
nicht, wenn wir manchen Auswüchsen der Selektionstheorie ent- 
gegentreten, auch dann nicht, wenn wir hinter Fragen, die beant- 
wortet schienen, wieder das alte, peinliche Fragezeichen setzen. 

Auch Zurückgehen kann ein Fortschritt sein, wenn es das 
Zurückgehen von einem Irrtum war. Und ein Fragezeichen an 
richtiger Stelle kaun tieferes Wissen sein als eine irrige Antwort. 


Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 
Ein Beitrag zur Entwicklungslehre. 


Zusammenfassende Darstellung der eigenen experimen- 
tellen Untersuchungen. 
Von Dr. Erich Toenniessen, 
Privatdozent für innere Medizin, Oberarzt der medizinischen Klinik. 
Aus der medizinischen Klinik zu Erlangen (Direktor: Geh. Hofrat Penzoldt). 


Robert Koch hatte ım Jahre 1878 durch Anwendung neuer 
Methoden den Beweis erbracht, dass das Reich der Mikroben aus 
verschiedenen Arten besteht, die ın ihren Eigenschaften konstant, 
artfest sind. Die Lehre von der Beständigkeit der verschiedenen 
Bakterienarten wurde durch ihn begründet und gelangte zunächst 
zur uneingeschränkten Geltung. Bald aber zeigte sich durch An- 
wendung der gleichen Methoden, dass innerhalb der Artfestigkeit 
eine sehr weitgehende Variabilität besteht. Eine außerordentliche 
Zahl von Arbeiten beschäftigte sich mit dieser Frage; nur einige 
seien angeführt, um den Gang der Forschung kurz darzulegen. 
G. Hauser war wohl der erste, der Variabilitätserscheinungen ein- 
wandfrei nachwies (1885) und eine Bresche in das starre Dogma 
legte. Später beschäftigte sich Kruse ausführlicher mit den Er- 
scheinungen der Variabilität und stellte in weitergehendem Maße 
Versuche über die Vererbung der erzielten Abänderungen an (1891). 
Neisser und Massini führten den von de Vries (1901) geschaffenen 
Begriff der Mutation in die Bakteriologie ein (1905) und gaben die 


289 Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität Dei Bakterien. 


Anregung zu mehreren Arbeiten auf diesem etwas enger begrenzten 
Gebiete. Die Gesichtspunkte der allgemeinen, in ihrem jetzigen 
Stande noch sehr jungen Vererbungslehre wurden jedoch erst ın 
den letzten Jahren auf die Bakterien angewendet. Dies geschah 
hauptsächlich durch Beijerinck, Baerthlein, Eisenberg und 
den Verfasser. 

Die Bakterien sind in mancher Beziehung sehr geeignet zu 
Vererbungs- und Variabilitätsversuchen. Zunächst sind sie leicht 
als erblich-einheitliches Material, als „reine Linie“ zu gewinnen. 
Die Generationen folgen sehr rasch aufeinander, so dass in kurzer 
Zeit eine große Zahl von Generationen überblickt werden kann. 
Die Lebensbedingungen sind sehr einfach: die Bakterien sind daher 
die am leichtesten zu züchtenden Lebewesen, an denen sich die 
Einwirkung äußerer bekannter Reize durch die Erscheinungen der 
Variabilität und Vererbung beobachten lässt. Man kann verhältnis- 
mäßig intensive Einflüsse zur Herbeiführung der Variationen an- 
wenden, ohne dass die Vitalität geschädigt wird. Dass die Bakterien 
wegen ihres einfachen morphologischen Verhaltens und der an- 
scheinenden Einfachheit ihrer sonstigen sichtbaren Eigenschaften 
sich schlecht zur Beobachtung von Variabilitätserscheinungen eignen, 
wie schon behauptet wurde, ist nicht zutreffend; im Gegenteil sind 
sie zu sehr auffallenden und vielseitigen Abänderungen befähigt. 

Der Verfasser wurde durch eine zunächst unwillkommene Be- 
obachtung veranlasst, sich an dieser Forschung zu beteiligen. Bei 
dem Versuch, den im folgenden erwähnten pathogenen Bakterien- 
stamm rein zu gewinnen, fanden sich bei der Kultivierung auf dem 
Schrägagar stets wieder Teile des Bakterienrasens, welche sich in 
ihrem Aussehen von dem übrigen weitaus größeren und typischen 
unterschieden und sich aus morphologisch stark abweichenden Indi- 
viduen zusammensetzten. Diese atypischen Teile wurden zunächst 
für eine Verunreinigung der Kultur gehalten, obwohl sie auch nach 
den Tierpassagen immer wieder auftraten, bis sich endlich ergab, 
dass sie unter bestimmten Bedingungen ganz gesetzmäßig aus dem 
Typus entstanden. Es handelte sich also um eine Variation und 
zwar, wie Variabilitäts- und Vererbungsversuche ergaben, um eine 
Mutation. Im Laufe der ziemlich langwierigen Versuche wurden 
noch zwei andere Variationsformen Bereit, Die Ergebnisse sind 
in mehreren Mitteilungen beschrieben. Als ich : einzelnen 
Varıationsformen nen genau untersuchte, fand ich, dass 
jede neu aufgefundene Variation auch für die vorher gewonnenen 
Resultate neue Gesichtspunkte ergab und dass die Eigentümlich- 
keiten der einzelnen Variationsformen erst durch ihre Gegensätze 
zu den anderen Variationen klar erkannt werden können. Aus 
diesem Grunde scheint mir eine zusammenfassende Darstellung 
meiner Befunde nicht überflüssig. 


Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien, 98 
U 


Allgemein-biologische Grundbegriffe. 

Einige allgemein-biologische Grundbegriffe seien insoweit vor- 
ausgeschickt, als sie für die Beurteilung der experimentell aufge- 
fundenen Tatsachen ın Betracht kommen. Es ist dies notwendig, 
um meine Auffassung der Befunde zu begründen und auch um die 
angewendete Nomenklatur klarzustellen. Die Nomenklatur der Ver- 
erbungsforschung ist leider durchaus nicht einheitlich. Wenn ich 
außerdem auch auf einige Fragen kurz eingegangen bin, die zu 
meinen Befunden nicht in unmittelbarster Beziehung stehen, so ge- 
schah dies einerseits, weil ich eine kurze kritische Zusammenstellung 
dieser Fragen in Beziehung zu neuen Befunden schon durch die in 
der Vererbungslehre herrschende Divergenz der Meinungen für ge- 
nügend begründet halte, andererseits weıl sich bei dem Durchdenken 
meiner Befunde auch einige z. T. neue Anregungen allgemein-bio- 
logischer Art ergeben haben. 

Der Artbegriff. Die „reine Linie“. Die Vererbungs- 
forschung befasst sich mit den Gesetzen der Beständigkeit und Ver- 
änderlichkeit der Arten, ıhre Folgerungen haben den Artbegriff zum 
Gegenstand. Bei dem Versuch, sich über den Artbegriff eine klare 
Vorstellung zu bilden, hat man zwei Gesichtspunkte zu berück- 
sichtigen. Die Systematik fasst auf Grund der unmittelbaren Be- 
obachtung den Artbegriff morphologisch-physiologisch und bezeichnet 
— wobei ich mich besonders an Plate’s Definition halte — als 
Art jede Vielheit von Individuen, die ın ihren sichtbaren Eigen- 
schaften innerhalb eines gewissen Spielraumes gleich sind, sich 
untereinander fortpflanzen und deren Nachkommen wiederum in 
einem gewissen Spielraum die gleichen Eigenschaften wie die Eltern 
besitzen. Dagegen ist der Begriff der „natürlichen Art“ ein gene- 
tıscher und ın der Deszendenztheorie begründet. Wir nehmen an, 
dass die jetzigen Arten sich aus anderen Arten, sogen. Vorstufen, 
entwickelt haben und zwar, dass verwandte Arten aus gemeinsamen 
Vorstufen entstanden sind. Wir bezeichnen demnach als natür- 
liche Art jede Generationsfolge von Individuen, die sich früher 
oder später von einer solchen gemeinsamen Vorstufe abgespalten 
und eine selbständige Entwicklungsrichtung eingeschlagen hat — oder 
kürzer gesagt: eine genetische Einheit von Individuen. Es ist ohne 
weiteres einleuchtend, dass als Endprodukte der phylogenetischen 
Entwicklung unter dem Einfluss ähnlicher Außenbedingungen vıele 
äußerst ähnliche natürliche Arten entstehen konnten, welche ın 
morphologisch-physiologischer Beziehung kaum zu trennen sind und 
demgemäß nur eine einzige systematische Art bilden. Die syste- 
matische Art schließt also, wie besonders de Vries und Johannsen 
betont haben, ein Gemenge natürlicher Arten ein. Sie stellt eine 
Kollektivart dar, deren Abgrenzung gegen andere Arten ohne eine 
gewisse Willkür gar nicht möglich ist. 


284 Toenniessen, Uber Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 


Bei sexuell sich fortpflanzenden Arten wird der Artbegriff noch 
weiter kompliziert durch die Möglichkeit der Kreuzung mit ver- 
wandten natürlichen Arten; die Generationsfolge bleibt also nicht 
einheitlich in sich geschlossen und es kommt dadurch zur Ent- 
stehung komplizierter Polyhybride. Der Artbegriff lässt sich hier 
also auch durch Verwendung deszendenztheoretischer Gesichtspunkte 
nicht scharf umgrenzen (Plate), so dass er bei vielen höheren Arten 
nur systematisch, etwa nach der Definition Plate’s noch am 
schärfsten zu präzisieren ist. 


Bei den asexuellen Arten, wie den Bakterien, lässt sich da- 
gegen der Begriff der natürlichen Art aufrecht erhalten: denn bei 
diesen ist eine Kreuzung verwandter Arten unmöglich und die 
natürlichen Arten bleiben vom Zeitpunkt ihrer Entstehung an in 
sich geschlossen. 


Die Erkenntnis, dass die Arten der Systematik zum mindesten 
ein Gemenge vieler natürlicher Arten, bei den sexuellen Arten oft 
sogar eine außerordentlich komplizierte Kreuzung natürlicher Arten 
enthalten, ist für die Methodik der experimentellen Variabilitäts- 
forschung von fundamentaler Bedeutung. Denn es ist klar, dass 
wir zum Studium der Veränderlichkeit einer Art erblich einheit- 
liches Material verwenden müssen, da sonst eine anscheinend experi- 
mentell erzielte Veränderung durch Eigenschaften einer anderen 
beigemischten Art (bei Bakterien durch eine sogen. „Verunreinigung“ 
der Kultur) oder bei den Polyhybriden der höheren Arten auf un- 
gleicher Vererbung einer Kombination von Eigenschaften (den 
Mendel’schen Gesetzen entsprechend) beruhen kann. Die erste 
Aufgabe vor Anstellung von Versuchen ist also die Gewinnung 
erblich einheitlichen Materials. Wie dies bei höheren Arten erreicht 
wird, braucht hier nicht erörtert zu werden. Bei Bakterien er- 
halten wir erblich einheitliches Material relativ einfach dadurch, 
dass wir uns eine Reinkultur herstellen. Dies gelingt durch das 
Burri’sche Tuscheverfahren oder mit genügender Sicherheit durch 
wiederholte Plattenisolierungen (Eisenberg, Baerthlein). Eine 
solche Kultur entspricht dem von Johannsen aufgestellten Be- 
griff der „reinen Linie“: „eine reine Linie ist der Inbegriff aller 
Individuen, welche von einem einzelnen, absolut selbstbefruchtenden, 
homozygotischen Individuum abstammen.* 


Bei den höheren Arten (speziell beim Menschen) ist das Ar- 
beiten mit reinen Linien selten bezw. nie möglich, da es sich meist 
um komplizierte Polyhybride handelt. Die nach Einwirkung eines 
bekannten äußeren Reizes eintretende Variation ist also nicht nur 
von dem bekannten Reiz, sondern auch von unbekannten inneren 
Faktoren (Variation durch mendelnde Eigenschaften) abhängig. Bei 
reinen Linien ist dagegen die Variation eindeutig durch den äußeren 


Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 985 


Reiz bestimmt. Demnach ıst das Verhalten reiner Linien „die 
erste Grundlage für die Erblichkeitslehre* (Johannsen). 

Selbstverständlich sind die bei Bakterien zu beobachtenden 
Gesetzmäßigkeiten nicht ohne weiteres auf die höheren Tiere zu 
übertragen; immerhin können sie zu neuen Fragestellungen und 
Gesichtspunkten führen, wenn die vergleichend-physiologische Me- 
thode mit richtiger Kritik geübt wird. 

Vererbung und Variabilität. Die Vererbungsforschung 
nimmt an, dass die Artmerkmale durch irgend eine, allen Indi- 
viduen der Art gemeinsame, innere Ursache fixiert sind und bei 
der Fortpflanzung von den Eltern durch die gleiche Ursache auf 
die Nachkommen übertragen, vererbt werden. Diese Vererbung 
geschieht bei den sexuellen Lebewesen durch Vermittlung der Keim- 
zellen, bei den asexuellen durch das Soma der Eltern unmittelbar 
— jedoch nur anscheinend, wie sich aus folgendem ergeben wird — 
oder ganz allgemein gesagt: durch eine „Vererbungssubstanz“. 
Nägeli hat für diese Substanz die Bezeichnung ldioplasma einge- 
führt. Weismann hat ım Anschluss an den von ihm geschaffenen 
Unterschied zwischen Soma und Keimzellen die Vererbungssubstanz 
Keimplasma genannt und zunächst angenommen, dass das Keim- 
plasma nur in den Keimzellen vorhanden sei. Auf der Kontinuität 
des Keimplasmas beruht nach W eis mann die Beständigkeit der Arten. 

Auf Grund neuerer Befunde müssen wir jedoch annehmen, dass 
zwischen den sexuellen Lebewesen mit differenzierten Keimzellen 
und den asexuellen ohne differenzierte Keimzellen, z. B. den Bak- 
terıien, hinsichtlich der Zusammensetzung aus Soma und Keim- 
plasma ein prinzipieller Unterschied nicht vorliegt. Denn erstens 
besitzen die sexuellen Lebewesen neben ihrer differenzierten Keim- 
bahn auch ın ihren Körperzellen, d. h. in ihrem Soma Keimplasma 
(Roux, 13), so dass man ein generatives und somatisches Keim- 
plasma unterscheiden muss (wie zuletzt auch Weismann zuge- 
geben hat); andererseits kommt, wie neuere Untersuchungen be- 
sonders Swellengrebel’s zeigen, auch bei den Bakterien (zunächst 
bei Sporenbildnern, nämlich Milzbrand, nachgewiesen) für die Fort- 
pflanzung nicht das ganze Soma der Elternzelle ın Betracht, sondern 
nur ein vom Oytoplasma und dem zentralen Chromatinfaden sich 
abtrennender Teil, und zwar wird ein Teil der Vererbungssubstanz 


zur Sporenbildung verwendet — er ist gewissermaßen morpho- 
logisch differenziertes Keimplasma — ein anderer Teil bleibt ım 


Soma zurück und kann durch Teilung des Somas zur Vererbung 
führen; er ist das Analogon zum somatischen Keimplasma der Lebe- 
wesen mit differenzierter Keimbahn. Es handelt sich demnach nur 
um einen graduellen Unterschied, der darin besteht, „dass der ma- 
terielle Zusammenhang zwischen zeugenden und erzeugten Indi- 
viduen bei der ungeschlechtlichen Fortpflanzung viel inniger ist 


286 Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 


und viel länger dauert als bei der geschlechtlichen“ (Haeckel, 3). 
Auf Grund des Vorstehenden könnte man auch bei den Bakterien 
den Begriff des Keimplasmas den Vererbungsvorgängen unbedenk- 
lich zugrunde legen. Ich möchte jedoch der Bezeichnung Idio- 
plasma den Vorzug geben: denn das Wort Idioplasma ist eine ein- 
heitliche Bezeichnung für die Vererbungssubstanz und betont außer- 
dem die Arteigentümlichkeit der Vererbungssubstanz. 

Das Idioplasma enthält die Artmerkmale nicht als solche fertig 
ausgebildet, sondern in irgendeiner anderen Weise ursächlich fixiert. 
Wir nehmen an, dass die Artmerkmale als „Anlagen“ in der Ver- 
erbungssubstanz enthalten sind, und zwar, dass den einzelnen Art- 
merkmalen bestimmte Anlagen entsprechen. Der Begründer dieser 
Theorie ist Darwin (Pangenesistheorie). Durch die Mendel’schen 
Forschungen hat die Darwin’sche Theorie sehr an Wahrschein- 
lichkeit gewonnen und wir können es jetzt als eine Grundanschauunng 
für die Vererbungsforschung betrachten, dass die einzelnen Art- 
merkmale bestimmten Anlagen entsprechen und also die Vererbungs- 
substanz aus emzelnen Erbeinheiten zusammengesetzt ist. Diese 
besitzen unter Umständen eine beträchtliche Selbständigkeit und 
können bei Kreuzungen sogar selbständig abgespalten werden. 
Natürlich können wir uns keine bestimmte Vorstellung über die 
Struktur dieser Anlagen machen: aber die Annahme substantiell 
bedingter Erbeinheiten erscheint begründet. Lediglich eine „Fähig- 
keit“ der Vererbungssubstanz zur Bildung der Artmerkmale anzu- 
nehmen ist etwas selbstverständliches und keine Erklärung, wie 
auch Plate sagt. Im Laufe der Forschung sind für diesen Begriff 
mehrere Namen geprägt worden: Gene (Johannsen), Erbeinheiten 
(Baur), Faktoren (Plate), Pangene (Darwin, de Vries), Deter- 
minanten (Weismann), Anlagen (O. Hertwig). 

Unter gleichbleibenden Bedingungen zeigen die Artmerkmale 
große Beständigkeit. Da die Artmerkmale bei der Ontogenese aus 
den Anlagen in ıhrer späteren Form schon gebildet werden, bevor 
sie durch adäquate äußere Reize hervorgerufen sein können 
(O. Hertwig), so folgt, dass die Umwandlung der Anlagen in die 
Artmerkmale aus inneren Gründen geschieht, nämlich aus dem Ver- 
mögen, sich in der für die Art charakteristischen Weise zu ent- 
wickeln. Dieses Beharrungsvermögen der Anlagen muss 
als die Ursache der Vererbung angesehen werden. 

Durch Einwirkung äußerer Reize kann aber die Entwicklung 
der Anlagen beeinflusst werden, sobald die Stärke des einwirkenden 
Reizes das Beharrungsvermögen der Anlagen übertrifft. Hierbei 
sind adäquate Beziehungen vorhanden. Die Anlagen besitzen dem- 
nach die Fähigkeit, auf äußere Reize zu reagieren. Diese Re- 
aktıonsfähigkeit des Idıioplasmas auf äußere Reize ist die 
Ursache für die Variabilität. 


Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 987 


Dies ist noch näher zu erörtern. Zunächst der Begriff der Ursache. Um den 
Begriff der Ursache ist in den letzten Jahren ein besonders lebhafter Streit ent- 
brannt. Den Ursachenbegriff ganz zu eliminieren, wie es die Anhänger des „Kon- 
ditionismus“ tun und einen Vorgang lediglich als einen Komplex von Bedingungen 
zu erklären, halte ich nicht für richtig. Bedingungen ermöglichen einen Vorgang 
nur, höchstens modifizieren sie ihn: „wirkende Bedingungen sind sprachlich und 
sachlich ein Unding‘“ wie Martius (Das Kausalproblem in der Medizin, Beiheft V 
der med. Klinik 1914) sehr richtig betont. Denn sie sind mit dem Begriff der 
Ursache verbunden. Wollten wir den Ursachenbegriff als mystisch ganz eliminieren, 
so müssten wir auch den Begriff der Kraft, der potentiellen und kinetischen Energie 
in der Physik und Chemie, ja sogar den der Funktion im Sinne der höheren Mathe- 
matik eliminieren Niemand wird behaupten können, dass dies mystische Begriffe 
sind. Ich fasse den Ursachenbegriff energetisch auf wie Martius. In diesem 
Sinne ist die Ursache für einen Vorgang ein materielles Substrat mit der ihm inne- 
wohnenden latenten Energie; die Äußerung dieser Energie (= Ablauf des Vorgangs) 
erfolgt durch den auslösenden Faktor, sämtliche äußere und innere Umstände, die 
auf die Entstehung und den Ablauf des Vorganges irgendeinen Einfluss auszuüben 
imstande sind, werden als Bedingungen bezeichnet. 

Weiterhin möchte ich bemerken, dass zur Erklärung der Vererbung zwar un- 
bedingt ein Beharrungsvermögen der Anlagen zur Bildung der gleichen Artmerk- 
male wie bei den Eltern angenommen werden muss. Doch kann die Bildung der 
Artmerkmale nicht allein auf ein Beharrungsvermögen der Anlagen zurückgeführt 
werden, etwa derart wie beim Wachstum einer Zelle lediglich durch die Teilung 
wieder die gleichen Zellen entstehen. Sonst wäre ja keine Differenzierung zu ver- 
schiedenen Zellen und Organen möglich. Wir müssen also annehmen, dass bei der 
Vererbung die Umsetzung der Anlagen in die Artmerkmale durch irgendwelche 
Reizwirkungen beeinflusst wird (Theorie der Biogenesis von O. Hertwig) und dass 
also eine Reaktionsfähigkeit des Idioplasmas auf Reize nicht nur bei der Variation, 
sondern auch bei der Vererbung beteiligt ist: Die Reize, welche bei der Vererbung 
neben dem Beharrungsvermögen der Anlagen zur Bildung der Artmerkmale führen, 
sind hauptsächlich innerer Art, wie durch die Wirkung bestimmter Drüsen mit 
innerer Sekretion bewiesen ist. Diese Reize sind die gleichen wie bei den Eltern, 
infolgedessen ist auch das Anlageprodukt das gleiche. Außerdem lässt sich auch 
die Wirkung äußerer Reize nicht ausschließen: sie entsprechen bei der unveränderten 
Vererbung der Artmerkmale dem für die Art charakteristischen Milieu. Bei der 
Variation kommen dagegen neue äußere Reize dazu: infolgedessen wird das Anlage- 
produkt abgeändert, während es lediglich auf Grund des Beharrungsvermögens der 
Anlagen und der Einwirkung der bisherigen Reize das gleiche geblieben wäre. Doch 
spielt auch bei der Variation das Beharrungsvermögen der Anlagen eine wesentliche 
Rolle; denn nicht alle Artmerkmale werden durch irgend einen neuen äußeren Reiz 
abgeändert, die meisten werden unverändert vererbt. Auch wirkt der Reiz nur insoweit 
variierend, als er das Beharrungsvermögen der Anlagen überwindet. Es zeigen sich 
also bei dem Vorgang der Vererbung die gleichen Energieformen des Idioplasmas 
beteiligt wie bei der Variation. nämlich einerseits ein Beharrungsvermögen, anderer- 
seits die Fähigkeit, auf Reize äußerer und innerer Art zu reagieren. In dieser Be- 
ziehung sind Vererbung und Variation nahe verwandte Vorgänge, die Variation nur 
eine durch äußere Reize modifizierte Vererbung. 

Hienach ist die Vererbung vom Kausalitätsstandpunkt folgendermaßen zu 
analysieren. Ursache der Vererbung ist die Vererbungssubstanz hauptsächlich auf 
Grund ihres Beharrungsvermögens, sich in den Nachkommen ebenso zu entwickeln 
wie in den Eltern, außerdem auf Grund ihrer Reaktionsfähigkeit gegenüber äußeren 
und inneren Reizen, der auslösende Faktor sind die gleichen inneren und äußeren 
Reize, die bisher auf die Entwicklung und das Leben der Art eingewirkt haben, 
3edingungen sind das Wachstum und sämtliche Umstände, welche das Wachstum 
ermöglichen. — Ursache für die Variation ist ebenfalls das Idioplasma, jedoch haupt- 


258 Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 


sächlich auf Grund seiner Reaktionsfähigkeit auf äußere Reize, weniger auf Grund 
seines Beharrungsvermögens, auslösender Faktor ist ein neuer äußerer Reiz, Be- 
dingungen sind wiederum alle Umstände, welche das Wachstum und das Leben 
der Generationsfolge ermöglichen. Man ist also gezwungen, für den Vorgang der 
Vererbung mehrere Ursachen anzunehmen; dies erklärt sich daraus, dass der Vor- 
gang der Vererbung in Wirklichkeit kein einziger, einheitlicher Vorgang ist, sondern 
sich aus mehreren Vorgängen zusammensetzt. Ebenso ist es bei der Variation 
Grundformen der Variabilität. Die experimentell herbei- 
geführten Variationen zeigen in der Art und Weise, wie sie äußer- 
lich in Erscheinung treten, regelmäßig wiederkehrende Gesetzmäßig- 
keiten, auf Grund deren man verschiedene Formen der Variation 
scharf voneinander trennen kann. Die von mir beobachteten Varia- 
tionen unterschieden sich durch den sichtbaren Variationseffekt, 
durch ihre Entstehungsweise und hauptsächlich durch den Grad 
ihrer Erblichkeit. Es zeigte sich, dass die Erblichkeit zwar nicht 
zur absoluten Trennung der Variationen in erbliche und nicht erb- 
liche brauchbar war, da sich die Varianten nicht prinzipiell, sondern 
nur dem Grade nach hinsichtlich der Erblichkeit unterschieden. 
Diese Unterschiede waren aber sehr scharf und ermöglichten es, 
die der sichtbaren Variation zugrunde liegende Veränderung des 
Idioplasmas zu analysieren. Auf Grund meiner Befunde kam ich 
in teilweiser Übereinstimmung mit den bisherigen Resultaten der 
Variabilitätsforschung zu folgender Einteilung der Variationsformen: 


1. Die Modifikation. Eine Erbeinheit wird derartig beeinflusst, 
dass sie ihr Produkt, das fertige Artmerkmal ın veränderter Weise 
(irgendwie modifiziert dem Grade oder der Art nach) bildet, ohne 
sich dabei selbst zu ändern. 


2. Die Mutation. Eine Erbeinheit wechselt ihren Zustand von 
Aktivität. Sie wird völlig inaktiv: retrogressive Mutation, wodurch 
das Artmerkmal in den betreffenden Generationen verschwindet, 
oder sie wird aus latentem Zustand wieder aktıv: progressive 
Mutation. 

3. Die Fluktuation. Sie führt als retrogressive Fluktuation zu 
einem Verlust, als progressive zu einem Gewinn von Erbeinheiten. 


4. Die Kombination. Bei sexueller Fortpflanzung zweier art- 
verschiedener Eltern entsteht eine erbliche Verschiedenheit der 
Nachkommen gegenüber den Eltern. Diese durch Vermischung 
ungleicher Erbsubstanz entstehende Variation richtet sich nach den 
Mendel’schen Gesetzen. Zur Entstehung neuer Erbeinheiten führt 
sie unmittelbar nicht. Für Bakterien kommt sie, da sich diese 
asexuell fortpflanzen, nicht in Betracht. 

Vorstehende Einteilung stimmt mit der von Beijerinck ge- 
gebenen überein, jedoch nur äußerlich. Denn hinsichtlich der Modi- 
fikation und der Fluktuation kam ich zu einer wesentlich anderen 
Auffassung. Auch gegenüber manchen anderen heutzutage ver- 


Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 389 


breiteten Anschauungen ergaben sich Differenzen; die Begründung 
meiner Auffassung wird an der Hand der Tatsachen erfolgen. 

An dieser Stelle möchte ich die Begriffe Phaenotypus und 
Genotypus kurz erwähnen, welche Johannsen in die Vererbungs- 
forschung eingeführt hat. Diese Begriffe gehen von der Tatsache 
aus, dass sich eine Art ın ihren sichtbaren Eigenschaften ändern 
kann, ohne dass sich die den sichtbaren Eigenschaften zugrunde 
liegenden Erbeinheiten zu ändern brauchen. Als Phaenotypus wird 
das Gesamtbild der äußerlich sichtbaren Eigenschaften einer Art 
bezeichnet, der Genotypus entspricht der wirklichen Zusammen- 
setzung einer Art aus den einzelnen Erbeinheiten (Biotypus ist die 
Gesamtheit der Individuen des gleichen Genotypus). Phaenotypische 
Änderungen brauchen demnach keiner genotypischen Änderung zu 
entsprechen: die etwaige gleichzeitige Abänderung des Genotypus 
ist erst durch Vererbungsversuche festzustellen. 

Die biologische Bedeutung der experimentell er- 
zielten Variationen. Die Vererbung erworbener Eigen- 
schaften. Die wichtigste Frage bei der Beurteilung einer Variation 
ist unstreitig die: führt die Variation zur Überschreitung der Art- 
grenzen, kommt sie für die Entstehung neuer Arten in Betracht? 
Das Wesentliche der Artumbildung besteht bekanntlich darin, dass 
eine Art eine neue Eigenschaft erwirbt, welche erblich ist, d.h. 
im Idioplasma als Anlage fixiert wird. Auch durch den Verlust 
einer Erbeinheit kann eine Artumbildung eintreten. Infolgedessen 
können die Modifikation und die Mutation als artbildende Varıations- 
formen nicht gelten, da hierbei die vorhandenen Erbeinheiten den 
veränderten Außenbedingungen entsprechend sich nur anders äußern 
bezw. ihren Zustand der Aktivität wechseln Die Fluktuation da- 
gegen bringt, wie man aus ihrer außerordentlich hohen Erblichkeit 
schließen kann, mit großer Wahrscheinlichkeit einen Verlust bezw. 
Gewinn von Erbeinheiten mit sich. Die experimentelle Auffindung 
dieser neuen Variationsform veranlasst mich, meine Befunde mit 
dem Problem der Artumbildung in Beziehung zu bringen und kri- 
tisch zu der Möglichkeit der experimentellen Erzielung vererbbarer 
Eigenschaften — oder wie meist formuliert: der Vererbung er- 
worbener Eigenschaften -— Stellung zu nehmen. 

Wollen wir entscheiden, ob durch einen bekannten äußeren 
Reiz die Entstehung einer neuen Erbeinheit herbeigeführt werden 
kann, so müssen wir uns zunächst über die Rolle der äußeren Reize 
bei dem Gewinn nener Erbeinheiten klar sein, so weit dies auf 
Grund der bisher bekannten Tatsachen möglich ist. Die Beobach- 
tung zeigt uns, dass viele der jetzt vorhandenen Artmerkmale er- 
kennbare Beziehungen zu „adäquaten“ Reizen aufweisen. Der Bau 
der Sehorgane z. B. wäre ohne den Einfluss von Lichtstrahlen un- 
verständlich. Jedoch ist es nicht möglich, durch Anwendung be- 

xXXXV. 19 


J90 Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 


stimmter äußerer Reize beliebig die Entstehung neuer vererbbarer 
Eigenschaften zu bewirken. Die wesentliche Ursache für die Ent- 
stehung neuer Erbeinheiten ist infolgedessen nicht in äußeren Reizen, 
sondern in endogenen, der lebenden Substanz innewohnenden Eigen- 
schaften zu suchen. Diese bestehen zunächst in der Fähigkeit der 
lebenden Substanz und hauptsächlich des Idioplasmas, auf äußere 
Reize zu reagieren — wie schon als Ursache der Variation im all- 
gemeinen erwähnt wurde. Für die erbliche Erwerbung einer 
neuen Eigenschaft muss weiterhin die Fähigkeit des Idioplasmas 
vorausgesetzt werden, ein neu aufgetretenes, in Beziehung zu äußeren 
Reizen entstandenes Artmerkmal als Anlage in sich zu fixieren. 
Dies geschieht für unsere Wahrnehmung unter dem Gewinn neuer 


Funktionen und im Sinne des Fortschrittes. 

Diese Annahme, welche dem Nägeli’schen Prinzip der Progression entspricht, 
scheint mir die natürlichste Erklärung für die Ursache der Fortentwicklung der 
Arten zu sein: das Nägeli’sche Prinzip enthält keinen mystischen, teleologischen 
Begriff (wie auch O. und R. Hertwig betonen), sondern sucht die Entwicklung 
der Arten energetisch zu erklären. Wenn wir mit Haeckel (generelle Morphologie 
der Organismen, 2) annehmen, dass lebende Substanz in einem gewissen Stadium 
der Erdentwicklung aus anorganischen Vorstufen einmal entstanden sein muss — was 
auf Grund des heutigen Standes der Naturwissenschaften ein „logisches Postulat“ 
(R. Hertwig) ist — so ist das Nägeli’sche Prinzip der Progression nur die Fort- 
setzung zu dieser Theorie Haeckel’s. Von diesem Standpunkt aus ist die für uns 
im Sinne eines Fortschrittes erfolgende Differenzierung der Lebewesen zu immer 
komplizierteren Arten zurückzuführen auf die Außerung einer Energieform. welche 
schon für die Entstehung der lebenden Substanz aus anorganischen Vorstufen maß- 
gebend war und deren weitere Einwirkung die Fortentwicklung der lebenden Sub- 
stanz verursachte. Es handelt sich also um einen Vorgang, der, auf Grund dieser 
Energie einmal in Gang gekommen, weiter fortschreitet so lange eben die Differen- 
zierungsfähigkeit der lebenden Substanz auf Grund ihrer physikalisch-chemischen 
Konstitution ausreicht. Natürlich können wir diese, die Entwicklung der lebenden 
Substanz verursachende Energieform ebensowenig wie alle Formen latenter oder 
kinetischer Energie, der sogen. „Kräfte‘‘ ihrem Wesen nach erkennen; wir müssen 
sie aber ihren experimentell zu beobachtenden Außerangen und Gesetzmäßigkeiten 
nach als vorhanden, „gegeben“ hinnehmen. 

Neben dieser inneren Entwicklungsfähigkeit spielen aber bei 
dem Gewinn neuer Eigenschaften äußere Reize eine wichtige Rolle. 
Denn die morphologische und funktionelle Entwicklung der Organe 
ist durch die Eigenschaften der adäquaten Reize, beim Auge z. B. 
durch optische Gesetze, bestimmt. Man muss also annehmen, dass 
äußere Reize bei der Erwerbung neuer Eigenschaften stets beteiligt 
sind, auch wenn sie diese Eigenschaften nicht „unmittelbar be- 
wirken“, sondern nur auslösende oder modifizierende Faktoren sind. 

Auch die Selektion kann unmittelbar keine neuen Erbeinheiten 
hervorrufen; sie schafft nur ein Übergewicht der ım Kampfe ums 
Dasein tüchtigeren Formen und Individuen. Hierdurch kann aller- 
dings die weitere Entwicklung der Art im Sinne eines Fortschrittes 
begünstigt oder wenigstens ermöglicht werden, weil die Selektion 
dysgenetische Faktoren, die bei der Vererbung eine Neigung zur 


Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 291 


Kumulierung zeigen, ausschaltet. Ebenso schafft die Bastardierung 
unmittelbar keine neuen Erbeinheiten, sondern nur eine neue Kom- 
bination schon vorhandener Erbeinheiten. Trotzdem möchte ich 
den indirekten Einfluss der Selektion und der Bastardierung bei 
der Entstehung neuer Erbeinheiten nicht unterschätzen. Denn der 
Gewinn neuer Eigenschaften ist auf Grund einer inneren Fähigkeit 
bedingt durch den jeweils erreichten inneren Zustand einer Art ın 
steter Beziehung zu äußeren Reizen. Dieser innere Zustand ist 
sicher durch Selektion und Bastardierung beeinflussbar, wie in vor- 
stehendem kurz angedeutet. 

Die Vererbung erworbener Eigenschaften müssen wir aus all 
dem als eine Grundbedingung für die Entwicklung der Arten vor- 
aussetzen. Dies gilt aber nur für die Eigenschaften, die zwar ın 
Beziehung zu äußeren Faktoren, aber auf Grund endogener Fähig- 
keiten entstanden sind, nicht aber für solche Eigenschaften und 
Veränderungen, die beliebig durch äußere Reize (wie durch Ge- 
brauch oder Nichtgebrauch) allein bewirkt werden können. Diese 
spielen sich innerhalb der Reaktionsbreite der Art ab und führen 
nicht zur Veränderung der Vererbungssubstanz. 

Daraus geht hervor, dass wir durch äußere Reize nur dann 
eine neue erbliche Eigenschaft hervorrufen können, wenn wir durch 
den äußeren Reiz eine adäquate, aber noch nicht zur Bildung einer 
Erbeinheit fortgeschrittene Differenzierungsfähigkeit des Idioplasmas 
treffen. Es erscheint infolgedessen außerordentlich erschwert, ex- 
perimentell eine neue erbliche Eigenschaft zu erzielen. Die äußeren 
Reize, wie sie jetzt auf die Lebewesen einwirken, sind sich seit 
langen Zeiträumen, die weit den Bereich der experimentellen For- 
schung überragen, gleich geblieben. Soweit also eine Differen- 
zierungsfähigkeit unter Anpassung an die jetzigen Reize möglich 
war, ist sie entweder schon zu dem ıhr möglichen Ende gekommen 
oder schreitet für unser Wahrnehmungsvermögen unmerklich lang- 
sam weiter. Absolut neue, dem bisherigen Milieu einer Art voll- 
kommen fremde Reize stellen meist einen groben Eingriff ın die 
Lebensbedingungen dar und führen dann lediglich zu einer Schä- 
digung. Ich persönlich erachte den experimentellen Beweis für die 
Vererbung einer neuen, erworbenen Eigenschaft durch die bisher 
beschriebenen Versuche für nicht erbracht, auch wenn die Möglich- 
keit dieses Beweises nicht zu leugnen ist. Insbesondere die als 
„Mutationen“ beschriebenen Versuche beweisen m. E. nicht die Ver- 
erbung erworbener Eigenschaften, da sie zu wenig erblich sind. 
Dagegen ist bei meinen Befunden über die Fluktuation (bei der 
Zurückverwandlung der retrogressiven Fluktuante) ein außerordent- 
licher Grad von Erblichkeit vorhanden; auch wären die Bedingungen 
für die Erwerbung einer vererbbaren Eigenschaft gegeben, wie ich 
nach Besprechung der Befunde darstellen werde. Allerdings handelt 

1135 


299 Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 


es sich auch bei meinen Versuchen nicht um die Erzielung einer 
gegenüber dem Ausgangstypus neuen, erblichen Eigenschaft, sondern 
nur um die Wiedergewinnung einer experimentell zu Verlust ge- 
brachten, also schon einmal vorhandenen Eigenschaft. 

Mechanismus der Variationsvorgänge. Im Zusammen- 
hang mit meinen Ausführungen darüber, dass zwischen den asexuellen, 
einzelligen Lebewesen und den sexuellen ein prinzipieller Unter- 
schied in der Zusammensetzung aus Soma und Keimplasma nicht 
besteht, möchte ich noch kurz auf die Beziehungen zwischen Soma 
und Keimplasma bei der Variation hinweisen. 

Variationsvorgänge spielen nicht nur während der Entwick- 
lung des Individuums, sondern auch noch im erwachsenen Zustand 
eine Rolle. Dass die infolge der Abnützung der Organe, sowie der 
Verletzung von Organen beständig notwendige Wiederbildung unter 
dem Einfluss des Idıoplasmas steht, zeigen die Regenerationserschei- 
nungen. Dass adäquate Reize auch während des erwachsenen Zu- 
stands eines Individuums eme sichtbar werdende Veränderung be- 
stimmter Anlageprodukte veranlassen können, zeigt die Hypertrophie 
mancher Organe durch gesteigerte Funktion. Wie wir uns aber 
diesen Vorgang und insbesondere sein Extrem, nämlich die Ent- 
stehung einer neuen Eigenschaft und ıhre Vererbung, d. h. ıhre 
Fixierung ım Idıioplasma als neue Anlage, ım einzelnen vorstellen, 
ist m. E. reine Hypothese. 

Eine „somatische Induktion“ kann wohl immer angenommen 
werden insofern, als ein Reiz zunächst das Soma alleın treffen kann; 
die Veränderung, welche er jedoch bei dem betreffenden Anlage- 
produkt bewirkt, erfolgt in der für die Art charakteristischen Weise, 
also jedenfalls schon auf Grund der Reaktionsfähigkeit des soma- 
tischen Idioplasmas. Bleibt diese Veränderung des sichtbaren Art- 
merkmals innerhalb der Grenzen der normalen, für die Art charak- 
teristischen Reaktionsbreite, so bringt sie keine Veränderung des 
Idioplasmas hervor und erstreckt sich nicht über die Grenze des 
Individuums hinaus, d. h. sie ist nicht erblich. 

Ist die Veränderung des sichtbaren Anlageproduktes jedoch 
derart, dass sie die für die Art charakteristischen Grenzen über- 
schreitet, so muss man annehmen, dass der Reiz durch Vermittlung 
des Somas zu einer Veränderung des somatischen Idioplasmas ge- 
führt hat, natürlich eine entsprechende Reaktionsfähigkeit des Idio- 
plasmas als Grundbedingung vorausgesetzt. Hierdurch wird ein 
Unterschied zwischen somatischem und generativem Idioplasma 
geschaffen, der sich irgendwie ausgleicht, indem das generative Idio- 
plasma gleichsinnig verändert wird und die Veränderung als neue 
Eigenschaft vererbbar ın sich fixiert. 

Diese Erklärung, welche den Reiz durch Vermittlung des Somas 
zunächst auf das somatische und hierdurch auf das generative Idio- 


Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 293 
plasma wirken lässt, ist m. E. die wahrscheinlichste. Sie entspricht 
ungefähr der Theorie von der somatischen Induktion. Die Mög- 
lichkeit einer Parallelinduktion in dem Sınne, dass durch den 
äußeren Reiz Soma und generatives Keimplasma ohne Vermittlung 
des somatischen Keimplasmas gleichzeitig und gleichsinnig ver- 
ändert werden, halte ich für sehr unwahrscheinlich. Auf jeden Fall 
müssen wir annehmen, dass der Vorgang der Artumbildung d.h. 
der Erwerbung einer neuen, vererbbaren Eigenschaft für unsere 
Beobachtung eingeleitet wird durch eine zunächst am Soma 
wahrnehmbare, neue Eigenschaft und zu Ende geführt wird durch 
Fixierung dieser neuen Eigenschaft in der Vererbungssubstanz. 
Dadurch sind die äußeren Reize, welche die Entstehung der neuen 
Eigenschaft ausgelöst haben, bei den folgenden Generationen zu 
inneren Reizen geworden. 


Experimentelle Befunde. 


Ausgangsmaterial. Die den Versuchen zugrunde liegende 
„reine Tinıe* war ein Stamm des Pneumoniebazillus Friedländer. 
Es ist dies ein zu den größeren Mikrobenarten gehörendes Bak- 


terıum von sehr charakteristischen Eigenschaften. 

Veränderungen dieses Bakteriums wurden schon früher von Kruse (30) und 
Wilde (24) beschrieben. Diese Autoren stellten fest, dass man bei Aussaat von alten 
Kulturen auf Gelatineplatten neben den typischen Kolonien auch atypische, dem Bact. 
coli ähnliche erhält (Wilde), sowie, dass alte Laboratoriumskulturen ihr Schleim- 
bildungsvermögen verlieren, wobei die ursprünglich kurzen dicken Stäbchen schlank 
werden und sich von Kolibazillen nicht mehr unterscheiden lassen (Kruse). Die 
Form der Variabilität konnte aber damals von den Verfassern noch nicht analysiert 
werden. In neuerer Zeit hat Baerthlein (21) in seinen Mitteilungen über Mutations- 
erscheinungen kurz angegeben, dass er auch bei Kapselbazillen Mutationserschei- 
nungen beobachtet hat. Nach den Mitteilungen Baerthlein’s hat auch Gilde- 
meister ähnliche Beobachtungen gemacht. 


Der typische Bazillus besteht, wenn er lebend in Tusche unter- 
sucht wird, aus einem als breites Stäbchen geformten Zellproto- 
plasma und einer breiten Zellmembran. Auf die Zellmembran folgt 
noch eine sehr breite, von ihr durch verschiedenes Lichtbrechungs- 
vermögen deutlich abgesetzte Schleimhülle (auch Kapsel genannt), 
die beim Typus bis dreimal so breit als das eigentliche Stäbchen 
mit seiner Membran ist (Fig. 1). Bei Hitzefixierung und Färbung 
mit Methylenblau färbt sich die schleimige Substanz rotviolett, also 
metachromatisch (Heim, 29) und überdeckt die Konturen des eigent- 
lichen Stäbchens (Fig. 2). Das Stäbchen und seine Membran sind 
lebenswichtige Teile der Zelle, während die sogen. Schleimhülle 
ein Sekretionsprodukt vermutlich kolehydratartiger Natur ist. Als 
Bezeichnung für das Zellprotoplasma wird in der Bakteriologie auch 
das Wort „Endoplasma“, für die Zellmembran das Wort „Ekto- 
plasma“ gebraucht, letzteres also in anderem Sinne als in der Proto- 
zoenkunde üblich. 


294 Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 


Auf den künstlichen Nährböden wachsen die Bazillen sehr 
üppig und schnell. Die Bouillon wird dabei gleichmäßig getrübt, 
an der Oberfläche bildet sich ein schleimiges Häutchen. Werden 
die Bazillen mit der Platinöse auf dem Schrägagar ausgestrichen, 
so bilden sie einen zusammenhängenden Bakterienrasen, der zum 
größten Teil aus Bakterienschleim besteht. Dieser Rasen ist schon 
nach 24 Stunden sehr üppig, erhaben, homogen, grau durchscheinend 
und von schleimiger Konsistenz. Lässt man die Bazillen dadurch, 
dass man sie in verflüssigtem Agar verteilt und hiervon Platten 
sießt, zu einzelnen Kolonien auswachsen, so erhält man Kolonien, 
die, wenn oberflächlich gelegen, nach 3 Tagen bis zu 10 mm groß 
sınd, von homogen glasig-grauem Aussehen (Fig. 3) und schleimiger 
Konsistenz. 

Die Pathogenität des Bakteriuns ist eine sehr hohe. Es wurde 
aus einem Falle von Pneumonie beim Menschen gewonnen und 
hatte unter ausgedehnten Zerstörungen zum Tode geführt. Beim 
Tierversuch war die Virulenz ebenfalls sehr hoch. Die weiße Maus 
stirbt nach subkutaner oder intraperitonealer Infektion mit 0,0000001 
bis 0,0000000001 cem 24stündiger Bouillonkultur in 20—40 Stunden 
an Septikämie. 

Die den Versuchen zugrunde gelegte Eigenschaft. 
Die Erscheinungen der Variabilität wurden an einer Eigenschaft 
biochemischer Natur beobachtet. Es war dies das Schleimbildungs- 
vermögen. Diese Eigenschaft war zugleich für das morphologische 
und tierpathogene Verhalten des Bakterıums maßgebend. Denn 
von ihr war die Größe der morphologisch sichtbaren Schleimhülle 
(der Kapsel) des einzelnen Individuums, die Menge der in den 
Kulturen makroskopisch sichtbaren schleimigen Substanz und der 
Grad der Virulenz abhängig und zwar derart, dass die hohe Tier- 
pathogenität an die Bildung der Schleimhülle gebunden war. Die 
Veränderungen des Schleimbildungsvermögens konnten also auf ver- 
schiedene Weise festgestellt werden. Da die Erscheinungen der 
Variabilität außerdem schon makroskopisch d.h. durch das Aus- 
sehen der Kulturen auffielen, war die gewählte Eigenschaft sehr 
geeignet zu Vererbungs- und Variabilitätsversuchen. Den Teil des 
Idioplasmas, der für die Schleimbildung maßgebend ist, kann man 
nach Beijerinck als „Viskoplasma“ bezeichnen. 

Natürliche Existenzbedingungen. Das Milieu, in dem 
sich das Bakterium in seinen typischen Eigenschaften konstant er- 
hält, ıst der Aufenthalt im Körper bestimmter Tierarten. 

Variierender (retrogressiv wirkender) Reiz. Der ab- 
ändernde Reiz wurde lediglich durch die Bedingungen der künst- 
lichen Kultivierung gewonnen und bestand in der Anhäufung der 
Stoffwechselprodukte. Dies ging daraus hervor, daß die Variationen 
am zahlreichsten und raschesten eintreten, wenn man an dıe Bak- 


Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 295 


terien im zusammenhängenden Rasen züchtete, weniger wenn man 
sie als isolierte Individuen in Bouillon wachsen ließ, am wenigsten, 
wenn sie, wie beim Plattenguß, bei jeder erneuten Übertragung in 
isolierten Keimen wachsen. Der abändernde Reiz ließ sich außer- 
dem hinsichtlich der Dauer seiner Einwirkung in weiten Grenzen 
beliebig abstufen. Die Stoffwechselprodukte wirkten retrogressiv 
auf das Viskoplasma ein, indem sie das Schleimbildungsvermögen 
verringerten oder ganz zum Verschwinden brachten. Je nach Dauer 
und Intensität ihrer Einwirkung führten sie die verschiedenen retro- 
gressiven Variationsformen herbei. 


Zwischen abänderndem Reiz und seinem Effekt lassen sich adäquate Be- 
zehungen feststellen. Die Beobachtung ergab, dass die Bazillen nur dann retro- 
gressive Varianten bildeten, wenn sie die Fähigkeit der Schleimbildung entweder in 
vollem oder nur wenig herabgesetztem Maße besaßen; war dieses Vermögen stärker 
herabgesetzt (wenn auch nur durch vorübergehende Verminderung, wie sie z. B. der 
Typus durch die Modifikation erfährt) oder aufgehoben, so trat keine weitere retro- 
gressive Variation ein. Es bestand also eine spezifische Beziehung zwischen Reiz 
und Effekt insofern, als die Anhäufung eines bestimmten Stoffwechselproduktes, 
wenn sie zu einer gewissen Menge und Konzentration eingetreten ist, bei gleich- 
zeitig entstehenden Generationen die weitere Bildung dieses Produktes verhindert. 
Es entspricht dies einer in der organischen und anorganischen Natur allgemein ver- 
breiteten Erscheinung, welche in dem Gesetz der passiven Widerstände (Le Cha- 
telier, van ’t Hoff) zusammengefasst wird. Sobald z. B. durch ein Ferment ein 
Stoff zerlegt wird und die Endprodukte eine gewisse Konzentration erreicht haben, 
hört die weitere Zerlegung des Stoffes auf, auch wenn noch genug Ausgangsmaterial 
vorhanden ist. Neuerdings ist von Mazzetti eine hierher gehörende Erscheinung 
beim Stoffwechsel der Cholerabazillen nachgewiesen worden. Die Cholerabazillen 
können aus Nitraten Nitrite bilden, aber nur bis zu einer bestimmten Konzentration. 
Ist diese Nitritkonzentration im Nährboden schon vor Zusatz der Cholerabazillen 
künstlich hergestellt, so findet keine weitere Nitritbildung mehr statt. Trotzdem 
geht das Wachstum ungestört weiter vor sich, wie sich durch die Indolbildung 
nachweisen lässt. Daraus folgt zunächst, dass es voneinander unabhängige Funk- 
tionen des Stoffwechsels gibt und, was für unsere Beobachtung besonders in Be- 
tracht kommt: dass durch Anhäufung eines bestimmten Stoffwechselproduktes gerade 
die weitere Bildung dieses Produktes gehemmt wird. Der Mechanismus der Varia- 
tion in unserem Falle ist also so zu verstehen, dass die von dem normalen Bazillus 
und gewissen Varianten gebildeten Stoffwechselprodukte durch ihre Anhäufung und 
wohl auch ihre Abbaustufen eine weitere Bildung der gleichen Produkte verhindern. 
Diese Hemmung greift also bei den gleichen Stellen des Stoffwechselapparates an, 
durch welche vordem die in Rede stehenden Stoffwechselprodukte selbst gebildet 
wurden: es werden ganz bestimmte Anlagen in ihrer Funktion beeinflußt und das 
wesentliche dabei ist, dass diese Beeinflussung je nach dem Grade des einwirkenden 
Reizes nicht nur eine vorübergehende, sondern eine erbliche Veränderung der be- 
treffenden Anlagen herbeiführt. Die retrogressive Variation ist also in unserem 
Falle eine nach dem Gesetze der passiven Widerstände erfolgende, dem Reiz adä- 
quate Hemmungserscheinung. 


Progressiv wirkender Reiz. In entgegengesetzter Rich- 
tung wie die Anhäufung der Stoffwechselprodukte wirkten bestimmte 
Bedingungen der künstlichen Kultivierung und besonders der Auf- 
enthalt im Tierkörper auf den Bazillus ein. So konnte lediglich durch 
die Kultivierung unter möglichster Ausschaltung der Stoffwechsel- 


296 Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 


produkte (Wachstum in einzelnen Keimen beim Plattenguss) eine 
progressive Wirkung auf die Bildung der Schleimhüllen erzielt 
werden, wenn diese Fähigkeit bloß gehemmt war, wie bei der Modi- 
fikation. Bei den Variationen von höherer Erblichkeit dagegen 
waren Tierpassagen nötig, um den normalen Typus wiederherzustellen 
oder eine Wiederannäherung an den Typus zu bewirken. 

Das Wiederauftreten des sichtbaren Artmerkmals unter den angegebenen Be- 
dingungen ist wohl folgendermaßen zu verstehen. Dass sich die bei der Modifi- 
kation nur gehemmten Anlagen schon bei Wegfall der Hemmungen wieder ent- 
falten, ist lediglich auf das Beharrungsvermögen der Erbeinheiten zurückzuführen 
und erfordert nicht die Annahme einer besonderen Reizwirkung. Dass jedoch 
bei den Varianten von höherer Erblichkeit der Aufenthalt im Tierkörper das 
Schleimbildungsvermögen anregt und wieder zum Erscheinen bringt, muss auf 
einen besonderen Reiz zurückgeführt werden. Der Tierkörper enthält bakterizide 
Kräfte gegen den Bazillus. Dies geht daraus hervor, dass die nicht mit Schleim- 
hüllen versehenen retrogressiven Varianten im Tierkörper zugrunde gehen, wenn 
sie nicht in ganz enormen Mengen zur Infektion verwendet werden. Doch auch 
dann führt der Aufenthalt im Tierkörper wohl zunächst zu einer geringgradigen 
Schädigung, auf jeden Fall zu einer „Reizung“ der Bakterienzelle. Diese Reizung 
veranlasst eine Absonderung von schleimiger Substanz — ebenso wie manche Reize 
bei gewissen tierischen Zellen die Absonderung schleimiger Substanzen zur Folge 
haben — und wirkt so in progressivem Sinne auf die Fähigkeit der Schleimbildung. 
Die Wirkung des Reizes ist natürlich nicht allein von ihm abhängig, sondern hat 
ihre Grundbedingung in der inneren Fähigkeit des Idioplasmas, auf den Reiz in 
der angegebenen Weise zu reagieren. 

Der Aufenthalt im Tierkörper stellt also den für die Bildung 
der Schleimhüllen progressiv wirkenden, adäquaten Reiz dar. 


Vererbung und Konstanthalten des normalen 
Phänotypus. 


Der normale Phänotypus lässt sich sehr leicht konstant er- 
halten. Aın einfachsten dadurch, dass man den Bazillus auf dem 
Schrägagar züchtet, einigemale in nicht zu langen Zwischenräumen 
(alle 2—3 Tage) überträgt und dann wieder eine Tierpassage ein- 
schiebt. Ohne das Einschieben von Tierpassagen lässt sich bei fort- 
gesetzter Kultivierung auf dem Schrägagar der normale Phänotypus 
nicht konstant erhalten, da sich infolge des Wachstums im zusammen- 


hängenden Bakterienrasen — bei jeder Übertragung liegen hier 
die Bazillen von Anfang an eng nebeneinander — schon in frühen 


Kulturgenerationen die Wirkung der Stoffwechselprodukte geltend 
macht und die retrogressiven Veränderungen bewirkt. Deshalb müssen 
nach einer bestimmten Zahl von Schrägagargenerationen immer wieder 
Tierpassagen eingeschoben werden, die in progressivem Sinne auf das 
Schleimbildungsvermögen wirken und die entsprechenden Anlagen 
wieder zur normalen Entfaltung bringen, so dass sie für mehrere 
Kulturgenerationen wieder normal bleiben. 

Doch läßt sich der normale Phänotypus auch bei fortgesetzter 
Kultivierung außerhalb des Tierkörpers normal erhalten, wenn die 
Bazillen nicht im zusammenhängenden Rasen wachsen. Dies ıst der 


Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 297 


Fall bei der Kultivierung in der Bouillon, wenn in nicht zu langen 
Zwischenräumen (alle 2- 3 Tage) neu übertragen wird. Bleiben die 
Bouillonkulturen wesentlich längere Zeit stehen, so macht sich auch 
in ihnen die Wirkung der Stoffwechselprodukte geltend. 

Sehr ee lässt sich auch auf a Agar der Typus 
normal erhalten, wenn das Plattengussverfahren Sina men wird. 
Hierbei wird eine Anzahl normaler Individuen zunächst in einem 
flüssigen Medium (Bouillon) verteilt, ein kleiner Teil dieser Auf- 
schwemmung mit verflüssigtem Agar vermischt und nach gründlicher 
Mischung in Platten ausgegossen. Der Agar erstarrt und die Keime 
wachsen jetzt zu einzelnen Kolonien aus. Das Wachstum findet dabeı 
zunächst in einem von Stoffwechselprodukten völlig freien Milieu statt, 
da die Keime einzeln liegen. Erst wenn die Kolonien größer werden, 
ist auch bei diesem Verfahren eine Anhäufung von Stoffwechsel- 
produkten anzunehmen, da ja ein zusammenhängender Bakterien- 
rasen gebildet wird. Wird aber von diesem abermals auf die gleiche 
Weise übertragen, so erhält man wiederum nur phänotypisch normale 
Kolonien. Dies kann sogar in langen Zwischenräumen beliebig oft 
fortgesetzt werden, eine Serie blieb bei vierwöchentlicher Über- 
tragung 1'/, Jahre ganz typisch; hierauf wurde der Versuch abge- 
brochen. 

Aus diesen Versuchen geht hervor, dass sich die Eigenschaft 
der Schleimbildung in normalem Umfang weitervererbt ohne dass 
der adäquate Reiz hierfür erforderlich ist, wenn nur die Einwir- 
kung retrogressiv wirkender Reize in genügender Weise ausge- 
schaltet wird. Diese Ausschaltung muss nicht einmal vollkommen 
sein, denn beim Plattengussverfahren wachsen die Generationen 
nur zeitenweise in einem von Stoffwechselprodukten freien Milieu. 
Dieser wenn auch immer nur vorübergehende Wegfall der hemmen- 
den Faktoren genügt aber dazu, um eine konstante Vererbung zu 
ermöglichen. Erst wenn die abändernden Faktoren kontinuierlich 
auf die Generationen einwirken, überwinden sie das Beharrungs- 
vermögen der Erbeinheiten und führen zur Variation. Es zeigte 
sich also sehr deutlich, daß die unveränderte Vererbung des ge- 
prüften Artmerkmals durch das innere Beharrungsvermögen der 
Erbeinheiten erfolgt. Die gleiche Tatsache wird sich auch bei den 
erblichen Varianten zeigen. 

Variabilität. 

Die Anhäufung der Stoffwechselprodukte als variierender Reiz 
bewirkte je nach Dauer und Intensität der Einwirkung die ver- 
schiedenen Variationsformen. Dieser Reiz lässt sich durch Auswahl 
der Kulturbedingungen d.h. des Nährbodens und der Zwischenzeit 
der sn Dan. dosieren. Die gelindeste Einwirkung, 
dıe den Typus aber noch unverändert lässt Sn zur Überwinduug 
des Beharrungsvermögens der Anlagen nicht genügt, bringt die 


298 Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 


Kultivierung in Bouillon und im Plattenguss mit sich, falls nicht 
zu große Zwischenräume (über 4 Wochen) für die Übertragung ge- 
wählt werden. Dies ıst schon bei Schilderung der für die unver- 
änderte Vererbung maßgebenden Bedingungen erwähnt. Die geringste 
varıierende Steigerung des Reizes wird erzielt durch Kultivierung auf 
dem Schrägagar, also Wachstum im zusammenhängenden Bakterien- 
rasen, und fortgesetzte Übertragung in kurzen Zwischenräumen 
(1—2 Tage); eine stärkere durch fortgesetzte Übertragung in längeren 
Zwischenräumen (7 Tage). Bei diesem Verfahren ist die Einwir- 
kung der Reizes bezw. sein Effekt in der Mitte des Bakterienrasens 
und am Rand d.h. bei den zuletzt entstehenden Individuen ver- 
schieden. Die stärkste Abänderung wird erzielt, wenn man die 
einzelnen Kulturen noch länger (2—4 Wochen) der Einwirkung der 
Stoffwechselprodukte überlässt. Eine weitere Verlängerung der 
Einwirkungsdauer des Variationsreizes hat jedoch keine Steigerung 
des Variationseffektes mehr zur Folge. 

Hieraus ergibt sich die für das Verständnis und die Beurteilung 
der Variationen sehr wichtige Tatsache, dass von einem gewissen 
Alter der Kultur ab keine weiteren Varianten mehr entstehen; 
werden in einer Kultur nach einem bestimmten Zwischenraum 
(4—8 Wochen) noch keine Varianten gewonnen, so treten auch 
späterhin keine mehr auf. Sind in den ersten 4 Wochen schon 
Varianten nachweisbar, so nımmt ıhre Zahl bei späteren Unter- 
suchungen nicht mehr zu. Die Varianten entstehen also nur, so 
lange das Wachstum der Kultur fortgeht und zwar unter den ver- 
änderten Bedingungen. Hieraus ergibt sich die Varıabilität 
als eine Funktion des Wachstums unter veränderten Be- 
dingungen. Dies geht weiterhin auch daraus hervor, dass man 
bei fortgesetzter Übertragung in kurzen Zwischenräumen viel rascher 
und reichlicher die Varianten erhält als wenn man eine zunächst 
typisch gewachsene Kultur sehr lange Zeit stehen lässt und dann 
auf Varianten untersucht. Meist erhält man dabei erst nach wieder- 
holten Übertragungen eine Variation d. h. der Variationsreiz muss 
erst auf eine gewisse Anzahl von Generationen eingewirkt haben 
um eine Veränderung zu erzielen. Im Latenzstadium des Wachs- 
tums bleibt der Variationsreiz wirkungslos; das ruhende Idioplasma 
ist nicht variationsfähig 

Gewinnung bezw. Isolierung der Varianten. Methodik 
der Versuche. Die Kulturen bezw. Kulturserien, in denen eine 
Variation erzielt werden sollte, wurden durch Abimpfung von iso- 
lierten Kolonien erhalten; denn nur so kann man sicher sein, dass 
man von erblich einheitlichem Material ausgeht. Dann wurden die 
Kulturen je nach Absicht der Reizdosierung weiter behandelt, d.h. 
in kürzeren Zwischenräumen weiter übertragen oder längere Zeit 
stehen gelassen. 


Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 299 


Die Varianten wurden dadurch isoliert, dass aus den Massen- 
kulturen nach Aufschwemmung in einem flüssigen Medium Agar- 
platten gegossen wurden. Hierbei wachsen die einzelnen Keime zu 
isolierten Kolonien aus. Nur dadurch gelingt es, alle Varianten 
mit Sicherheit zu gewinnen. Denn die Abänderungen betreffen nie 
alle Individuen gleichzeitig, sondern immer nur einen Teil: die 
Varianten treten also in Form der Konvarianten, nicht der De- 
varianten (Plötz) auf. In Massenkulturen (Strichkulturen auf Agar 
oder Bouillonkulturen) lassen sich deshalb die Varianten nur ge- 
winnen, wenn sie gegen die normal gebliebenen Individuen in der 
Mehrzahl vorhanden sind. Solche Varianten dagegen, welche nur 
in sehr spärlicher Zahl auftreten, werden in Massenkulturen durch 
die große Menge der normal gebliebenen Individuen verdeckt. Die 
Gewinnung der Varianten hat demgemäß durch Selektion der aus 
isolierten Keimen gewachsenen Kolonien zu erfolgen. 


Feststellung des Variationscharakters. Die Feststel- 
lung des Variationscharakters erfolgt durch Vererbungsversuche. 
In unserem Falle sind die Abänderungen retrogressiver Natur; ihr 
Verhalten hinsichtlich der Erblichkeit wırd also dadurch geprüft, 
dass die Varianten sowohl lediglich unter Wegfall des varııerenden 
Reizes als auch unter dem Einfluss des entgegengesetzt d.h. pro- 
gressiv wirkenden Reizes gezüchtet werden. 


Die Modifikation. 


Die modifizierte Form erhält man am leichteston durch fort- 
gesetzte Kultivierung auf dem Schrägagar. Die Zwischenräume ın 
denen übertragen wird, betragen am besten 7 Tage (bei kürzeren 
Zwischenräumen bleiben die in den ersten Kulturgenerationen am 
Rand des Bakterienrasens auftretenden Mutanten noch weiterhin 
erhalten, bei längeren Zwischenräumen könnten Fluktuanten neben 
den modifizierten Keimen erhalten werden). Die Übertragung ge- 
schieht so, dass stets von der Mitte des Bakterienrasens der letzten 
Kultur abgeimpft und auf dem neuen Schrägagar ausgestrichen 
wird. Die Kulturen verändern sich dabei allmählich immer mehr. 
Zunächst treten am Rand des Bakterienrasens weißliche Sektoren 
auf, ın späteren Kulturgenerationen erscheint der Rand als kon- 
filuierendes weißliches Band. Diese Veränderungen am Rand des 
Bakterienrasens sind verursacht durch Mutation (stärkere Einwirkung 
der Stoffwechselprodukte bei den zuletzt entstehenden Individuen 
der Kultur, vgl. später). Das Innere des Bakterienrasens bleibt da- 
gegen zunächst unverändert d.h. glasig-grau, durchscheinend, faden- 
ziehend. Bei fortgesetzter Übertragung aus den zentralen, möglichst 
wenig veränderten Partien werden die Kulturen allmählich flacher, 
weißlicher, und zwar auch im Innern des Bakterienrasens. Das End- 
stadium der Modifikation ist dann erreicht, wenn die Kulturen ganz 


300 Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 


flach, im Innern fast ebenso weißlich geworden sind wie am Rand. 
Der Rasen ist dabei nicht ganz homogen, sondern setzt sich aus 
feinen weißlichen und etwas durchscheinenden Streifen zusammen, 
die am Rand radıär gestellt sind. Dies ıst in der 15.—20, Kultur- 
generation erreicht. Der Rand des Bakterienrasens, der zwar meist 
noch etwas weißlicher gefärbt ıst als die zentralen Partien, aber 
doch bei weitem nicht in solchem Kontrast wie in den ersten Kultur- 
generationen, enthält dann keine Mutanten mehr. Wir haben jetzt 
eine einheitliche (soweit dies möglich ist, wie folgt) Kultur der 
modifizierten Form vor uns. Es ıst von jetzt an gleichgültig, ol 
bei weiteren Übertragungen vom Rand oder von der Mitte des 
Bakterienrasens übertragen wird; die Kulturen verändern sich nicht 
mehr. 

Die einzelnen Individuen sind, wenn wir sie auf die Kapsel- 
bildung untersuchen, in verschiedenem Grade abgeändert: viele be- 
sitzen eine sehr schmale kaum mehr sichtbare Kapsel, einige aber 
auch eine breite Kapsel. Bei den meisten zeigt sich die Breite der 
Schleimhülle zwischen diesen beiden Extremen. Diese Zusammen- 
setzung aus verschiedenartigen Keimen (Fig. 5) erklärt die inhomogene 
Struktur des Bakterienrasens bei den modifizierten Kulturen. Er 
besteht aus modifizierten und typisch gebliebenen Individuen. Auch 
bei beliebig lange fortgesetzter Übertragung der modifizierten Kul- 
turen auf dem Schrigen ohren ie typisch bleibenden 
Individuen nie ganz. Denn zugleich mıt der Entwicklung der Modi- 
fikation nımmt die Schleimbildung der Kulturen d. h. der Variations- 
reiz ab. Diejenigen Individuen des Typus, welche die beginnende 
Modifikation unverändert überstanden haben, werden infolgedessen 
auch durch weitere Übertragungen nicht mehr modifiziert und 
wachsen mit den Eigenschaften des Typus weiter. Es gelingt also 
nicht, durch weitere Übertragungen eine völlige „Reinkultur“ der 
modifizierten Form zu erhalten. 

Immerhin aber werden die meisten Individuen durch die fort- 
gesetzte Übertragung auf dem Schrägagar im Sinne der Modifi- 
kation abgeändert; es gelingt also durch das Verfahren der Massen- 
kulturen, die modifizierte Form zu gewinnen. 

Sehr deutlich treten die Eigenschaften der Variante hervor, 
wenn man von einer modifizierten Schrägagarkultur durch das Guss- 
verfahren Platten anlegt. Man erhält dann die den einzelnen Keimen 
entsprechenden Kolonien isoliert. Einige sind wie die des normalen 
Phänotypus: glasig durchscheinend, groß, erhaben. Sıe bestehen 
aus Individuen mit breiten Kapseln und sind hervorgegangen aus 
den normalen Individuen, die auch bei lange fortgesetzter Übertra- 
gung der modifizierten Kulturen nie ganz aus diesen verschwinden. 
Die Mehrzahl der Kolonien dagegen ist wesentlich verändert und 
zwar lassen sich bis zu den extrem veränderten alle Übergänge 


Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 301 


nachweisen. Die am wenigsten abweichenden sind fast gleich groß 
wie die normalen, enthalten aber ın ihrer glasigen grauen Grund- 
substanz weiße Sektoren. Diese bestehen aus Bazillen, welche weniger 
breite Kapseln haben und deshalb näher aneinander liegen. Da- 
durch werden diese Partien, gegen eine dunkle Unterlage gehalten, 
weniger durchsichtig und erscheinen weißlich (gegen helle Unterlage 
dunkler, vgl. Abbild.). Die stärker veränderten Kolonien sind kleiner, 
bestehen zu ungefähr gleichen Teilen aus grauen und weißlichen 
Sektoren (Fig. 4), die extrem modifizierten sind noch kleiner (nach 
3 Tagen 3—5 mm), ganz weiß und flach. Bei mikroskopischer Be- 
trachtung lässt sich aber deutlich erkennen, dass auch sie radıär 
gestreift sind. Die einzelnen Individuen dieser extrem veränderten 
Kolonien besitzen meist keine Kapseln mehr, sondern nur Endo- 
plasma und Ektoplasma, ganz wenige aber noch breite Kapseln. 
Dadurch erklärt sich die inhomogene radiärstreifige Struktur. 

Die Modifikation verändert die Virulenz nicht in nachweisbarem 
Grade, da die modifizierte Form beim Aufenthalt ım Tierkörper 
sofort die Schleimhüllen wieder bildet. 

Prüft man die modifizierte Form auf Erblichkeit, so zeigt sich, 
dass durch eine Tierpassage (am besten Maus) sofort der normale 
Phänotypus wieder erhalten wird. Dieser Rückschlag kann nicht 
allein auf Selektion zurückgeführt werden, etwa durch die Annahme, 


dass die neben den modifizierten Keimen stets — wenn auch ın 
sehr geringer Zahl — vorhandenen normalen Individuen mit breiter 


Kapsel und hoher Virulenz allein im Tierkörper zur Vermehrung 
gelangen und deshalb nach dem Tode des Tieres aus dem Blut 
reingewonnen werden. Dies ıst deshalb ausgeschlossen, weil die 
Kulturen der modifizierten Form auch in sehr geringen Dosen die 
gleiche Infektionskraft besitzen als die des normalen Phänotypus. 
Es müssen also auch die modifizierten Individuen rasch ım Tier- 
körper zur Vermehrung gelangen. Da nach einer einzigen Tier- 
passage stets nur normale Individuen aus dem Blut gewonnen 
werden, sind also die modifizierten in den Typus zurückverwandelt. 

Von besonderem Interesse ist das Verhalten der Erblichkeit beim 
Plattengussverfahren. Von einer durch Plattenguss isolierten extrem 
modifizierten Kolonie gehen in der ersten Plattenaussaat verschieden- 
artige Kolonien auf: wenige vom normalen Phänotypus, groß und 
slasig, die meisten Übergänge zwischen ihm und der extrem modi- 
fizierten Form, einige wie die extrem modifizierte Ausgangskolonie, 
d. bh. klein, flach, weißlich. Die weitere Abimpfung und Züchtung 
mittels des Plattenverfahrens ergibt, dass von den typisch er- 
scheinenden Kolonien nur Kolonien des normalen Phänotypus auf- 
gehen, die auch weiterhin die Eigenschaften des Typus beibehalten ; 
dagegen erhält man dureh Abimpfung von einer extrem modifi- 
zierten Kolonie wiederum das gleiche Gemisch von normalen, mittel- 


302 Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 


stark und extrem modifizierten Kolonien wie von der ersten modi- 
fizierten Kolonie. Dies lässt sich beliebig oft wiederholen. Stets 
ergibt die Abimpfung von einer extrem modifizierten Kolonie ein 
Gemisch von Kolonien des Typus, der modifizierten Form und 
einer Zwischenform beider. 

Dies ist nicht etwa darauf zurückzuführen, dass die modifi- 
zierte Ausgangskolonie aus einem Gemisch von Individuen des Typus 
und einer erblichen Variante besteht!). Denn bei einer künst- 
lichen Mischung des Typus und einer erblichen Variante gehen bei 
der Plattenaussaat die Kolonien nie gemischt an, sondern sie 
wachsen immer getrennt oder sie setzen sich, wenn wirklich einmal 
zwei erblich verschiedene Individuen unmittelbar nebeneinander zu 
liegen kommen, scharf gegeneinander ab und bilden zwei exzen- 
trisch geformte Kolonien. Bei Aussaat einer extrem modifizierten 
Kolonie wachsen aber die neuen, extrem modifizierten Kolonien 
regelmäßig schon vom Zentrum an radıär gemischt und in kon- 
zentrischer Anordnung. Daraus geht hervor, dass das Gemisch von 
normalen und modifizierten Individuen in einer extrem modifizierten 
Kolonie von einem einzelnen, ebenfalls extrem modifizierten In- 
dividuum abstammt, bei dessen Proliferation schon die ersten Gene- 
rationen zum Teil in den Typus zurückschlagen, während der andere 
Teil der Nachkommen modifiziert bleibt. Die in den Typus zurück- 
geschlagenen Individuen ergeben bei erneuter Aussaat von vorn- 
herein Kolonien des Typus, die modifiziert gebliebenen Individuen 
liefern wiederum modifizierte Kolonien, in denen sich der soeben 
beschriebene Vorgang wiederholt. Es hat also zunächst den An- 
schein, als ob die Modifikation bei einem Teil der Individuen voll- 
kommen erblich wäre. 

Untersucht man die Plattenkulturen nach längerer Zeit (7 bis 
10 Tage), so bemerkt man, dass sich die extrem modifizierten 
Kolonien mit einem glasigen, homogenen Saum umgeben. Impft 
man von diesem ab (Plattenguss), so erhält man im Gegensatz zur 
Abimpfung von der Mitte nur Kolonien des Typus. Die Peripherie 
der modifizierten Kolonien enthält also von einem gewissen Alter 
der Kultur ab einen Saum von Individuen, die sämtlich ın den 
Typus zurückgeschlagen sind. Dies kommt dadurch zustande, dass 
die modifizierten Individuen auch bei zunehmendem Alter der Kultur 
an Ort und Stelle, wo sie gewachsen sind, also im Bereich der ur- 
sprünglichen Kolonie liegen bleiben, während die zurückgeschlagenen, 
wieder mit Schleimhüllen versehenen Individuen von dem leicht 


1) Die Anregung zu dem in folgendem geführten Nachweis, dass die modifi- 
zierten Kolonien nicht aus einem Gemisch des Typus und einer erblichen Variante 
bestehen und insbesondere, dass die Erblichkeit der Modifikation durch Fortdauer 
des Variationsreizes, nicht aber durch eine wirklich erbliche Abänderung des Idio- 
plasmas verursacht ist, verdanke ich Herrn Professor Plate in Jena. 


Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 303 


erhabenen Bezirk der eigentlichen Kolonie nach der etwas niedrigeren 
Oberfläche des Agars peripherwärts abfließen (wie es ja für die 
Kolonien des Typus charakteristisch ist) und dabei einen konfluieren- 
den Rasen bilden; dieser besteht dann natürlich nur aus Individuen, 
welche in den Typus zurückgeschlagen sind (Fig. 4). Dass dieser 
Saum aus modifizierten Individuen hervorgegangen ist, die erst an 
der Peripherie der Kolonien in den Typus zurückgeschlagen sind, 
halte ich nieht für wahrscheinlich; denn ın diesem Stadium sınd 
die Kolonien schon ziemlich groß, und es hat bereits eine gewisse 
Ansammlung von Stoffwechselprodukten stattgefunden, welche einen 
Rückschlag der Modifikation in den Typus verhindert. 

Auf Grund dieser Beobachtungen lässt sich die Erblichkeit der 
Modifikation folgendermaßen beurteilen. Kommt ein modifiziertes 
Individuum unter Wegfall des variierenden Reizes zur Proliferation, 
so bleibt ein Teil der Nachkommen modifiziert, ein anderer Teil 
schlägt schon in den ersten Generationen in den Typus zurück. Es 
handelt sich also nicht um echte Erblichkeit, da die Variation schon 
in den ersten Generationen abklingt und „der Mittelwert der Nach- 
kommen sich verschiebt“ (Johannsen). Nun hält sich aber die 
Modifikation doch für beliebig viele Kulturgenerationen konstant, 
wenn jedesmal von einer extrem modifizierten Kolonie abgeimpft 
wird. Dies ist aber nicht auf echte Erblichkeit d. h. auf Fortdauer 
der Variation ohne den Variationsreiz, sondern auf erneute Ein- 
wirkung des Variationsreizes zurückzuführen. Denn zugleich mit 
dem Wachstum der modifizierten Kolonie häufen sich die retro- 
gressiv wirkenden Stoffwechselprodukte an, da bei dem Wachstum 
die in den Typus zurückgeschlagenen Keime wesentlich beteiligt 
sind. Infolgedessen geraten diejenigen Nachkommen des modifi- 
zierten Individuums, die nicht schon in den ersten Generationen in 
den Typus zurückgeschlagen sind, von neuem unter die Wirkung 
des Variationsreizes und werden am Rückschlag verhindert. Sie 
wachsen in dieser Kolonie modifiziert weiter und verhalten sich bei 
erneuter Aussaat ebenso wie der modifizierte Keim, von dem sie 
stammen d.h. sie schlagen wieder nur zum Teil in den Typus zurück. 
Die Erblichkeit der modifizierten Form unter den angegebenen 
Bedingungen des Plattengusses ist also nur scheinbar und in Wirk- 
lichkeit ebenso zu erklären wie bei fortgesetzter Kultivierung auf 
dem Schrägagar, d.h. auf die Fortdauer des Variationsreizes zurück- 
zuführen. Die Modifikation ist bei Wegfall des Varıa- 
tionsreizes nur für eine beschränkte Zahl von Genera- 
tionen erblich. 

Wesen und Entstehungsweise der Modifikation. Die 
Modifikation trat als retrogressive Variation derart ın Erscheinung, 
dass durch die gelindeste Wirkung des retrogressiven Variations- 
reizes die Schleimbildung ım Laufe vieler Generationen immer mehr 


304 Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 


abnahm bis zum Verschwinden der sichtbaren Eigenschaft (bei den 
extrem modifizierten Individuen). Diese Veränderung ging durch 
die Einwirkung des in umgekehrter Richtung wirkenden Reizes 
sehr rasch, etwas langsamer schon bei Wegfall des retrogressiven 
Reizes in den Typus zurück. Deshalb können wir annehmen, dass 
die Abnahme der Schleimbildung bei der retrogressiven Modifikation 
nur auf eine Hemmung des Vıiskoplasmas zurückzuführen ist; denn 
schon bei Wegfall des Variationsreizes, also allein durch ihr Behar- 
rungsvermögen, gelangen die gehemmten Anlagen wieder zur normalen 
Entfaltung. 

Die Entstehung und die Zurückbildung der Modifikation voll- 
zieht sich allmählich. Die Hemmung des Viskoplasmas nimmt im 
Laufe vieler Generationen stetig zu bis sie ihren Endwert erreicht 
hat. Diese allmähliche Zunahme der Variation ist sogar in den 
Generationen der einzelnen Kulturen zu beobachten; denn die zu- 
letzt entstehenden Individuen, also die am Rand des sich aus- 
breitenden Bakterienrasens gelegenen, sind stärker modifiziert als 
die ersten. Nie wird ein extrem modifiziertes Individuum unmittel- 
bar aus dem Typus erhalten. Die Modifikation braucht also eine 
gewisse Zahl von Generationen, bis sie in stetig zunehmendem 
Grade ıhr Extrem erreicht hat. 

Auch die Zurückbildung der Modifikation erfolgt nicht plötz- 
lich in einer Generation. Dies lässt sich zwar nicht bei der Re- 
version durch Tierpassagen, wohl aber durch das Plattengussver- 
fahren nachweisen. Hierbei entfalten sich die gehemmten Anlagen 
erst nach mehreren Generationen wieder in normaler Weise bei 
allen Individuen. Eine gewisse Erblichkeit d. h. eine Fortdauer 
ohne weitere Einwirkung des Variationsreizes lässt sich also bei 
der Modifikation nachweisen, obwohl sıe der geringsten Beeinflussung 
des Idioplasmas entspricht, die sich erzielen liess. Ich habe des- 
halb früher den für das Abklingen einer Variation gebräuchlichen 
Ausdruck „pseudohereditäre Nachwirkung“ hierauf angewendet, 
bin aber jetzt der Ansicht, dass diese Bezeichnung überflüssig ist 
(wenigstens für unseren Fall), da sie keinem prinzipiell, sondern nur 
graduell verschiedenen Begriff entspricht. 

Die geschilderte Form der Variation entspricht den Gesetzmäßig- 
keiten, die jetzt von den Vererbungsforschern in Anknüpfung an die 
„Standortsmodifikationen* Nägelis als charakteristisch für die Modı- 
fikation bezeichnet werden: unter dem Einfluss äußerer Bedingungen 
ändert sich eine sichtbare Eigenschaft und geht bei Wegfall dieser 
Bedingungen mehr oder weniger rasch in den früheren Zustand 
zurück. Diese Veränderung beruht auf der Fähigkeit einer (oder 
mehrerer) Erbeinheiten, auf eine Veränderung in den äußeren Be- 
dingungen entsprechend zu reagieren, ohne sich dabei selbst zu 
ändern. Die Reaktionsfähigkeit (oder Reaktionsbreite), 


Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 305 


welche für die Art charakteristisch ist, ändert sich dabei nicht 
(Baur, 12). Die Modifikation ist also nicht erblich. Dass die Modi- 
fikation ın unserem Falle einen gewissen Grad von Erblichkeit be- 
sitzt. muss auf den innigen Zusammenhang zurückgeführt werden, 
der bei Bakterien zwischen zeugendem und erzeugtem Individuum 
infolge der asexuellen Fortpflanzung besteht (Haeckel). Darauf 
wurde schon in der Einleitung hingewiesen. 

Bei den Lebewesen mit differenzierter Keimbahn erstrecken sich 
die Modifikationen meist nur auf eine Generation. Bei Bakterien kann 
man jedoch je nach dem Grade der Erblichkeit, den eine Modifi- 
katıon besitzt, von leicht reversiblen und von Dauermodifikationen 
sprechen. Auf jeden Fall muss jedoch eine als Modifikation be- 
zeichnete Variation schon beim Wegfall des varıierenden Reizes ein 
Abklıngen der Veränderung zeigen. Als weiteres Merkmal der Mo- 
difikation ist die allmähliche Entwicklung der Variation zu fordern. 


Die Mutation, 


Man erhält die Mutante beim Friedländerbazillus ebenso wie 
bei den anderen Bakterien, bei denen besonders Beijerinck (20) 
und Baerthlein (21) die Gewinnung der Mutanten ausführlich 
beschrieben haben, wenn man Agar oder Bouillonkulturen des nor- 
malen Bazillus längere Zeit im Brutschrank oder nach 24 stündiger 
Bebrütung bei Zimmertemperatur stehen lässt und dann Platten 
anlegt. Es genügen 4 Wochen, doch erhält man auf diese Weise 
nicht aus jeder Kultur die Mutante; tritt die Mutation in einer 
Kultur nach 4 Wochen noch nicht ein, so erhält man sie meist auch 
durch längeres Stehenlassen nicht mehr. (Im Latenzstadium des 
Wachstums tritt keine Variation ein). 

Absolut sicher und viel rascher kann man die Mutation her- 
beiführen, wenn man durch fortgesetzte Übertragungen auf dem 
Schrägagar das Wachstum der Bakterien im zusammenhängenden 
Rasen weitergehen lässt. Überträgt man in 3—7tägigen Zwischen- 
räumen in der Weise, dass jedesmal von der Mitte des Bakterien- 
rasens abgeimpft und dieses Material auf dem neuen Schrägagar aus- 
gestrichen wird, so trıtt meist in der 3.—4. Kulturgeneration eine 
plötzliche auffallende Veränderung ein. Während die ersten Kultur- 
generationen aus homogenem, glasig durchscheinendem Bakterien- 
rasen bestanden, treten jetzt plötzlich weißliche Sektoren am Rand 
des Bakterienrasens auf, die bei Fortsetzung des Verfahrens ın den 
nächsten Kulturgenerationen zunehmen, so dass sie schließlich zu 
einem breiten weißen Band zusammenfließen. Diese weißlichen 
Partien bestehen aus Mutanten. (Die Mitte des Bakterienrasens bleibt 
zunächst noch unverändert; durch Weiterimpfung von hier erhält 
man die modifizierte Form.) Legt man von den weißen Sektoren 
oder dem weißen Rand einer Schrägagarkultur, in der die Mutation 

XXXV. 20 


306 Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 


begonnen hat, durch das Gussverfahren Agarplatten an, so geheu 
zwei bedeutend verschiedene Arten von Kolonien auf, die durch 
keine Übergangsformen verbunden sind. Ein Teil besteht aus den 
großen schleimigen Kolonien des normalen Typus, der andere aus 
kleinen, flachen weißlichen Kolonien, den Mutanten. Die einzelnen 
Individuen der Mutante sınd schlanke Stäbchen, welche nur eine 
sehr dünne Zellmembran besitzen und keine Schleimhüllen bilden. 
Impft man von den peripheren weißlichen Partien auf Schrägagar 
ab, so erhält man eine flache, fast ganz weißliche Kultur; diese 
enthält nur noch wenige glasige, typisch gebliebene Inseln. Wird 
eine solche veränderte Kultur abermals durch Abimpfung von per'- 
pheren, weißlichen Partien auf Schrägagar übertragen, so erhält 
man die Mutante meist schon rein. Die Mutante lässt sich also 
wie die modifizierte Form auch ın Massenkulturen rein gewinnen. 

Die Virulenz ist durch die Mutation ganz erheblich gesunken; 
die dosis letalis minıma für die Maus ist 1,0 cem Bouillonkultur. 

Die durch die Mutation erfolgende Veränderung vollzieht sich 
in einer Generation. Dies geht daraus hervor, dass die ersten 
mutierenden Individuen, die jedoch ın der betreffenden Kultur- 
generation gegen Ende des Wachstums der Kultur entstehen, auf 
einer Zwischenstufe zwischen normalem Typus und Mutante stehen 
bleiben, welche morphologisch sehr charakteristisch ıst (Fig. 6). 
Diese Übergangsformen stellen aber keine für sich beständigen 
Varianten dar. Bei erneuter Übertragung wird stets das End- 
stadium der Mutation erreicht (Fig. 7) und nie eine Übergangsform 
mehr angetroffen. Wären die Übergangsformen auch nur für wenige 
Generationen beständig, so müsste man sie in der erneuten Über- 
tragung wenigstens in einigen Exemplaren noch vorfinden. Sie 
gelangen also nur deshalb zur Beobachtung, weil ın ıhnen die Ent- 
wicklung der mutierenden Individuen nicht zum Abschluß bezw. 
zur Bildung der nächsten Generation kommt; denn die beginnende 
Anhäufung der Stoffwechselprodukte verhindert das weitere Wachs- 
tum der Kultur. Durch das Auftreten dieser auf eine Generation (nicht 
Kulturgeneration) beschränkten Übergangsformen ist der Beweis 
ermöglicht, dass die Mutation im Gegensatz zur Modifikation eine 
sprunghafte Variation ist. Sie setzt ın einer Generation in einem 
gewissen Entwicklungsstadium des Individuums sichtbar ein und ist 
bei den Nachkommen dieses Individuums vollkommen ausgeprägt, 
worauf sie zu keiner weiteren Veränderung mehr führt. 

Dem Beginn der anscheinend so plötzlich eimsetzenden Muta- 
tion geht jedoch ein latente Prämutationsphase voraus. Man er- 
hält z. B. ın einer Serie von Kulturgenerationen in der fünften die 
Mutation, obwohl sich die vierte noch nicht sichtbar gegen die 
erste verändert hatte. Alle von der ersten Kulturgeneration an- 
gelegten Übertragungen ergeben keine Mutation, dagegen tritt die 


Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 2307 
» S UM 


Mutation in sämtlichen von der vierten Kulturgeneration angelegten 
Übertragungen ein. Deshalb muss man annehmen, dass sich im Laufe 
der Übertragungen latent eine Veränderung in den Kulturen einge- 
stellt hat, die in dem angeführten Beispiel erst bei Übertragung der 
vierten Kulturgeneration manıfest wird, d.h. eine Prämutationsphase. 

Der Variationsreiz, der die Mutation herbeiführt, ıst stärker 
als derjenige, welcher die Modifikation veranlasst. Die Mutanten 
werden entweder nur aus ziemlich alten Kulturen oder bei frischen 
Übertragungen nur an denjenigen Stellen der Kulturen gewonnen, 
die zuletzt d.h. unter dem stärksten Einfluss der Stoffwechsel- 
produkte entstehen. Hierbei zeigt sich besonders klar, dass die 
Variation eine Funktion des Wachstums ist. Legt man nämlich 
von einer am Rande in beginnender Mutation begriffenen Agar- 
kultur Platten an, so erhält man bei Abimpfung von der Mitte nur 
normale Kolonien, bei Abimpfung vom Rand dagegen reichlich die 
Mutanten. Es sind also nur die zuletzt entstehenden, bei Anhäufung 
der Stoffwechselprodukte noch ım Wachstum begriffenen Keime 
von der Mutation betroffen worden, während der gleiche Variations- 
reiz bei den schon im Latenzstadium des Wachstums begriffenen 
Individuen keine Veränderung erzeugt hat. 

Erblichkeit der Mutation. Die Eigenschaften der durch 
Plattenguss rein gewonnenen Mutante verändern sich bei weiterer 
Kultivierung nicht mehr. Die Mutante ist ein schlankes Stäbchen 
mit schmalem Ektoplasma (Fig. 5), sie bildet auf der Agarplatte 
kleine (in 5 Tagen 3—5 mm große), flache, grauweißliche, homogene 
Kolonien (Fig. 9), auf dem Schrägagar einen flachen, grauweißlichen, 
nicht abfließenden Bakterienrasen. Man kann die Mutante durch 
den Plattenguss, auf Schrägagar oder in Bouillon züchten, sie 
bleibt bei Übertragung in den üblichen Zwischenräumen (alle 1 bis 
4 Wochen) in ihren Eigenschaften vollkommen konstant. Die durch 
die Mutation eingetretene Veränderung bleibt also, sobald sıe ein- 
mal manifest geworden ıst, auf ihrem Zustand bestehen. 

Die Abimpfung von einer Kolonie der Mutante ergibt auf der 
Agarplatte nur Kolonien, die der Ausgangskolonie vollkommen 
gleichen. Der Wegfall des Variationsreizes führt also keinen Rück- 
schlag der Mutante herbei. Der Mittelwert der Nachkommen ver- 
schiebt sich hierbei nicht (im Gegensatz zur modifizierten Form). 

Unter gewissen Bedingungen lassen sich aber doch ganz regel- 
mäßig Rückschläge in den normalen Typus erzielen. Dies gelingt, 
wenn Kulturen der Mutante längere Zeit unübertragen stehen ge- 
blieben sind (mindestens 8 Wochen) und dann neu überimpft werden. 
Dabei schägt ein Teil der Mutanten in den normalen Typus zurück. 
Frische Kulturen der Mutante lassen sich nur durch Tierpassagen 
in den Ausgangstypus umwandeln. Man muss dabei sehr große 
Mengen (wegen der geringen Virulenz) ins Tier verimpfen. Der 

20* 


308 Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 


Rückschlag tritt dann, je nachdem die Mutante erst kürzere oder 
schon längere Zeit auf künstlichen Nährböden fortgezüchtet ist, ın 
der 3.—5. Tierpassage ein. Nach den ersten Tierpassagen ist noch 
keine sichtbare Veränderung wahrzunehmen, in einer bestimmten 
Passage vollzieht sich dann plötzlich der Rückschlag und zwar 
ebenso stoßweise wie die ursprüngliche Mutation. Man muss in- 
folgedessen annehmen, dass auch dem Rückschlag eine latente Prä- 
mutationsphase vorausgeht. 

Bei der Gewinnung des normalen Typus durch Rückschlag der 
Mutante spielen Selektionsvorgänge eine Rolle. Denn nur ein Teil 
der Mutanten schlägt auf den künstlichen Nährböden oder im Tier- 
körper in den Typus zurück. Die im Tierkörper zuerst zurück- 
schlagenden Individuen gelangen wegen ihrer hohen Virulenz auch 
zu starker Vermehrung und werden .unter Umständen schon bei 
der ersten Tierpassage, ın der der Rückschlag stattfindet, aus dem 
Blute rein gewonnen. 

Wesen der Mutation. Vom Standpunkt der Vererbungs- 
forschung lässt sich der Mutationsvorgang mit ziemlicher Wahr- 
scheinlichkeit analysieren. Die Mutation zeigt sich darin, dass eine 
bestimmte Eigenschaft ın einer Generation plötzlich verschwindet 
und nach vielen Generationen wieder sichtbar wird. Dies spricht 
dafür, dass die Erbeinheit der betr. Eigenschaft nicht verloren ge- 
gangen bezw. beim Rückschlag neu entstanden ıst, sondern nur 
ihren Zustand gewechselt hat. Beijerinck hat wohl zuerst vermu- 
tungsweise den Gedanken ausgesprochen, dass bei der Mutation aktive 
Erbeinheiten latent oder latente Erbeinheiten aktiv werden. Diese 
Annahme hat lediglich auf Grund der Mutationserscheinungen viel 
Wahrscheinlichkeit für sich; durch den Gegensatz der Mutation zu 
den anderen Formen der Variabilität, insbesondere zu der später 
zu beschreibenden Fluktuation, erscheint sie mir so gut bewiesen, 
wie es überhaupt für die ja immerhin hypothetischen Erbeinheiten 
nur möglich ıst. Ich schließe mich also der Auffassung Beijerinck’s 
an und führe die Mutation auf eine Zustandsänderung, einen Valenz- 
wechsel von Erbeinheiten, zurück. Die beobachteten Erscheinungen 
sprechen für die Richtigkeit der Theorie Plate’s (8) über den 
Valenzwechsel (Grundfaktor — Supplementtheorie). Es werden da- 
bei entweder aktive Erbeinheiten latent oder inaktiv: dies ist die 
retrogressive Mutation- oder es werden latente Erbeinheiten aktıv: 
dies ıst die progressive Mutation. Die Rückschläge ın den Aus- 
gangstypus sind weiter nichts als eine Mutation, welche in umge- 
kehrter Richtung wie die ursprüngliche verläuft. Neue Erbein- 
heiten entstehen also bei der Mutation nicht, die Artgrenzen werden 
nicht überschritten. 

In unserem Falle ıst die retrogressive Mutation darauf zurück- 
zuführen, dass die für die Schleimbildung maßgebenden Erbemheiten 





Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 309 


inaktiv werden. Das Schleimbildungsvermögen beruht, wie sich bei 
der Fluktuation ergeben wird, auf dem Zusammenwirken mehrerer 
gleichsinniger Erbeinheiten, d.h. eines biologischen Radıkals (Plate); 
es wird also ein Komplex von Anlagen mit dem Verlust der sicht- 
baren Kapselbildung inaktiv. 

Zugleich tritt auch im Endoplasma und Ektoplasma eine sichtbare Verände- 
rung ein, denn aus dem breiten Stäbchen wird plötzlich ein schlankes mit schmalem 
Ektoplasma. Möglicherweise werden also noch andere, mit dem Aufbau des Endo- 
plasmas und Ektoplasmas in Verbindung stehende Erbeinheiten inaktiv, falls diese 
Veränderungen nicht auch irgendwie vom Viskoplasma abhängen. 

Der Rückschlag in den normalen Typus vollzieht sich durch 
die ebenso sprunghaft erfolgende Aktivierung der gleichen Anlagen. 

Die Erblichkeit der Mutation beweist, dass das Beharrungs- 
vermögen der Erbeinheiten das gleiche ist, wenn sie aktiv oder 
latent sind. Die Mutante besitzt im Vergleich zum Typus einen 
wesentlich reduzierten Stoffwechsel, der Varıationsreiz fällt mit dem 
Verlust der Schleimbildung vollkommen weg. Trotzdem bleibt die 
Mutante bei weiterer Kultivierung und zwar sogar beim Platten- 
gussverfahren erblich konstant. Ist jedoch der Rückschlag ın den 
Typus durch bestimmte stärker progressiv wirkende Faktoren ein- 
mal eingetreten, so bleibt der Typus von jetzt ab unter den schon 
bei Besprechung der Vererbung genannten Bedingungen ebenso be- 
ständig wie vor der Mutation — also unter Bedingungen, die an 
sich nicht genügten, um den Rückschlag der Mutante herbeizuführen. 
Daraus folgt, dass Typus und Mutante unter gleichen Bedingungen 
konstant bleiben, sobald einmal der jeweilige Zustand (Aktivität 
oder Latenz) der Erbeinheiten herbeigeführt ist. Die Erbeinheiten 
verharren also in dem Zustand der Aktivität oder Latenz, ın den 
sie durch äußere Faktoren gebracht werden, ohne dass die den be- 
treffenden Zustand herbeiführenden Faktoren ın gleicher Stärke 
andauern. 

Der Rückschlag d.h. die Reaktivierung der latenten Anlagen 
erfordert stärkere progressiv wirkende Bedingungen als die Reversion 
der modifizierten Form. Es ist nicht sicher zu erklären, warum bei 
neuem Wachstum alter Kulturen der Mutante einige Individuen 
in den Typus zurückschlagen und zwar erst, wenn die Kulturen 
ziemlich alt sind und sich schon längere Zeit im Latenzstadium des 
Wachstums befinden. Vielleicht nimmt nach längerem Ruhezustand 
die Fähigkeit zur Aktivierung bei den latenten Anlagen wieder zu, 
besonders wenn der inaktivierende Variationsreiz vollkommen fehlt, 
wie in den Kulturen der Mutante. Man könnte dann annehmen, 
dass die betreffenden Individuen vor dem auf dem neuen Nährboden 
erfolgenden Rückschlag noch in der alten Kultur in einen Prämuta- 
tionszustand geraten. Der Rückschlag im Tierkörper ist so aufzu- 
fassen, dass durch den progressiv wirkenden Reiz, dem vermutlich 
sogar die Entstehung des Schleimbildungsvermögens als äußerem 


310 Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 


Faktor zuzuschreiben ist, die Aktivierung der latenten Erbeinheiten 
verhältnismäßig leicht und rasch gelingt. 

Der zeitliche Entstehungsmechanismus der Mutation ist durch 
die auf eine Generation beschränkten Übergangsformen verständ- 
lich. Die Mutation (zunächst für die Verlustmutation sicher zu 
beobachten) vollzieht sich derart, dass bei einem im Wachstum 
begriffenen Individuum in einem bestimmten Stadium der Ent- 
wicklung Erbeinheiten inaktiviert werden. Auf diese Weise wird 
das entsprechende Anlageprodukt in der mutierenden Generation schon 
nicht mehr in normalem Umfang gebildet, ist jedoch noch in einem 
gewissen Grad vorhanden, soweit es eben vor Einsetzen der Mutation 
schon gebildet war; in der darauffolgenden Generation fehlt es aber 
ganz, da in dieser die betreffenden Erbeinheiten schon von Anfang 
an latent sind. Auf diese Weise erklärt sich am besten das Vor- 
kommen der auf eine Generation beschränkten Übergangsformen 
zwischen Typus und Mutante und das Sprunghafte der Mutation. 

Da sıch der Rückschlag ebenso plötzlich vollzieht, beruht er 
wohl auf einem analogen, aber umgekehrt gerichteten Vorgang, 
auch wenn sich hierbei die Übergangsformen aus leicht begreif- 
lichen Gründen nicht feststellen ließen. 

Da mit dem Namen Mutation heutzutage verschiedene Vor- 
gänge bezeichnet werden, erscheint es mir dringend notwendig, die 
Bezeichnung Mutation für die geschilderte Art der Variation zu 
rechtfertigen. Die heutige Erblichkeitsforschung bezeichnet als 
Mutation eine wirkliche Veränderung der Art durch Abänderung 
ihrer Zusammensetzung aus Erbeinheiten. Wir legten jedoch dem 
Mutationsbegriff nur einen Valenzwechsel, eine Zustandsänderung 
von Anlagen zugrunde, durch welche die Artgrenzen nicht über- 
schritten werden. Wenn ich bei dieser Auffassung bestehen bleibe, 
so geschieht das aus zwei Gründen. 

Erstens: Hugo de Vries, der das große Verdienst hat, die 
Vorgänge der Artbildung experimentell in Angriff genommen zu 
haben, hat den Begriff der Mutation für eine bestimmte Variations- 
form eingeführt. Er fand bei der Züchtung der Nachtkerze, dass 
ein Teıl der Nachkommen „spontan“ mehr oder weniger vom Typus 
abweichende Eigenschaften zeigte, während der größte Teil unter 
den gleichen Außenbedingungen unverändert blieb. Die Verände- 
rungen entstanden sprunghaft, ohne Übergänge und waren erblich. 
Nur ein Teil der veränderten Rassen schlug in späteren Genera- 
tionen wieder in den Ausgangstypus zurück. De Vries glaubte, 
dass es sich hier um einen aus inneren Gründen erfolgenden Ge- 
winn wirklich neuer Eigenschaften handle und dass die Mutation die 
Quelle der Artbildung sei. Wenn sich die von de Vries als reine 
Mutationen aufgefassten Veränderungen der Oenothera lamarckiana 
auch zum größten Teil auf Bastardierungserscheinungen zurückführen 


Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 314 


lassen, so kann man doch nicht ausschließen, dass echte Mutations- 
vorgänge (in unserem Sinne) damit verknüpft waren. Die von 
de Vries für die Mutation als charakteristisch bezeichneten Ge- 
setzmäßigkeiten haben sich auch später bei anderen Arten wieder- 
gefunden und es werden demnach als Mutationen bezeichnet: stoß- 
weise, nur in einem Teil der Nachkommen erfolgende, spontane 
(„richtungslos“ erfolgende) und in hohem Grade erbliche Verände- 
rungen. 

Nun kann die „Richtungslosigkeit“ auf keinen Fall zur Charak- 
terisierung einer Variationsform verwendet werden; denn jede Varia- 
tion ist durch bestimmte Bedingungen in ihrem Verlauf, d.h. in 
den Beziehungen zwischen Reiz und Wirkung, festgelegt, auch wenn 
wir diese Beziehungen nicht immer erkennen. In unserem Fall ist 
die Richtung der Mutation nach Reiz und Wirkung klar. Maß- 
gebend für den Variationscharakter ist nur der Entstehungsmecha- 
nismus und die Erblichkeit der Variation. In dieser Beziehung 
entspricht die geschilderte Varıationsform den von de Vries ex- 
perimentell festgestellten Gesetzmäßigkeiten. Wenn sich auch her- 
ausgestellt hat, dass die Mutation nicht dem Vorgang entspricht, 
den de Vries lediglich theoretisch von ihr forderte, nämlich den 
wirklichen Verlust oder Gewinn von Erbeinheiten, so halte ich es 
doch für gerechtfertigt, die von de Vries nach den Tatsachen 
charakterisierte und als Mutation bezeichnete Variationsform auch . 
weiter Mutation zu nennen. 

Zweitens: es ist mir gelungen, experimentell eine Variation zu 
erzielen, welche an Erblichkeit die Mutation weit übertrifft. Diese 
Variationsform ist wahrscheinlich mit dem Gewinn bezw. Verlust 
von Erbeinheiten verbunden. Sie zeigt jedoch ganz andere Gesetz- 
mäßıgkeiten als die Mutation. Sie vollzieht sich nicht stoßweise, 
sondern allmählich, indem sie eine kontinuierliche Reihe erblicher 
Zwischenstufen durchläuft. Ich bezeichne sie deshalb als Fluktuation. 
Die Auffindung dieser Variationsform veranlasst mich hauptsächlich 
dazu, die Bezeichnung „Mutation“ für die nur zu einem Valenz- 
wechsel von Erbeinheiten führende Variationsform beizubehalten. 

Als charakteristisch für die Mutation ergab sich also die sprung- 
hafte Bildung der Terminalform, der ebenso erfolgende Rückschlag 
und ein beträchtlicher Grad von Erblichkeit. Zur Reversion war 
die Anwendung des progressiv wirkenden Reizes nötig, nur unter 
einer bestimmten Bedingung (nach langem Latenzstadium des Wachs- 
tums) erfolgte der Rückschlag durch das Beharrungsvermögen der 
Erbeinheiten allein. 

Die bakteriologische Forschung hat durch die genaue Verfol- 
gung der Mutationserscheinungen die Erblichkeitslehre um die Tat- 
sache bereichert, dass durch einen Valenzwechsel von Anlagen erb- 
lich konstante Rassen entstehen können. Der Valenzwechsel als 


312 Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 


Quelle der Variabilität war zwar schon lange bekannt, aber nicht 
als Ursache erblich konstanter und experimentell zu beherrschender 
Variation. Derartige schon längst bekannte Erscheinungen des 
Valenzwechsels erstreckten sich immer nur auf eine oder mehrere 
(senerationen; dass aber durch einen experimentell herbeigeführten 
Valenzwechsel Anlagen beliebig viele Generationen hindurch in ihrem 
Zustand der Latenz oder Aktivität zu halten sind und sich jeder- 
zeit durch gesetzmäßig wirkende äußere Einflüsse in ihren Aus- 
gangszustand zurückführen lassen, ist erst durch die Bakterien- 
mutationen bekannt und bewiesen worden. 


Die Fluktuation. 


Als Fluktuation bezeichne ich eine Art der Variation, welche 
nicht nur zu einer Variante, sondern zu mehreren Varianten führt. 
Diese bilden nach dem verschiedenen Grad ıhrer Abweichung vom 
Typus eine kontinuierliche Reihe. 

Die Gewinnung dieser Varianten ist etwas schwieriger als die 
der bisher geschilderten, weil immer nur sehr wenige Individuen 
einer Kultur diese Form der Variation zeigen. Bei Aussaat einer‘ 
genügend großen Zahl von Individuen, eventuell Verwendung mehrerer 
unter den gleichen Bedingungen gehaltener Kulturen gleichzeitig 
gelingt es jedoch regelmäßig, die Fluktuanten zu gewinnen. Man 
erhält sie folgendermaßen: Von einer durch Plattenguss erhaltenen 
Kolonie des normalen Typus, der vorher noch durchs Tier gegangen 
oder auf Agarplatten in isolierten Kolonien gewachsen war, werden 
Schrägagar- oder Bouillonkulturen angelegt, 24 Stunden bei 37° be- 
brütet und dann bei 15° stehen gelassen. Frühestens nach 10 bis 
14 Tagen, am besten nach 20—30 Tagen, werden von diesen Kul- 
turen (ich habe bei den meisten Versuchen mit Schrägagarkulturen 
gearbeitet) Agarplatten angelegt. Über die Reihenfolge im Auf- 
treten der verschiedenen Fluktuanten ist später noch besonders zu 
berichten. Von allen Teilen des Bakterienrasens wird durch gründ- 
liches Verrühren mit der Platinöse Material entnommen, in Bouillon 
aufgeschwemmt und dort durch wiederholtes Hin- und Herneigen 
des Röhrchens gemischt. Von dieser Aufschwemmung werden ver- 
flüssıgte Agarröhrchen nach dem bekannten Verdünnungsverfahren 
geimpft und zu Platten ausgegossen. Die Platten stehen 24 Stunden 
im Brutschrank, bleiben dann bei Zimmertemperatur stehen und 
werden nach 3—5 Tagen untersucht. Von den Platten sind nur 
diejenigen verwendbar, welche eine genügende Zahl von Kolonien, 
aber doch mindestens in Abständen von !/,—1cm enthalten. Ist 
die Aussaat dichter, so kommen die Kolonien nicht vollständig 
genug zur Entwicklung ihrer typischen Eigenschaften und können 
deshalb nicht beurteilt werden. Auf den Agarplatten, die eine ge- 
eignete Keimzahl enthalten, findet man bei der Untersuchung weit- 





Toenniessen, Über Vererbung uud Variabilität bei Bakterien. 315 


aus die größte Zahl ganz unverändert, einige in der schon ge- 
schilderten Weise durch Radiärstreifung modifiziert, eventuell auch 
Mutanten. Die für die Fluktuation in Betracht kommenden Kolonien 
sind kleiner als die des normalen Typus, und zwar lassen sich 
drei verschiedene Stadien der Fluktuation unterscheiden. Die fluk- 
tuierten Kolonien sind besonders bei mikroskopischer Betrachtung 
mit Sicherheit zu erkennen und zwar dadurch, dass sie homogen 
chagriniert sind und keine radiären Streifen enthalten, sowie im Prä- 
parat durch die morphologischen Eigenschaften der einzelnen Keime. 

Die am wenigsten veränderten Kolonien (Fluktuante I) sind nach 
3—5 Tagen ungefähr zwei Drittel so groß wie die des normalen 
Typus, 7—10 mm im Durchmesser, erhaben, homogen, aber nicht 
ganz so glasig durchscheinend, sondern mehr weißlich-grau. Die 
einzelnen Bazillen haben sämtlich eine etwas schmalere Kapsel als 
die der normalen Kolonien. Werden von solch einer fluktuierten 
Kolonie Platten gegossen, so erhält man die Fluktuante rein. Die 
aufgehenden Kolonien sind sämtlich der Elternkolonie gleich. Bei 
längerem Wachstum konfluieren die Kolonien, jedoch nicht alle. 
Sie überziehen nie die ganze Agarplatte in zusammenhängendem, 
zerfließlichem Rasen wie der normale Typus. Durch Abimpfung 
einer solchen fluktuierten Kolonie auf dem Schrägagar erhält man 
einen homogenen, leicht erhabenen, grau-weißlichen und abfließen- 
den Bakterienrasen. 

Die Kolonien des 2. Stadiums (Fluktuante II) sind noch etwas 
kleiner, nach 3 Tagen 5—7 mm groß, etwas erhaben, stärker weiß- 
lich-gelb, aber noch etwas durchscheinend. Bei Abimpfung ergeben 
sie nur Kolonien, welche der Elternkolonie vollkommen gleichen. 
Die einzelnen Bazillen haben eine Kapsel, die ungefähr zweimal 
so breit ist als der Bakterienleib. Bei längerem Stehenlassen kon- 
fluieren die Kolonien zum Teil mit den benachbarten Kolonien, 
breiten sich aber dann nicht weiter aus. Auf dem Schrägagar er- 
hält man einen noch etwas erhabenen abfließenden Bakterienrasen, 
der am Rande weißlich-grau, im Innern noch grau durchscheinend ist. 

Das 3. Stadium (Fluktuante III) zeigt noch kleinere (3—5 mm 
große), leicht gelblich-weiße, nicht mehr durchscheinende Kolonien, 
die in den ersten Tagen ganz flach sind und makroskopisch voll- 
kommen den extrem modifizierten gleichen. Bei mikroskopischer 
Betrachtung (Fig. 10) unterscheiden sie sich von diesen aber da- 
durch, dass sie keine radiären Strahlen zeigen. Sie erscheinen 
ebenso wie die anderen Fluktuanten homogen chagriniert. Dem- 
entsprechend findet man bei mikroskopischer Untersuchung auch 
nur gleichartige Einzelindividuen vor. Beim Tuscheverfahren er- 
scheinen die Bakterien der Fluktuanten III ohne deutliche Kapsel, 
nur aus Bakterienleib und breiter Membran bestehend. Dass die 
Schleimhülle fehlt oder nur in minimalem Grade vorhanden ist, 


314 Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 


geht besonders bei der Methylenblaufärbung hervor. Die Bakterien- 
leıber erscheinen dabei zwar scharf konturiert, es fehlt aber dıe für 
die schleimbildenden Individuen charakteristische violette Über- 
deckung (Fig. 11). Auf dem Schrägagar bildet die Fluktuante II 
einen flachen Bakterienrasen, der im Innern grau durchscheinend, 
am Rande etwas weißlich gefärbt ist. Der Rasen ist abfließend im 
Gegensatz zu der ebenfalls weißlich-grauen, flachen Kultur der 
Mutante. Bei Abımpfung einer isolierten Kolonie der Fluktuante Ill 
erhält man wiederum nur Kolonien, welche der Elternkolonie voll- 
kommen gleich sind. 

Die Virulenz ist bei den Fluktuanten parallel zu der Herab- 
setzung der Kapselbildung gesunken. Bei der Fluktuante IH ist 
die dosis letalis minima für die Maus 0,5 cem Bouillonkultur. 

Erblichkeit der Fluktuation. Die 3 Fluktuanten sind in 
ihren Eigenschaften jede für sich außerordentlich beständig (inner- 
halb einer bestimmten, für jede Fluktuante konstanten Variations- 
breite). Die Fluktuanten I und II wurden bis jetzt fast 2 Jahre lang, 
die Fluktuante III über 3 Jahre lang beobachtet. Die Fortzüchtung 
durch das Plattengussverfahren ergibt, dass bei den 3 Fluktuanten 
die Nachkommen vollkommen den Elternkolonien gleichen. Der 
Mittelwert der Nachkommen verschiebt sich also bei Wegfall des 
Variationsreizes nicht. 

Tierpassagen, welche die modifizierte Form und die Mutante ın 
kürzester Zeit in den normalen Typus zurückverwandeln, lassen die 
Fluktuanten selbst nach zahlreicher Wiederholung anscheinend un- 
verändert. Bei Fluktuante I wurden 10, bei Fluktuante II wurden 
20, bei Fluktuante III wurden 100 Mäusepassagen vorgenommen. 
Dabei geschah eine Zeitlang die Infektion mit eben tödlichen Dosen, 
und später, als es sich herausstellte, dass bei der Mutante der 
Rückschlag am raschesten durch Impfung mit enormen Dosen ein- 
tritt, wurden außerordentlich große Dosen zur Infektion verwendet. 
Auch hierdurch konnte kein Rückschlag in den normalen Typus 
erzielt werden. Die Fluktuante III ıst durch die 100 Tierpassagen 
nicht einmal in den Typus der Fluktuante II zurückverwandelt. 

Fortzüchiung auf dem Schrägagar lässt die Fluktuanten eben- 
falls unverändert; sie werden allmählich nur geringgradig ebenso 
wie der Typus durch Modifikation verändert, schlagen aber durch 
Plattenguss oder Tierpassage sofort wieder in den früheren Zustand 
(der Fluktuation) zurück. Auch wurde versucht, die Fluktuante I 
in II oder III umzuwandeln bezw. aus Kulturen der Fluktuante 1 
durch längeres Stehenlassen einige Individuen von II oder III zu 
gewinnen, also die gleiche Methode angewendet, bei der Fluktuante I 
aus dem normalen Typus hervorgegangen war. Auch dies war ohne 
Erfolg. Es waren höchstens modifizierte Kolonien oder Mutanten 
der Fluktuante I zu erhalten. 


Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 315 


Die Fluktuanten waren also von wesentlich höherer erblicher 
Konstanz als die anderen Variationen. 

Aus der Art der Gewinnung der Fluktuanten ergibt sich, dass 
zu ihrer Herbeiführung die stärkste Anhäufung der Stoffwechsel- 
produkte notwendig ist, dass sie also durch den stärksten Varia- 
tionsreiz entstehen; denn sie werden nur aus alten Kulturen des 
Typus gewonnen, nicht aber wie die modifizierte Form oder die 
Mutante auch bei Übertragung in kurzen Zwischenräumen. 

Entstehungsweise der Fluktuanten. Aus diesem Grunde 
ist bei den Fluktuanten eine Beobachtung ihrer Entwicklungsstadien 
wie bei der Modifikation und der Mutation nicht möglich. Denn 
sie gelangen bei der Aussaat alter Kulturen ın der folgenden Kultur- 
generation gleich in ihrem Endstadium zur Beobachtung. Des- 
halb schien es zunächst, dass die Fluktuanten ebenso wie die 
Mutante unmittelbar, d.h. ohne erblich konstante Zwischenformen 
aus dem Typus entstehen, was bei der extremen Fluktuante ein 
fast ebenso großer „Sprung“ wäre wie bei der Mutante. Gegen 
diese Entstehungsweise spricht aber folgendes: Wird von einer 
Schrägagarkultur des Typus nach einer bestimmten Zeit (10 bis 
14 Tage) eine Plattenaussaat gemacht, so erhält man meist allein 
die Fluktuante I, etwas später Fluktuante II und zuletzt (20 bis 
30 Tage) Fluktuante III. Nie wird Fluktuante III vor Fluktuante I 
oder II erhalten. Da die Ursache der Variation die Anhäufung 
der Stoffwechselprodukte ist, könnte man die Reihenfolge ım Auf- 
treten der Fluktuanten so erklären, dass aus Individuen des nor- 
malen Typus bei einer bestimmten Anhäufung der Stoffwechsel- 
produkte die Fluktuante Il entsteht, bei stärkerer Fluktuante II und 
bei stärkster Fluktuante III. Dies wäre möglich, wenn die Ent- 
stehung der Varianten alleın von der Einwirkung der Stoffwechsel- 
produkte abhängig wäre; doch siud hierbei noch zwei weitere Fak- 
toren beteiligt, welche die obige Annahme unwahrscheinlich machen. 
Die Stoffwechselprodukte wirken nämlich nicht nur varıerend, 
sondern auch wachstumshemmend; eine Variation bewirken sie aber 
nur bei denjenigen Individuen, welche im Wachstum begriffen sind, 
die also trotz der wachstumshemmenden Wirkung der Stoffwechsel- 
produkte noch zur Proliferation gelangen. Im Latenzstadium des 
Wachstums befindliche Keime werden, wie sich schon wiederholt 
zeigte, durch die Anhäufung der Stoffwechselprodukte nicht zur 
Variation gebracht. 

Berücksichtigen wir diese für die Enstehung der Varianten 
maßgebenden Bedingungen, sowie die Zeit, welche für die Bildung 
der Fluktuanten nötig ist, so folgt zunächst, dass die Fluktuanten 
unter dem stärksten Einfluss der Stoffwechselprodukte entstehen; 
denn sie werden in den einzelnen Kulturen später als die anderen 
Varianten, also zuletzt erhalten. Sie entstehen demnach durch 


316 Toenniessen, Uber Vererbung und Kariabilität bei Bakterien. 


Proliferation der letzten noch wachsenden Individuen einer Kul- 
tur. Dabei kommt zunächst die am wenigsten abweichende Fluk- 
tuante I zur Beobachtung. Etwas später, also bei noch stärkerer 
Variationsursache, entsteht Fluktuante II. Auf Grund des oben 
gesagten lässt sich jetzt mit größter Wahrscheinlichkeit entscheiden, 
ob die Fluktuante II unmittelbar aus dem Typus oder aus der 
Fluktuante I hervorgeht. Entstünde die Fluktuante II unmittel- 
bar aus Individuen des Typus, so müssten diese während einer 
gewissen Zeit, nämlich so lange, als die Bedingungen für die Bil- 
dung der Fluktuante 1 gegeben waren, ıhr Wachstum eingestellt 
haben. (Sonst müssten sie ın die Fluktuante I, zum mindesten in 
die Mutante oder in die modifizierte Form übergegangen sein. 
Letztere beiden kommen aber als Vorstufen der Fluktuante II 
nicht in Betracht, da sie, wie später erwähnt wird, nicht zur Bildung 
der Fluktuante II befähigt sınd.) Etwas später aber, also unter 
den Bedingungen des stärkeren Varationsreizes, müssten diese In- 
dividuen des normalen Typus ıhr Wachstum wieder aufgenommen 
haben und dadurch sprunghaft ın Fluktuante II übergegangen sein. 
Das ist aber nıcht wahrscheinlich; denn mit dem stärkeren Varia- 
tionsreiz hat auch die wachstumshemmende Wirkung der Stoff- 
wechselprodukte zugenommen, und es ist nicht einzusehen, dass 
Zellen, die aus irgend einer Ursache ihr Wachstum schon einmal 
eingestellt haben, bei Verstärkung dieser gleichen Ursache ihr 
Wachstum wieder aufnehmen. Aus diesem Grunde wird eine un- 
mittelbare Entstehung der Fluktuante II und noch mehr der Fluk- 
tuante III aus dem Typus unwahrscheinlich. Es bleibt also nur 
die Möglichkeit übrig, dass die Fluktuante III aus der Fluktuante Il 
und diese aus der Fluktuante I entstanden ist. Es ist auch leicht 
zu verstehen, dass die gleiche Generationsreihe des normalen Typus, 
die durch eine den Durchschnitt übertreffende Wachstumsfähigkeit 
trotz der Einwirkung der Stoffwechselprodukte weiter gewachsen ist, 
dadurch aber zur Entstehung der Fluktuante I geführt hat, durch 
weitere Fortsetzung ihres Wachstums in die Fluktuante II und vom 
Stadium der Fluktuante II aus ın die Fluktuante III übergegangen 
ist. Es wäre dies also eine von Generation zu Generation fort- 
schreitende, quantitativ zunehmende Abänderung, die nicht nur auf 
Grund des Vergleiches der fertigen Varianten, sondern auch ihrer 
Genese nach als fluktuierende Variation bezeichnet werden kann. 

Zur Stütze dieser Annahme mußte aber bewiesen werden, dass 
tatsächlich die Fluktuante III aus Fluktuante II und Fluktuante I 
hervorgehen kann. Es musste also aus Reinkulturen der Fluktuante I 
und II die Fluktuante III gewonnen werden, denn nur in diesen war 
ein sprunghaftes Entstehen der extremen Fluktuante aus dem nor- 
malen Typus auszuschließen. Es wurden also zunächst die Fluk- 
tuante I und II zwei Mauspassagen unterworfen, um sie möglichst 


Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. BleT 


typisch und durch die künstliche Kultivierung nicht irgendwie 
modifiziert zu erhalten. Dann wurden sie durch Plattenguss in 
einzelnen Kolonien isoliert und, nachdem sie sich als reine Linie 
und ın den für die Fluktuante I und II typischen Eigenschaften 
gezeigt hatten, wurde von einer einzeln stehenden Kolonie auf 
Schrägagar abgeimpft. Wie schon erwähnt, gelingt es nicht, aus 
Reinkulturen der Fluktuanten I und II lediglich durch Stehenlassen 
der Kulturen und Anfertigung einer Plattenaussaat nach längeren 
Zeiträumen noch stärker abweichende Fluktuanten zu gewinnen, 
wie dies beim Typus der Fall ist. Dies ist auch ohne weiteres 
verständlich. Denn die Fluktuanten I, Il und III entstehen aus 
dem Typus durch stärkste Einwirkung der vom Typus gebildeten 
Stoffwechselprodukte. Nun haben aber die Fluktuanten, wie aus 
ihrem viel weniger üppigen Wachstum hervorgeht, einen gegen den 
Typus wesentlich reduzierten Stoffwechsel. Wachsen sıe also in 
Reinkultur, so bilden sie weniger Stoffwechselprodukte als der 
Typus, und dadurch verliert der die Abänderung bewirkende Reiz 
an Intensität. Ich versuchte deshalb die Wirkung der Stoffwechsel- 
produkte bei den Fluktuanten dadurch zu verstärken, dass ich die 
im zusammenhängenden Bakterienrasen, also auf dem Schrägagar 
gewachsenen Kulturen nach verschieden langer Zeit auf einen neuen 
Schrägagar übertrugunddabei die aufdem ersten Nährboden gebildeten 
Stoffwechselprodukte (das Kondenswasser des Agars und den ganzen 
Bakterienrasen) auf den neuen Nährboden brachte. Dies gelang 
durch Anwendung steriler Glaskapillaren mit aufgesetztem Gummi- 
käppchen ganz leicht. Diese Art der Übertragung wurde bei den 
Fluktuanten I und Il in Serien von 7, 14 und 21 Tagen ausgeführt 
und vor jeder Übertragung auf einen neuen Nährboden eine Platten- 
aussaat der vorhergehenden Kultur angelegt, wie schon früher bei 
Schilderung der Gewinnung der Fluktuanten beschrieben. Schon 
in der zweiten Kulturgeneration wurden auf diese Weise bei sämt- 
lichen Serien der Flutuante I und II, also bei Übertragung in 7-, 
14-, und 21tägıgen Zwischenräumen einzelne Kolonien der Fluk- 
tuante III gewonnen. Dass es sich wirklich um Fluktuante III 
handelte, wurde durch 6 Mauspassagen festgestellt, welche die Fluk- 
tuante III nicht in den Ausgangstypus zurückverwandelten, wäh- 
rend die zur Kontrolle gleichzeitig Tierpassagen unterworfene jetzt 
schon fast 3 Jahre lang auf künstlichem Nährboden gezüchtete 
Mutante des Typus schon in der 5. Tierpassage zurückschlug. Es 
war also tatsächlich Fluktuante III aus Fluktuante I und II her- 
vorgegangen. 

Damit war der Beweis erbracht, dass die Fluktuante III aus 
den Fluktuanten II und I entstehen kann. Es ist dies aber nicht 
nur eine Möglichkeit der Entstehungsweise, sondern wohl der regel- 
mäßıge Vorgang; nicht nur die obigen Ausführungen über die 


318 Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 


Reihenfolge ım Auftreten der einzelnen Fluktuanten in der gleichen 
Kultur machen dies wahrscheinlich, sondern auch die später zu 
erwähnenden Beobachtungen über die progressive, d. h. umgekehrt 
gerichtete Fluktuation. Die Fluktuation unterscheidet sich 
also von der Mutation neben ihrer bedeutend stärker 
ausgeprägten Erblichkeit besonders dadurch, dass sie 
durch mehrere für sıch konstante Zwischenstadien, d.h. 
ım Laufe mehrerer Generationen zu ihrer Terminal- 
form führt. Hinsichtlich dieser allmählichen Entwicklung zeigt 
die Fluktuation Übereinstimmung mit den Vorgängen der Modifi- 
kation. Die Modifikation führt ebenfalls zu mehreren Varianten 
verschiedenen Grades der gleichen Abweichung. Auch bei ıhr ent- 
stehen nie die extremen Varianten durch einen Sprung aus dem 
Typus, sondern stets aus weniger abweichenden. Bei der Modifi- 
katıon sind jedoch diese Zwischenstufen nur von sehr geringer 
erblicher Konstanz; bei der Fluktuation zeigen sowohl die Zwischen- 
stufen als auch die Termmalform die höchste experimentell erziel- 


bare Erblichkeit. 


Es folgt hieraus, dass die Bildung einer kontinuierlichen Reihe 
gleichsinniger Varianten bei verschiedenen Varıationsformen vor- 
kommt und an sich noch nicht für den Variationscharakter, also 
auch für die Erblichkeit bestimmend ist (Plate unterscheidet des- 
halb somatische und „mutative“ Fluktuationen). Auch der morpho- 
logische Effekt einer Variation ist nıcht maßgebend für den Variations- 
charakter; denn die Modifikation führt zu den gleichen morpho- 
logischen Abänderungen wie die Fluktuation. 


Reversionsversuche an den Fluktuanten. Es wurde schon 
erwähnt, dass die einzelnen Fluktuanten selbst durch den stärksten 
für die Wiedergewinnung des Typus wirksamen Reiz, nämlich durch 
Tierpassagen nicht in den Typus zurückverwandelt werden konnten, 
ja dass die stärker abweichenden Fluktuanten nicht einmal das 
Stadium der nächsten, weniger abweichenden Form erreichten. Bei 
Fluktuante I wurden 10, bei Fluktuante II 20, bei Fluktuante 111 
bis jetzt 100 Tierpassagen (Maus) angewendet. Es zeigte sich aber 
doch eine deutliche Zunahme der Kapselbildung und Virulenz, die 
zum Teil nach einigen Agarpassagen wieder zurückging, also auf 
Modifikation beruhte, zum Teil aber doch erblich war. Bei Fluk- 
tuante III wurde die Frage, ob durch wiederholte Tierpassagen eine 
wenn auch nur geringe, aber doch erbliche Annäherung an die 
Fluktuante Il zu erzielen ıst, näher untersucht. 


Dies ließ sich durch Feststellung der Zunahme von Kapsel- 
bildung und Virulenz entscheiden. Die Virulenz stieg bei subl 
kutaner Infektion (24stündige Bouillonkulturen) folgendermaßen: 


Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 319 


Fluktuante III vor Tierpassagen 0,5 Maus bleibt am Leben 
nach 10. Maus Q,1 Sy Fr 5; 
ll... , 0:2 Maus stirbt in 3 Tagen 
Blasen 0] 2 > „ 3 Tagen 
Dr ls Maus bleibt am Leben 
a 0) a | Maus stirbt in 2 Tagen 
DOSE ON! en % „ 36 Stunden 
to 0:01 Tr RR TS TEEN 
200 5,7001 es 0) „> 
er 0.001 ER SHE, 


0.000001 en ni „ 4 Tagen. 

Es war also eine erhebliche Zunahme der Virulenz durch Tier- 
passagen zu erzielen. Diese Zunahme der Virulenz war von einer 
gleichzeitigen Zunahme der Kapselbildung (Tierkörper) und Schleim- 
bildung (bei künstlicher Kultivierung) begleitet. Doch hatte diese 
letztere Fähigkeit noch nicht wieder den Grad wie bei Fluktuante II 
(aus dem Typus isoliert, ohne Tierpassagen) erreicht. 

Jetzt wurde versucht, ob die Zunahme der Virulenz eine erb- 
liche war oder ob sie durch Züchtung außerhalb des Tierkörpers 
wieder zurückging. Die Kultur wurde zu diesem Zweck alle 7 Tage 
neu auf Agar übertragen und die Virulenz im Laufe der Agar- 
passagen geprüft, indem von den betreffenden Agarkulturen Bouillon- 
kulturen angelegt und diese nach 24stündigem Wachstum ın die 
Maus verimpft wurden. Die Virulenz war folgende: 

Nach SO. Maus unmittelbar 0,000001 Maus stirbt in 4 Tagen 


en 2. Agarpassage 0,001 e » „ 44 Stunden 
0,00001 Maus bleibt am Leben 
= 58 = 0,001 Maus stirbt in 52 Stunden 
0,0001 55 EN 
10. ie 0,001 5: Re NE er 
0,0001 Maus bleibt am Leben 
ey alar r 0,01 Maus stirbt in 72 Stunden 
0,001 55 wie Tagen 
20: 0,01 % DA Stunden 
0,001 Maus bleibt am Leben 
u ” 0,01 Maus stirbt in 50 Stunden 
0,001 e" 0 Tagen: 


Es geht also die durch Tierpassagen erreichte. Virulenzsteige- 
rung der Fluktuante III durch die künstliche Kultivierung zunächst 
zurück, bleibt aber von der 15. Agarpassage ab auf einer konstanten 
Höhe. Die Dosis letalıs minima ist 0,001 geworden, also ungefähr 
1000mal höher als vor den Tierpassagen, jedoch nicht so hoch wie 
die Virulenz der Fluktuante II, bei der 0,000001 auch nach beliebig 
langer künstlicher Kultivierung meist in 48 Stunden tödlich ist. 
Auch die durch die Tierpassagen erzielte Zunahme der Kapsel- und 
Schleimbildung der Fluktuante III bleibt trotz der künstlichen 
Kultivierung auf einem höheren Wert als vor den Tierpassagen. 
Die Fluktuante III hat sich also durch Anwendung einer großen 
Reihe von Tierpassagen sehr langsam und allmählich der Fluk- 


320 Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 


tuante II genähert, und zwar ın erblicher Weise. Es ist dies eine 
progressive Fluktuation, sie findet allmählich statt. Dies ist ein 
weiterer Beweis dafür, dass auch die retrogressive Fluktuation stets 
allmählich vor sich geht. 

Bei Fortsetzung der Tierpassagen wäre also zu erwarten, dass 
die Fluktuante III allmählich das Stadium der Fluktuante II, hier- 
auf das Stadıum der Fluktuante I erreicht und schließlich ganz in 
den Typus zurückgeht. 

Wesen der Fluktuation. Vom Wesen der Fluktuation 
können wir uns auf Grund der sichtbaren Veränderungen und deren 
Erblichkeit folgende Vorstellung machen. Die zunächst erhaltene 
Fluktuation war retrogressiv. Sie bestand darin, dass die Fähig- 
keit der Kapselbildung bei den Fluktuanten in verschiedenem Grade 
bis zum anscheinend völligen Verschwinden abnahm. Lediglich auf 
eine Hemmung oder Inaktivierung von Anlagen kann diese Ver- 
änderung nicht zurückgeführt werden. Denn wir sahen, dass bei 
der Modifikation ein erheblicher Grad von Hemmung und bei der 
Mutation sogar eine völlige Inaktivierung von Anlagen jederzeit 
durch gewisse Bedingungen rückgängig wird und in die normale 
Funktion wıeder übergeht. 

Es könnte sich um eine dauernde Lähmung der betreffenden 
Anlagen im Sinne einer Schädigung oder „Degeneration“ handeln. 
Es müssten dann bei den drei Fluktuanten je nach dem Grade 
der Abänderung drei Grade der Degeneration vorliegen, von denen 
sich jede ganz in der gleichen Ausdehnung der Degeneration weiter 
vererbt. Dies ist aber sehr unwahrscheinlich. Denn man kann 
kaum annehmen, dass die Degeneration einer Anlage, wenn sie ein- 
mal so hochgradig geworden ist, dass die Anlage trotz bester Be- 
dingungen für ıhre Entfaltung kein Anlageprodukt mehr bildet, 
genau in diesem Grade der Schädigung bei der Proliferation er- 
halten bleibt und weiter vererbt wird. Diese konstante Vererbung 
der drei Fluktuanten, auf Grund deren keine Fluktuante in die 
andere übergeht, spricht gegen eine Veränderung der Anlagen 
im Sinne einer bloßen Schädigung oder „Degeneration“. Denn 
Degenerationen aus äußeren Gründen gehen unter Wiederherstellung 
günstiger Bedingungen zurück, Degenerationen aus inneren Gründen 
haben eine Neigung zur Verstärkung. Ich nehme infolgedessen ın 
Konsequenz mit der Deutung der Modifikation und Mutation an, 
dass der gleiche variierende Reiz, der bei gelindester Einwirkung 
eine Hemmung von Erbeinheiten und bei stärkerer eine Inaktı- 
vierung veranlasst, bei stärkster Einwirkung zu einer völligen Zer- 
störung der Anlagen, also zu einer Ausschaltung dieser Anlagen 
aus der Vererbungssubstanz führt. Theoretisch können wir uns 
vorstellen, dass diese Anlagen bei der Proliferation so stark ge- 
schädigt werden, dass sie sich am Wachstumsvorgang des Idio- 


Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 39 
o- Im 


plasmas nicht beteiligen können und so aus dem Gefüge der Ver- 
erbungssubstanz verschwinden. Wir nehmen also zur Erklärung 
des erblichen Verlustes einer sichtbaren Eigenschaft bei 
der Fluktuation einen wirklichen Verlust der betreffen- 
den Erbeinheiten an. 

Dadurch wird es unwahrscheinlich, dass die Fähigkeit der Kapsel- 
bildung auf einer einzigen Erbeinheit beruht. Denn es ist nicht 
vorstellbar, dass eine einzige Erbeinheit zu einem verschiedenen 
Teile verloren geht. Man müsste diese Erbeinheit dann wieder in 
einzelne, unabhängig voneinander funktionsfähige Faktoren teilen. 
Wenn wir aber bei der Vorstellung der Erbeinheit als des kleinsten 
für eine Eigenschaft maßgebenden Teilchens der Erbsubstanz fest- 
halten, müssen wir in unserem Falle annehmen, dass die in ver- 
schiedenem Grade zu Verlust gehende sichtbare Eigenschaft auf 
mehreren Erbeinheiten beruht. Die völlige Ausbildung der normal 
entwickelten Kapsel beruht also auf dem Zusammenwirken mehrerer 
gleichsinniger Faktoren. Die Kapselbildung ist ein polygenes Merk- 
mal, ein „biologisches Radiıkal“. 

Die verschiedenen für sich erblich konstanten Stadien der retro- 
gressiven Fluktuation beruhen also darauf, dass je nach dem Grade 
der Abweichung eine oder mehrere der gleichsinnigen Erbeinheiten 
verloren gehen. Nur durch diese Annahme lässt sich m. E. die 
erbliche Konstanz der verschiedenen Stadien begreifen. Besonders 
klar wird dies durch das Verhalten der einzelnen Fluktuanten bei 
weiteren Varjabilitätsversuchen und durch den Gegensatz der Fluk- 
tuation zu den anderen Formen der Variabilität, besonders der Mu- 
tatıon. Hierbei werden die gleichsinnigen Erbeinheiten in ihrer 
Gesamtheit gleichzeitig verändert. Das biologische Radikal wird im 
vollen Umfange latent bezw. aktiv. Dadurch erklärt sich der große 
Unterschied, der „Sprung“, welcher vom normalen Typus zur Mu- 
tante führt, gegenüber den schrittweisen Veränderungen, welche 
die Fluktuation bewirkt. 

Der Entstehungsmechanismus der Fluktuation wäre also 
folgendermaßen zu denken: Wächst eine Generationsreihe des nor- 
malen Typus unter dem schon sehr gesteigerten Einfluss der Stoff- 
wechselprodukte weiter, so geht zunächst eine gewisse geringe An- 
zahl von Erbeinheiten zu Verlust. Dabei entsteht die Fluktuante I, 
welche für sich konstant bleibt, wenn sie in diesem Zustand isoliert 
und in Reinkultur, also nicht unter dem Einfluss der Stoffwechsel- 
produkte des Typus, fortgezüchtet wird. Geht aber ihr Wachstum 
in der alten vom Typus angelegten Kultur noch weiter, so werden 
durch Fortdauer und ech sogar Verstärkung des Variations- 
reizes noch weitere Erbeinheiten zu Verlust gebracht, wodurch die 
Fluktuante II entsteht. Diese ist, wenn sie jetzt isoliert wird, 
ebenfalls in dem erreichten Stadium konstant. Gelangt sie jedoch 

XXXV. 21 


322 Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 


in der alten Kultur zur weiteren Proliferation, so entsteht durch 
einen weiteren Verlust von Erbeinheiten die Fluktuante Ill. Diese 
ist die Terminalform der Fluktuation. 

Wenn wir die retrogressive Fluktuation auf einen Verlust von 
Erbeinheiten zurückführen, so müssen wir annehmen, dass bei der 
Reversion der Fluktuanten, auch wenn sie nur zu einer Annäherung 
der extremen Fluktuante an die Fluktuante Il durchgeführt wurde, 
die vordem zu Verlust gegangenen Erbeinheiten teilweise und all- 
mählich wiedergewonnen werden. Denn diese progressive Verände- 
rung war ebenso erblich wie retrogressive Fluktuation. Die pro- 
gressive Fluktuation bringt also den Gewinn neuer, vererbbarer 
Eigenschaften mit sich und ist experimentell zu beobachten. 

Diese Annahme erscheint auf Grund dessen, was wir über die 
Vererbung erworbener Eigenschaften vorausgesetzt haben, als mög- 
lich. Die Erwerbung einer neuen Eigenschaft hat als Ursache eine 
innere Fähigkeit des Idioplasmas. Diese Fähigkeit ist in unserem 
Falle gegeben; denn sonst könnte sich ja das Schleimbildungs- 
vermögen nicht beim Typus finden. Der progressiv wirkende Reiz 
ıst durch den Aufenthalt ım Tierkörper gegeben. Er führt dazu, 
dass das Idioplasma auf Grund seiner derzeitigen Struktur die neue 
Erbeinheit bildet, ebenso wie er dıe Reaktion der schon entwickelten 
Erbeinheit veranlasst. Denn es ist anzurehmen, dass „die ein- 
zelnen Organe (hier das Vıskoplasma) durch Reize, auf welche sie 
zu reagieren eingerichtet sind, auch in das Leben gerufen werden“ 
(OÖ. Hertwig, 5). Ist man also imstande, den für die Entstehung 
bestimmter Anlagen adäquaten Reiz lange genug einwirken zu 
lassen, so kann man bei gegebener Fähigkeit des Idioplasmas diese 
Anlagen zu bilden, eine progressive Fluktuation, d. h. eine Er- 
werbung vererbbarer Eigenschaften erzielen. Unseren Befunden 
nach zu schließen geht dies allerdings äußerst langsam vor sich, 
selbst wenn es sich um die Bildung von Erbeinheiten handelt, 
welche schon einmal vorhanden waren. 

Obwohl die retrogressive Fluktuation die anderen Variationen 
an Erblichkeit weit übertraf und obwohl die extreme Fluktuante 
durch lange Einwirkung des progressiven Reizes nicht in den Typus 
zurückverwandelt werden konnte, war die Fluktuation doch nicht 
absolut erblich. Dies ist aber von keiner Variationsform, auch nicht 
von der artbildenden, zu verlangen: denn eine absolute Beständig- 
keit des Artbildes existiert bei keiner Art. Infolgedessen spricht 
nichts gegen die Annahme, dass die Fluktuation als artbildende 
Varıationsform ın Betracht kommt. 

Die Benennung „Fluktuation“ rechtfertigt sich zum Teil durch 
Anschauungen und Beobachtungen, welche schon von Darwin her- 
rühren, zum Teil durch Ergebnisse der modernen Erblichkeits- 
forschung. Fluktuierende Variabilität wird jetzt gewöhnlich jede 


Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 32: 


Variabilität genannt, welche zwischen normalem Typus und extremer 
Variante kontinuierliche Reihen von Übergängen, Zwischenformen 
bildet. Man versteht darunter im allgemeinen die Erscheinung, 
dass die Individuen einer reinen Linie in der gleichen Generation 
sich nie ganz gleich sind, sondern in ihren Eigenschaften um einen 
bestimmten Mittelwert schwanken. Hierher gehören die schon er- 
wähnten Plus- und Minusvarianten. Diese fluktuierende Variabilität 
ist jedoch nicht erblich. Es gelingt nicht durch Selektion von Plus- 
und Minusvarianten eine erblich veränderte Rasse zu gewinnen 
(Johannsen). Ich möchte deshalb diese Form der Variabilität ın 
Anknüpfung an de Vries „individuelle Variabilität“ nennen und 
die Bezeichnung Fluktuation für die oben beschriebene Varıations- 
form anwenden, welche ebenfalls ın kontinuierlichen Reıhen statt- 
findet, aber erblich ist. Den Begriff des Erblichen hat schon Dar- 
wın mit der Fluktuation verbunden. Es erscheint mir auf Grund 
meiner Resultate als begründet, den von Dar wın geschaffenen Be- 
griff der Fluktuation wieder zur Geltung zu bringen, und zwar in 
seiner ursprünglichen Bedeutung. 

Als charakteristische Merkmale der Fluktuation wurden dem- 
nach experimentell festgestellt: der außerordentlich hohe Grad von 
Erblichkeit (Reversion nur durch sehr lange fortgesetzte Einwirkung 
des progressiv wirkenden Reizes möglich) und die allmähliche Ent- 
wicklung der Terminalform unter Bildung einer kontinuierlichen 
Reihe erblicher Zwischenstufen. 


Uber die Beziehungen der einzelnen Variationsformen 
zueinander. 


Die Beständigkeit der verschiedenen erblichen Varianten wird 
besonders deutlich, wenn man sie weiterhin auf Variabilität prüft. 
Der Reiz, welcher zur Entstehung der Varianten führt, erleidet, 
sobald die Varianten einmal in Reinkultur gewonnen sind und auf 
die gleiche Weise wie der normale Typus fortgezüchtet werden, 
eine Veränderung seiner Intensität: denn die Varianten haben sämt- 
lich einen gegen den normalen Typus reduzierten Stoffwechsel, was 
sich durch die Abnahme der Schleimbildung bemerkbar macht. 
Dadurch verliert der Reiz für eine weitergehende Veränderung der 
Varianten an Intensität. Unter diesem Gesichtspunkt wird das 
Verhalten der isolierten Varianten gegenüber Variabilitätsversuchen 
verständlich. 

Die modifizierte Form wächst viel weniger üppig als der Typus. 
Weitaus die Mehrzahl der Individuen bildet keine Kapsel mehr. 
Aus ıhr lassen sich keine Mutanten oder Fluktuanten gewinnen; 
auch bei beliebig langem Stehenlassen der Kulturen werden immer 
nur wieder modifizierte Kolonien erhalten. Die Gewinnung von 


Mutanten und Fluktuanten ist erst dann wieder ınöglich, wenn 
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394 Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 


durch Plattenguss oder Tierpassagen der normale Typus wieder 
gewonnen wird. So erklärt sich die auch von anderen Autoren, 
besonders Baerthlein, beobachtete Tatsache, dass die pathogenen 
Bakterien gerade in den kurz den Tierpassagen folgenden Kulturen 
besonders leicht mutieren. 

Die Fluktuanten I, II und III zeigen in gleicher Reihenfolge 
eine zunehmende Reduktion des Stoffwechsels und der Schleim- 
bildung. Sie sind, wie schon erwähnt, nicht mehr imstande, durch 
Anhäufung ihrer Stoffwechselprodukte auf gleiche Weise wie der 
Typus Fluktuanten abzuspalten. Für die Entstehung von Mutanten 
genügen dagegen die von Fluktuanten I und II gebildeten Stoff- 
wechselprodukte. Die Fluktuanten I und Il sind imstande, unter 
den gleichen Kulturbedingungen wie der normale Typus Mutanten 
zu bilden, die sich’morphologisch nicht von der Mutante des nor- 
malen Typus unterscheiden. Fluktuante III dagegen bildet keine 
Mutanten mehr. Erst wenn sie sich durch 80 Tierpassagen der 
Fluktuante II genähert und das Vermögen der Schleimbildung ın 
gewissem Grade wiedergewonnen hat, ist sie zur Bildung von Mu- 
tanten befähigt. Die Mutanten der Fluktuanten zeigen die gleichen 
Eigenschaften hinsichtlich der Vererbung und des Rückschlags wie 
die Mutanten des normalen Typus. Beim Rückschlag entstehen 
wieder die entsprechenden Fluktuanten, ein weiterer Beweis für 
die erbliche Konstanz der einzelnen Fluktuanten. Zur Modifikation, 
welche durch die geringste Einwirkung der Stoffwechselprodukte 
herbeigeführt wird, sind sämtliche drei Fluktuanten befähigt. Die 
Modifikation zeigt sich darın, dass jede Fluktuante bei fortgesetzter 
künstlicher Kultivierung (Schrägagar) allmählich immer schmalere 
Kapseln bildet bıs zu einem für jede Fluktuante bestimmten Minimal- 
wert. Bei Fluktuante III ıst dann gar keine Schleimhülle mehr 
vorhanden, nur breites Ektoplasma. Durch Tierpassagen wird sofort 
der für jede Fluktuante charakteristische Maximalwert der Kapsel- 
bildung wıeder erreicht, ebenso wie bei der modifizierten Form 
des Typus. | 

Die stärkste Reduktion des Stoffwechsels weist die Mutante 
auf. Bei ıhr ist also der für eine weitere Variation ın Betracht 
kommende Reiz am geringsten, und so wird es verständlich, dass 
die Mutante keine weiteren Variationsformen abspaltet, ja dass sıe 
in alten Kulturen spontan ın den Typus zurückschlägt. Nur zur 
Modifikation ist die Mutante befähigt. Das Ektoplasma nımmt bei 
sehr langer Kultivierung auf dem Schrägagar bis zum fast völligen 
Verschwinden ab und umgekehrt durch Tierpassagen (bevor der 
Rückschlag eintritt) zum ursprünglichen Wert wieder zu 


Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 325 


Die arterhaltende Bedeutung („Zweckmäßigkeit“) der 
Variationen. 

Sowohl die progressiven als die retrogressiven Variationen er- 
weisen sich als nützlich für die Erhaltung der Art. 

Die progressiven Variationen führten dazu, dass die schleim- 
hüllenlosen Varianten beim Aufenthalt im Tierkörper ihre Schleim- 
hüllen wieder bildeten. Durch die Schleimhüllen sind die Bazillen 
gegen die bakteriziden Kräfte des Tierkörpers geschützt; denn die 
Varianten, welche keine Schleimhüllen besitzen, gehen im Tierkörper 
zugrunde, wenn nicht, wie bei den Reversionsversuchen, enorme 
Mengen zur Infektion benützt werden. Wir müssen auch annehmen, 
dass die Eigenschaft, beim Aufenthalt im Tierkörper sehr rasch die 
Schleimhülle zu bilden, phylogenetisch durch Anpassung an die 
bakteriziden Substanzen des Tierkörpers entstanden ist (vermutlich 
zunächst durch Anpassung an den toten Tierkörper, der geringere 
bakterizide Eigenschaften hat). Die Bildung der Schleimhüllen beim 
Aufenthalt im Tierkörper erscheint demnach als „zweckmäßig“ und 
manche Autoren haben sich zu der Annahme verleiten lassen, dass 
die Schleimhüllen aus Gründen der Zweckmäßigkeit von den Ba- 
zillen gebildet würden, um sich gegen die bakteriziden Substanzen 
zu schützen. 

Auch die retrogressiven Variationen erscheinen „zweckmäßig“. 
Denn sie treten durch die Bedingungen der künstlichen Kultivierung 
ein und zwar durch die Anhäufung der Stoffwechselprodukte. Sie 
führen zu einer Reduktion des Stoffwechsels und bewirken, dass 
die retrogressiven Varianten unter den gleichen Bedingungen der 
künstlichen Kultivierung länger lebensfähig sind als der Typus. 

Trotzdem darf als Ursache der Variationen nicht die Zweck- 
mäßigkeit angenommen werden. Zweckmäßigkeit als Ursache, als 
„energetisches Prinzip“ eines Vorgangs ist nur denkbar, wenn der 
Vorgang in seinem Ablauf beeinflusst wird durch eine von dem 
materiellen Substrat des Vorgangs unabhängige, also exogene Kraft. 
Für eine derartige „zweckmäßige“ Beeinflussung ist es charakte- 
ristisch, dass der Vorgang auf Grund einer Erfahrung zu einem 
gewollten Ende geführt wird. Dies setzt das Wirken eines erinne- 
rungsfähigen und zielbewussten Wesens voraus, welches außerhalb 
der Materie des Vorgangs steht. 

Die Ursache der Variationen dagegen ist eine endogene, wie 
schon bei der Frage nach der Erwerbung erblicher Eigenschaften 
erwähnt: nämlich das Idioplasma mit der ihm innewohnenden Fähig- 
keit, auf äußere und innere Reize zu reagieren und diese Reaktionen 
unter Umständen erblich zu fixieren. Will man aber dennoch die 
Zweckmäßigkeit mit der Erklärung des Variationsvorgangs ver- 
binden, so kann man mit einer gewissen Willkür Variationen dann 
zweckmäßig nennen, wenn sie arterhaltende Wirkung haben. Dann 


396 Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 


ist jedoch „Zweckmäßigkeit* kein absolut vorhandener Faktor, 
sondern ein vom Beobachter dem Vorgang untergeschobener sub- 
jektiver Begriff. Diese Zweckmäßigkeit zeigt sich darin, dass der 
Folgezustand einer Variation gegenüber dem veranlassenden Reiz 
für das Leben der Art irgendwie förderlich ist. Hieraus ergibt 
sich, dass die „Zweckmäßigkeit“ einer Variation ein Begriff ıst, der 
erst von dem Augenblick an existieren und mit dem Variations- 
vorgang verbunden werden kann, ın dem der Folgezustand der 
Variation fertig ausgebildet und zu den umgebenden Reizen in Be- 
ziehung getreten ist. Wie soll also die Zweckmäßigkeit imstande 
sein, die vorausgehenden Phasen des Vorgangs zu beeinflussen und 
als Ursache auf den Verlauf des Vorgangs einzuwirken, bevor sie 
selber vorhanden ıst!? Bei Variationen ist also die Zweckmäßig- 
keit erst der Folgezustand, eine Begleiterscheinung des Vorgangs, 
aber keinesfalls dessen Ursache. 

Weit mehr als die bloße Logik zwingt uns die Berücksichtigung 
der Tatsachen zu der Erkenntnis, dass die Zweckm